Donnerstag, 24. Januar 2013

143 Gesucht: Advokat der Klippenspringer



Wie Tonke unter dem Bild des Niklaus von Flüe auf Bilder von modernen Leidheiligen stieß.



Er betrat die Kapelle in einer Gruppe von älteren Männern. Die Kühle der Luft, ihr sonderbarer Geruch nach Stein, altem Holz und Weihrauch riefen in ihm augenblicklich Erlebnisse der Kindheit wach. Die Männer nahmen alle in einer Bank Platz. Mit dabei war sein Vater begleitet von einem seiner Freunde. Tonke sah sich weiter um. Hinter ihm die Empore, die Spitzen einer einfachen Orgel waren zu sehen und seitlich Niklaus von Flüe überlebensgroß in einem Fresko. Seitlich dem Chor je ein Altar links und rechts. Vorne der große Altar und das kleine Chorgestühl, in dem er als Ministrant auf den Einsatz gewartet hatte.
Tonke fragte sich, wo er sich hinsetzen solle. Irgendwie waren die Bänke nicht wie sonst. Das lag an einem langen Tisch, den man dazwischen gestellt hatte. Dazu war eine von den Bänken entfernt worden und die Kniebank davor und die Sitzbank dahinter waren auch nicht zu benutzen. Ihm fiel auf, dass der Tisch direkt unter dem Wandgemälde des Niklaus 
von Flüe platziert war. 

Tonke sah in der Reihe vor sich die Vorgängergeneration, die er schon als Jugendlicher und später in politischen Belangen oft als eine geschlossene Front von Gegnern wahrgenommen hatte. Eigentlich wollte er sich nicht zu ihnen setzen. Aber dann sah er, dass neben seinem Vater, an der Wand, noch ein Platz frei war. Wir sehen uns ja so selten, dachte Tonke und begab sich an die freie Stelle. Aber dort, direkt an der Wand, wartete ein anderes Hindernis. Ein Fahrrad ohne Räder hatte jemand da eingeklemmt. Wohl um es vor Diebstahl zu schützen. Alle Knienden standen auf und halfen die Bank zu bewegen. Das Fahrrad wurde befreit. Aber es fand sich niemand, dem es gehörte. Typisch, dachte Tonke, das Fahrrad als individuelles Bewegungsmittel hat bei meiner Vatergeneration wenig Ansehen genossen. Als sich niemand fand, der es wollte, wurde es wieder an die Wand gestellt und die Bank dagegen geschoben. Genau dahin, wo es gesteckt hatte. Tonke musste nach einem andern Platz suchen und es war ihm nicht unrecht, denn er fühlte sich nicht wohl in ihrer Reihe.


Auf dem langen Tisch, der die gewohnte Ordnung durcheinander gebracht hatte, stieß Tonke auf einen drehbaren Kartenständer mit Heiligenbildern. Noch war Zeit, bis die Andacht beginnen würde. Er sah sich die Bildchen an und drehte am Rad. Gegen einen Beitrag in die hölzerne Kasse am Türausgang konnte man sie erwerben. In der Umgangssprache wurden diese Bilder ‚Leidheilige‘ genannt. Nach der christlichen Überlieferung spendeten sie dem Betrachter, der sich an ihr Martyrium erinnerte, Heilung und Trost. Tonkes Blick wurde von speziellen Bildern angezogen, Fotos von Klippenspringern, Farbige, die von Felsen sprangen. Nanu, was machten diese Bilder hier? Er wusste, warum Afrikaner hinuntersprangen. Sie hegten die trügerische Hoffnung, dass eine günstige Welle sie forttrüge. Aber viele von ihnen zerschellten oder ertranken in den Wellen. Neben diesen Bildern stand in fetten Lettern die Warnung gedruckt:

„Dies sind keine Heilige!“

Tonke wunderte sich. Aber dann wurde ihm klar, dass es sich um Afrikaner handelte, die versuchten, auf dem abendländischen Kontinent Fuß zu fassen. Wer hinter der Kampagne stand, konnte er sich denken. Das waren gewiss die Abendländische Union und die mediterranen Staaten, die von der Fluchtwelle besonders betroffen waren. Sie hatten diese Aktion wohl den Kirchen aufgezwungen, um deren Solidarisierung mit den Leidenden und Ausgegrenzten zuvorzukommen.

