Freitag, 26. Oktober 2012

118 Annas Bilder



Wendys dreiundzwanzigstes virtuelles Abenteuer

Wendy befand sich wieder an der Schule. Aber bevor ihn jemand zu was einspannen konnte, traf er auf Günther Lutz und seine Tochter. Lutz hielt an und sprach ihn an.
„Wendy, hallo, schön dich an der Schule zu sehen. Was treibst du hier?“
Wendy berichtete, dass Bea und Hiltja versuchten, ihn für den Werkunterricht zu gewinnen.
Da trat Lutz näher an ihn heran und sagte. „Das mit dem Unterricht haben sie doch bisher auch ohne dich hingekriegt. Wir haben hier etwas viel Wichtigeres, das uns niemand abnehmen will.“
Die Tochter von Lutz trug eine große Schachtel vor sich, über die ein Tuch gelegt war. Sie hob das Knie, um die eine Hand frei zu kriegen und legte das Tuch zur Seite. Die Schachtel war voller Negative.
„Zu welchem Thema?“, fragte Wendy.
„Mach mal, du wirst schon sehen“, sagte Lutz aufmunternd.
Wendy schüttelte den Kopf. „Neulich hat man mich zu einer Abendveranstaltung eingeladen. Dann hat sich herausgestellt, dass ich eine Werklehrerstelle annehmen soll. Ohne dass ich das Thema weiß, mach ich nichts. Wenn ihr es nicht verraten wollt, dann sucht euch jemand anderen.“
Lutz suchte noch nach einem Ausweg. Aber dann trat er ihm nahe und flüsterte. „Das Thema ist ‚Gnade‘“.
Wendy sah ihn verwundert an. Dann griff er wahllos ein Negativ heraus und hielt es gegen das Licht. Er sah die Umrisse eines nackten Mannes mit erigiertem Penis. Was für eine Verbindung, dachte er und wurde neugierig.
„Von wem stammen die Bilder?“, fragte er.
Ein Teil ist von mir, und ein Teil von einem Holländer, antwortete die Tochter.
Und warum entwickelst du sie nicht selber?, fragte Wendy.
„Sie zu entwickeln würde mich 200 Tage kosten, aber so viel Zeit habe ich leider nicht“, antwortete sie ehrlich.
Es ist eigentlich mehr ein zeitliches Problem, fiel Lutz ein. Meine Tochter wohnt nämlich in England.
Ah, dann ist sie hier nur zu Besuch, folgerte Wendy.
Er griff ein anderes Bild heraus und hatte einen seltsamen Vogel in der Hand, aufrecht gehend wie ein Mensch. Ein weiteres zeigte schwarze Schlangen um ein Loch in einem Sofa. Daneben Vögel, die versuchten an das Loch zu kommen. Was ist das?, fragte er Lutz und reichte ihm das Negativ.
Das sind Schlangen, die die Vögel beim Brüten hindern.
Wendy steckte das Negativ zurück.
Und die haben alle damit zu tun, was du gesagt hast? Wie war das nochmal? Gnade?
Die Tochter nickte.
Wendy überlegte, was dieses Wort genau bedeutete. Aber es fiel ihm auf die Schnelle nicht ein. Wie Makel und Skrupel war das ein Wort, das er schon oft gehört hatte, aber das sich nicht in seinem aktiven Wortschatz befand. Seinem Gefühl nach passten diese Worte nicht in diese Zeit.
Soll dieser Begriff im Titel der Ausstellung erscheinen?, fragte er skeptisch.
Nein, die soll einfach ‚… s Bilder‘ heißen.
Lutz hatte den Namen seiner Tochter genannt, der Wendy nicht mehr einfallen wollte.
Die Tochter führte Wendy ins Fotolabor der Schule. Sie zeigte ihm, wo die Flüssigkeiten standen. Sie erwies sich als umgänglicher Mensch. Ein rundes, glattes Gesicht, dunkelbraunes Haar und ein geheimnisvolles Lachen.
Wieder draußen bei Lutz, rieten ihm die beiden, in die Stadt zu gehen, um den Niederländer zu treffen.
Wo genau, wollte Wendy wissen.
Gegenüber der Kaufhalle. Er hat einen Stand mit Bildern.

Trotz des Gewusels fand er den Niederländer leicht. Er hatte seinen Stand an der meist frequentierten Stelle aufgestellt. Der Fotograf glich seinem Freund Ruben. Groß und bärig, wenn man sich einen Bär blond vorstellen konnte. Auch nicht rundlich, sondern kräftig und schlank. Der Niederländer war von Interessierten umringt. Halbakte und Akte von Männern und Frauen. Alle waren eindeutig homoerotischen Inhalts. Aber keine ganz einschlägigen, wie das mit dem aufgerichteten Phallus auf dem Negativ von Lutz‘ Tochter. Wie sagt mir das Auge, dass dieser Mann Männer liebt?, fragte sich Wendy. Er suchte nach weiblichen Anteilen im Gesicht. Selbst wenn er etwas entdeckte, war es nicht leicht, zu benennen was es war. Er war überzeugt, dass der Niederländer die Bilder genau nach diesem Kriterium zusammengestellt hatte.
Als der Niederländer frei war, ging er zu ihm hin und stellte sich vor.
Ich komme von Lutz‘ Tochter. Sie hat mir eine Kiste mit Negativen überreicht und hat gesagt, dass ein Teil von Ihnen stammte. Mich würde interessieren, wo Sie diese Bilder gemacht haben.
Der Niederländer antwortete flüchtig, wurde aber von einem Kunden abgelenkt, der den Preis eines der Bilder wissen wollte. Fünfzig Euro war die Antwort. Nicht gerade wenig, dachte Wendy und wunderte sich, dass der Kunde sich nicht über den Preis beschwerte. Während dieser das Geld hervorholte, stellte Wendy seine Frage nochmal. Er glaubte zu hören, ‚Northampton‘, hielt es aber für einen Irrtum, weil er den Namen einer holländischen Stadt erwartete, Northampton aber aus England kannte. Deshalb wiederholte er die Frage, sobald der Niederländer das Geld einkassiert hatte.
Entschuldigen Sie, aber wo haben Sie die Bilder aufgenommen?
Die Antwort schien wieder dieselbe zu sein. Northampton.
Einige der Umstehenden hatten seinem Fragen zugehört. Wendy wollte die Begegnung nicht mit einer unverstandenen Antwort enden lassen. Deshalb appellierte er an seine alpenländer Herkunft. Ihr Niederländer und wir Alpenländer verstehen uns gut. Wie sind nicht so … wie die hier Heimischen. Dabei machte er mit dem Arm eine zackige Bewegung, als wollte er ein Gewehr schultern. Deshalb verstehen wir uns so gut.
Die Umstehenden – die wohl Heimische waren – schauten ihn befremdet an. Wendy bedachte, dass er nach mehrmaligem Anlauf die Frage der Herkunft der Bilder nicht hatte klären können, sprach eigentlich nicht für eine gute Verständigung. MLF

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