Wendys dreiundzwanzigstes virtuelles
Abenteuer
Wendy befand sich wieder an der Schule. Aber bevor ihn jemand zu
was einspannen konnte, traf er auf Günther Lutz und seine Tochter. Lutz hielt
an und sprach ihn an.
„Wendy, hallo, schön dich an der Schule zu sehen. Was treibst du
hier?“
Wendy berichtete, dass Bea und Hiltja versuchten, ihn für den
Werkunterricht zu gewinnen.
Da trat Lutz näher an ihn heran und sagte. „Das mit dem
Unterricht haben sie doch bisher auch ohne dich hingekriegt. Wir haben hier
etwas viel Wichtigeres, das uns niemand abnehmen will.“
Die Tochter von Lutz trug eine große Schachtel vor sich, über die
ein Tuch gelegt war. Sie hob das Knie, um die eine Hand frei zu kriegen und
legte das Tuch zur Seite. Die Schachtel war voller Negative.
„Zu welchem Thema?“, fragte Wendy.
„Mach mal, du wirst schon sehen“, sagte Lutz aufmunternd.
Wendy schüttelte den Kopf. „Neulich hat man mich zu einer
Abendveranstaltung eingeladen. Dann hat sich herausgestellt, dass ich eine
Werklehrerstelle annehmen soll. Ohne dass ich das Thema weiß, mach ich nichts.
Wenn ihr es nicht verraten wollt, dann sucht euch jemand anderen.“
Lutz suchte noch nach einem Ausweg. Aber dann trat er ihm nahe
und flüsterte. „Das Thema ist ‚Gnade‘“.
Wendy sah ihn verwundert an. Dann griff er wahllos ein Negativ
heraus und hielt es gegen das Licht. Er sah die Umrisse eines nackten Mannes
mit erigiertem Penis. Was für eine Verbindung, dachte er und wurde neugierig.
„Von wem stammen die Bilder?“, fragte er.
Ein Teil ist von mir, und ein Teil von einem Holländer,
antwortete die Tochter.
Und warum entwickelst du sie nicht selber?, fragte Wendy.
„Sie zu entwickeln würde mich 200 Tage kosten, aber so viel Zeit
habe ich leider nicht“, antwortete sie ehrlich.
Es ist eigentlich mehr ein zeitliches Problem, fiel Lutz ein.
Meine Tochter wohnt nämlich in England.
Ah, dann ist sie hier nur zu Besuch, folgerte Wendy.
Er griff ein anderes Bild heraus und hatte einen seltsamen Vogel
in der Hand, aufrecht gehend wie ein Mensch. Ein weiteres zeigte schwarze
Schlangen um ein Loch in einem Sofa. Daneben Vögel, die versuchten an das Loch
zu kommen. Was ist das?, fragte er Lutz und reichte ihm das Negativ.
Das sind Schlangen, die die Vögel beim Brüten hindern.
Wendy steckte das Negativ zurück.
Und die haben alle damit zu tun, was du gesagt hast? Wie war das
nochmal? Gnade?
Die Tochter nickte.
Wendy überlegte, was dieses Wort genau bedeutete. Aber es fiel
ihm auf die Schnelle nicht ein. Wie Makel und Skrupel war das ein Wort, das er
schon oft gehört hatte, aber das sich nicht in seinem aktiven Wortschatz
befand. Seinem Gefühl nach passten diese Worte nicht in diese Zeit.
Soll dieser Begriff im Titel der Ausstellung erscheinen?, fragte
er skeptisch.
Nein, die soll einfach ‚… s Bilder‘ heißen.
Lutz hatte den Namen seiner Tochter genannt, der Wendy nicht mehr
einfallen wollte.
Die Tochter führte Wendy ins Fotolabor der Schule. Sie zeigte
ihm, wo die Flüssigkeiten standen. Sie erwies sich als umgänglicher Mensch. Ein
rundes, glattes Gesicht, dunkelbraunes Haar und ein geheimnisvolles Lachen.
Wieder draußen bei Lutz, rieten ihm die beiden, in die Stadt zu
gehen, um den Niederländer zu treffen.
Wo genau, wollte Wendy wissen.
Gegenüber der Kaufhalle. Er hat einen Stand mit Bildern.
Trotz des Gewusels fand er den Niederländer leicht. Er hatte
seinen Stand an der meist frequentierten Stelle aufgestellt. Der Fotograf glich
seinem Freund Ruben. Groß und bärig, wenn man sich einen Bär blond vorstellen
konnte. Auch nicht rundlich, sondern kräftig und schlank. Der Niederländer war
von Interessierten umringt. Halbakte und Akte von Männern und Frauen. Alle
waren eindeutig homoerotischen Inhalts. Aber keine ganz einschlägigen, wie das
mit dem aufgerichteten Phallus auf dem Negativ von Lutz‘ Tochter. Wie sagt mir
das Auge, dass dieser Mann Männer liebt?, fragte sich Wendy. Er suchte nach
weiblichen Anteilen im Gesicht. Selbst wenn er etwas entdeckte, war es nicht
leicht, zu benennen was es war. Er war überzeugt, dass der Niederländer die
Bilder genau nach diesem Kriterium zusammengestellt hatte.
Als der Niederländer frei war, ging er zu ihm hin und stellte
sich vor.
Ich komme von Lutz‘ Tochter. Sie hat mir eine Kiste mit Negativen
überreicht und hat gesagt, dass ein Teil von Ihnen stammte. Mich würde interessieren,
wo Sie diese Bilder gemacht haben.
Der Niederländer antwortete flüchtig, wurde aber von einem Kunden
abgelenkt, der den Preis eines der Bilder wissen wollte. Fünfzig Euro war die
Antwort. Nicht gerade wenig, dachte Wendy und wunderte sich, dass der Kunde
sich nicht über den Preis beschwerte. Während dieser das Geld hervorholte,
stellte Wendy seine Frage nochmal. Er glaubte zu hören, ‚Northampton‘, hielt es
aber für einen Irrtum, weil er den Namen einer holländischen Stadt erwartete,
Northampton aber aus England kannte. Deshalb wiederholte er die Frage, sobald
der Niederländer das Geld einkassiert hatte.
Entschuldigen Sie, aber wo haben Sie die Bilder aufgenommen?
Die Antwort schien wieder dieselbe zu sein. Northampton.
Einige der Umstehenden hatten seinem Fragen zugehört. Wendy
wollte die Begegnung nicht mit einer unverstandenen Antwort enden lassen.
Deshalb appellierte er an seine alpenländer Herkunft. Ihr Niederländer und wir
Alpenländer verstehen uns gut. Wie sind nicht so … wie die hier Heimischen.
Dabei machte er mit dem Arm eine zackige Bewegung, als wollte er ein Gewehr
schultern. Deshalb verstehen wir uns so gut.
Die Umstehenden – die wohl Heimische waren – schauten ihn
befremdet an. Wendy bedachte, dass er nach mehrmaligem Anlauf die Frage der
Herkunft der Bilder nicht hatte klären können, sprach eigentlich nicht für eine
gute Verständigung. MLF
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