Als Tonke sich nach vorne zum Chor wandte, bemerkte er, dass er von diesem Standpunkt aus den Altar nicht sehen konnte. Eine Trennwand stand dazwischen und versperrte die Sicht. Auf dieser Absperrung stand in großen Lettern:

„Advokat gesucht“

Er drehte sich wieder zum Fresko des Niklaus von Flüe oder Bruder Klaus, wie die Einheimischen ihn nennen. An der Wand unterhalb des überlebensgroßen Bildes hatten diejenigen, die die Bank durch den Tisch ersetzt hatten, einen blauen Bademantel hängen lassen. Daraus schloss er, dass sie die Umstellung der Kirchenmöbel mit einem Reinigungsritual verbunden hatten.

Als Tonke später die Kapelle verließ, erwartete ihn die Mentorin im Zwischenraum. Sie trug ihm auf, die Bilder der Klippenspringer in seinen Blog aufzunehmen.

Er wehrte sich und sagte. „Die Bilder von den Afrikanern, die an den Ufern des Abendlandes zerschellen, findet man doch wöchentlich in den Zeitungen. Da berichte ich lieber von diesem Erlebnis hier.“

Sie war einverstanden. MLF

Samstag, 5. Januar 2013

139 Fester und leerer Raum


Sein Zimmer war geteilt in einen festen und in einen leeren Bereich.
Tonke bewegte sich durch den Hohlgang, den er selber geschaffen hatte. Von diesem zweigten kleinere Gänge ab, die in einem runden Hohlraum endeten. Wenn er Glück hatte, traf er darin eine ausgewachsene Frau. Er war jetzt auf dem Rückweg durch den von ihm angelegten geräumigen Gang. Bevor es zum Boden der leeren Zimmerhälfte hinunterging, führte ein Weg nach links ab. Er arbeitete sich durch den engen, geschlängelten Gang hindurch bis zum Schluss. Da stand wirklich im aufrechten Ellipsoid des Endpunkts eine beeindruckende Frau. Sie setzte sich nieder, er kauerte im Hohlgang und lauschte, was sie ihm zu berichten hatte. [Geschichte 140 Überblick] Er bedankte sich und kroch zurück zum Hauptgang und durch diesen stieg er die Stufen hinab, die er, um nicht auszurutschen, selber geformt hatte und trat aus dem Loch.
Als er sich nun in der anderen Hälfte des Zimmers wiederfand, kam ihm dieses völlig leer vor. Dabei war das Wohnzimmer, das zugleich auch Schlaf- und Esszimmer war, reich mit Möbeln ausgerüstet. Teppiche bedeckten den Boden, Bilder schmückten die Wände und nicht wenige Bücher standen in zwei geräumigen Regalen. Aber wenn er aus der festen Hälfte herauskam, deren einziger freier Raum die geschaffenen Hohlgänge waren, so überfiel ihn jedesmal das Gefühl einer großen Leere.
Von Freunden und Bekannten kam natürlich immer wieder die Frage. „Was soll das? Warum verschenkst du dein halbes Zimmer? Sie traten an den festen Bereich heran und warfen einen Blick in das dunkle Loch und fragten schaudernd. „Wird dir nicht Angst da drin?“
Er versuchte dann zu erklären. „Jeder Mensch hat so einen Raum neben sich. Das ist das Unsichtbare, das uns begleitet. Nur ist er bei mir sichtbar geworden.“
Doch damit erntete er nur Kopfschütteln. „Nein, gewiss nicht, sowas gibt es nicht bei mir! Niemals würde ich mich durch so ein Ding zwängen. Da würde ich Zustände kriegen!“ Die Reaktionen waren zum Teil so heftig, dass es ihn selber mitriss und seine Ängste von früher wieder wach wurden.
„Hast du denn nicht Angst, dass du da mal nicht mehr hinausfindest?“
Tonke schüttelte den Kopf. Für ihn war dieser feste Raum inzwischen so selbstverständlich geworden, dass er die Argumente dagegen nicht verstand. Sie kamen ihm vor, wie Menschen, die keinen Raum zum Denken haben. Im leeren Raum konnte er nicht wirklich denken. Was er hier dachte, war nur ein Spiel mit Konventionen, Klischees und Trends, die vorgegeben wurden und die er nach belieben sich zu Eigen machte. Aber eigene, schöpferische Gedanken konnten in einem leeren Raum nicht gedeihen. Sie vertrugen die Luftbewegungen nicht, und das Licht wahrscheinlich auch nicht. Er hätte nicht gewusst, wo er seine Gedanken hätte ausbrüten können, wenn er diese dichte Hälfte seines Zimmers nicht gehabt hätte. Für ihn war dieser feste Raum vor allem der Ort, wo er nachdachte.
Er ging so vor, dass er erst einen Hauptgang schuf. Darin legte er die Gedanken, die ihn gerade beschäftigten ab. Er wusste, dass er dabei nicht anders verfuhr als ein Borkenkäfer. Das Weibchen, das einen Gang durch die Borke fraß, wendete und in gleichmäßigen Abständen seine Eier legte. Aus diesen schlüpften dann die Larven. Die fraßen sich im rechten Winkel vom Hauptgang weg, bis sie groß genug waren, sich zu verpuppen. Am Ende schufen sie einen größeren Hohlraum, die sogenannte Puppenwiege. Darin harrten sie der Verwandlung zum Jungkäfer.
Das Gleiche geschah mit Tonkes Gedanken. Sie entwickelten ebenfalls ein Eigenleben und fraßen sich durch die feste, nahrhafte Materie vom Hauptgang weg. Wenn sie ihre Reife erlangten, höhlten sie noch eine wohnliche Rundung aus und warteten darin auf ihre Vollendung. Wenn Tonke es gut traf, konnte er, dem neuen Gang folgend, in der Endkammer den ausgereiften, neuen Gedanken antreffen. Und zwar in Gestalt einer schönen Frau. Sie sprach zu ihm und so erfuhr er einen völlig neuen Aspekt seines Gedankens, auf den er selber nie gekommen wäre.

