Wie Tonke unter dem Bild des Niklaus von Flüe auf Bilder von
modernen Leidheiligen stieß.
Er betrat die Kapelle in einer Gruppe von älteren Männern. Die
Kühle der Luft, ihr sonderbarer Geruch nach Stein, altem Holz und Weihrauch
riefen in ihm augenblicklich Erlebnisse der Kindheit wach. Die Männer nahmen
alle in einer Bank Platz. Mit dabei war sein Vater begleitet von einem seiner
Freunde. Tonke sah sich weiter um. Hinter ihm die Empore, die Spitzen einer
einfachen Orgel waren zu sehen und seitlich Niklaus von Flüe überlebensgroß in
einem Fresko. Seitlich dem Chor je ein Altar links und rechts. Vorne der große
Altar und das kleine Chorgestühl, in dem er als Ministrant auf den Einsatz
gewartet hatte.
Tonke fragte sich, wo er sich hinsetzen solle. Irgendwie waren die Bänke
nicht wie sonst. Das lag an einem langen Tisch, den man dazwischen gestellt
hatte. Dazu war eine von den Bänken entfernt worden und die Kniebank davor und
die Sitzbank dahinter waren auch nicht zu benutzen. Ihm fiel auf, dass der
Tisch direkt unter dem Wandgemälde des Niklaus
Tonke sah in der Reihe vor sich die Vorgängergeneration, die er
schon als Jugendlicher und später in politischen Belangen oft als eine
geschlossene Front von Gegnern wahrgenommen hatte. Eigentlich wollte er sich
nicht zu ihnen setzen. Aber dann sah er, dass neben seinem Vater, an der Wand,
noch ein Platz frei war. Wir sehen uns ja so selten, dachte Tonke und begab
sich an die freie Stelle. Aber dort, direkt an der Wand, wartete ein anderes
Hindernis. Ein Fahrrad ohne Räder hatte jemand da eingeklemmt. Wohl um es vor
Diebstahl zu schützen. Alle Knienden standen auf und halfen die Bank zu bewegen.
Das Fahrrad wurde befreit. Aber es fand sich niemand, dem es gehörte. Typisch,
dachte Tonke, das Fahrrad als individuelles Bewegungsmittel hat bei meiner Vatergeneration
wenig Ansehen genossen. Als sich niemand fand, der es wollte, wurde es wieder
an die Wand gestellt und die Bank dagegen geschoben. Genau dahin, wo es
gesteckt hatte. Tonke musste nach einem andern Platz suchen und es war ihm
nicht unrecht, denn er fühlte sich nicht wohl in ihrer Reihe.
Auf dem langen Tisch, der die gewohnte Ordnung durcheinander
gebracht hatte, stieß Tonke auf einen drehbaren Kartenständer mit
Heiligenbildern. Noch war Zeit, bis die Andacht beginnen würde. Er sah sich die
Bildchen an und drehte am Rad. Gegen einen Beitrag in die hölzerne Kasse am
Türausgang konnte man sie erwerben. In der Umgangssprache wurden diese Bilder
‚Leidheilige‘ genannt. Nach der christlichen Überlieferung spendeten sie dem
Betrachter, der sich an ihr Martyrium erinnerte, Heilung und Trost. Tonkes
Blick wurde von speziellen Bildern angezogen, Fotos von Klippenspringern, Farbige,
die von Felsen sprangen. Nanu, was machten diese Bilder hier? Er wusste, warum
Afrikaner hinuntersprangen. Sie hegten die trügerische Hoffnung, dass eine
günstige Welle sie forttrüge. Aber viele von ihnen zerschellten oder ertranken
in den Wellen. Neben diesen Bildern stand in fetten Lettern die Warnung
gedruckt:
„Dies sind keine Heilige!“
Tonke wunderte sich. Aber dann wurde ihm klar, dass es sich um
Afrikaner handelte, die versuchten, auf dem abendländischen Kontinent Fuß zu
fassen. Wer hinter der Kampagne stand, konnte er sich denken. Das waren gewiss
die Abendländische Union und die mediterranen Staaten, die von der Fluchtwelle
besonders betroffen waren. Sie hatten diese Aktion wohl den Kirchen aufgezwungen,
um deren Solidarisierung mit den Leidenden und Ausgegrenzten zuvorzukommen.
Als Tonke sich nach vorne zum Chor wandte, bemerkte er, dass er
von diesem Standpunkt aus den Altar nicht sehen konnte. Eine Trennwand stand
dazwischen und versperrte die Sicht. Auf dieser Absperrung stand in großen
Lettern:
„Advokat gesucht“
Er drehte sich wieder zum Fresko des Niklaus von Flüe oder Bruder
Klaus, wie die Einheimischen ihn nennen. An der Wand unterhalb des
überlebensgroßen Bildes hatten diejenigen, die die Bank durch den Tisch ersetzt
hatten, einen blauen Bademantel hängen lassen. Daraus schloss er, dass sie die
Umstellung der Kirchenmöbel mit einem Reinigungsritual verbunden hatten.
Als Tonke später die Kapelle verließ, erwartete ihn die Mentorin im
Zwischenraum. Sie trug ihm auf, die Bilder der Klippenspringer in seinen Blog
aufzunehmen.
Er wehrte sich und sagte. „Die Bilder von den Afrikanern, die an
den Ufern des Abendlandes zerschellen, findet man doch wöchentlich in den
Zeitungen. Da berichte ich lieber von diesem Erlebnis hier.“
Sie war einverstanden. MLF