Er hatte mehrmals versucht, vor einem Publikum über diesen Vorgang zu sprechen, aber er war dabei auf kein Verständnis gestoßen. Wenn er zu dem Punkt kam, dass er am Ende des neuen Gangs im aufrechten Ellipsoid eine Frau antraf, kam es jedesmal zum Eklat.
„Irregeleitetes Wunschdenken!“, war noch milde ausgedrückt. „Pervers, dich sollte man selber einsperren!“, war schon deutlicher. Zuhörer verließen aus Protest den Saal. Den andern versuchte er nahezulegen: „In diesem geschlossenen Raum erscheint ein Gedanke als Frau.“
Aber auch die Reaktionen der Zurückgebliebenen ließen nicht darauf schließen, dass sie ihn verstanden hatten. Er sah es an den Blicken, die alle im Spektrum von Misstrauen bis Mitleid lagen.
Neulich steckte ihm beim Abschied ein Mann die Karte einer Psychotherapeutin zu. „Die ist gut, die hat mir auch geholfen“, sagte er mit besorgter Stimme. Nicht genug, am nächsten Tag rief ihn ein Bekannter an, der an der Lesung teilgenommen hatte. „Unter uns wird gerade eine Wohnung frei“, sagte er. „Die ist toll und supergünstig.“ Und wieder, im gleichen, fürsorglichen Ton: „Ein Wohnungswechsel würde dir gut tun.“
Tja, die Mitmenschen begriffen nicht, dass er diesen festen Raum für eine große Errungenschaft hielt. Zwar schränkte er ihn etwas ein. Aber Tonke war sehr glücklich, dass er nun nicht mehr nur die Leere kannte. MLF