Donnerstag, 28. März 2013

150 III Eine Käferlarve berichtet



„Ich weiß nicht genau, wie lange es her ist“, begann Vasil, der Mann mit den langen, lockigen Haaren und dem schönen Gesicht. „Hier oben verliert man leicht das Gefühl für die Zeit. Ein halbes Jahr, ein ganzes oder auch zwei? Jedenfalls war die Stimmung ähnlich wie heute. Da war ein Gast, etwas jünger als du, er war am Aufbrechen und äußerte den Wunsch, in der Stadt zu frühstücken, bevor er abreise. Ich hatte schon die Tage davor den Vorschlag erwartet und war etwas enttäuscht gewesen. Aber als die Einladung doch noch kam, sagte ich spontan zu. Ich dachte an eine schöne Cafeteria in der Fußgängerzone und freute mich auf die kunterbunten Leute und das ungezwungene Flair das dort herrscht.
Pedro, hieß der Mann, er war gedrungen, seine Stirn war gelichtet. Was mir an ihm gefiel, war sein ungezwungenes Lachen.
Er war mit dem Auto da und ich stieg mit ein.“
Vasil lehnte sich zurück und rieb sich mit dem gestreckten Mittelfinger zwischen Wange und Nase.
„Komisch, vom Moment an, da ich in seinem Wagen saß, hatte ich ein ungutes Gefühl. Es lag wohl an seinem Fahrstil, der eher ruppig war.
Unten angekommen hielt er vor einer Cafeteria im Randbereich der Fußgängerzone. Leider war das Café geschlossen. Ich schlug vor, den Wagen stehen zu lassen und durch den Stadtkern zu bummeln. Aber ihm fiel etwas anderes ein.
Er sprach von einem Pavillon in einem Park, in dem man sehr gut frühstücken könne. Üppiger als in den Schickimicki-Cafés der Innenstadt – wie er sich ausdrückte.
Ein zierlicher Pavillon in einer schönen Parkanlage, diese Vorstellung gefiel mir gut und ich gab mein Einverständnis.“
Vasil hielt inne und strich sich wieder durch die Vertiefung zwischen Nase und Wange. Da Tonke ihn erwartungsvoll ansah, fuhr er fort.
Der Park stellte sich als eine ziemliche Wildnis heraus. Die letzten fünfhundert Meter hatten sie zu Fuß zu gehen. Durch hüfthohes Gras schlang sich der Weg, die Büsche ringsum waren mit Kletterpflanzen überwuchert. Für Ornithologen bestimmt ein reizvoller Ort. Es roch intensiv nach Kerbel, der gerade blühte. Nach der Hälfte des Weges wurde eine Hütte sichtbar, ein einfacher Kiosk, um es nicht eine Bretterbude zu nennen. Jedenfalls alles andere als ein flauschiger Pavillon in einem gepflegten Garten. Als Sitzgelegenheit dienten gefällte Baumstämme, auf denen, wie ihm schien, ein eher derbes Publikum aß und trank. Noch bereute Vasil nicht, dass er mitgegangen war. Auch in der Natur konnte es schön sein. Wenn das Essen schmeckte und die Bedienung freundlich war, verzichtete er gerne auf den Komfort und ein gepflegtes Ambiente.
Pedro, sein Begleiter, beschleunigte den Schritt, als es auf den Kiosk zuging. Kurz nachdem sie die Theke erreicht hatten, stießen drei Typen in Lederkleidern dazu. Wer zuerst angekommen war, schien für sie nicht wichtig zu sein. Als sie sich vor den stämmigen Pedro stellen wollten, wurde dieser ungemütlich und rangelte mit ihnen. Sie gaben nach und zwängten sich nun zwischen seinen Begleiter und ihn. Er hätte sich wohl wie Pedro verhalten müssen, aber das war nicht sein Ding. Ohne zu murren schloss er sich hinten an und wartete bis sie abgefertigt waren.
Tonke, der sein Frühstück fortsetzte, sah Vasil an. Er sah sein feingeschnittenes Gesicht, die langen, gewellten Haare und seine gezierten Bewegungen. Daneben stellte er sich die derben Kerle in ihren ledernen Klamotten vor. Das ergab ein sehr ungleiches Bild.
Vasil fuhr fort. Wartend fiel ihm in der Seitenwand der Theke ein runder Käse auf, ein leckerer Bergkäse oder Weichkäse, wie er vermutete. Von dem wollte er ein Stück probieren und wenn er schmeckte, eine Hälfte mit nach oben nehmen. Da stand auch ein Schildchen.
‚Ein Zwölftel für zwei Euro und neun Cent‘, las er. Das schien ihm erschwinglich.
Er winkte Pedro, um ihm zu signalisieren, dass er bald drankommen würde. Pedro sah ihn zwar, reagierte aber nicht.
Als Vasil endlich an der Reihe war, bestellte er. „Ein Frühstück mit Tee und ein Zwölftel des runden Käses.“
Die Bedienung, die zwei Köpfe kleiner war als er, sah nicht gleich, was er wollte und wurde schon dadurch unwillig. Da er beharrte, zog sie einen Stuhl herbei und holte den runden Käse auf die Theke hinab.
Was das für ein Käse sei, fragte Vasil neugierig.
„Käse mit Schweinefleisch“, sagte die Frau kurzangebunden. Was er davon wolle.
‚Mit Schweinefleisch‘, das befremdete ihn. Aber er fand keine Zeit zu überlegen und sagte. „Ein Stück für zwei Euro und neun Cent und eine Tasse Tee mit Frühstück.“ Dabei bemühte er sich seine Stimme etwas dunkler zu färben, was ihm aber nicht so richtig gelingen wollte.
Die Bedienung ging mit dem ‚Käse‘ nach hinten. Da sie nicht zurückkam, folgte er ihr um die Ecke herum, wo sich die Theke fortsetzte. Hier sah er direkt in den Arbeitsbereich des Kiosks. Es waren mindestens sechs Arbeiterinnen darin tätig. Es kam ihm vor, als blickte er in den Antriebsraum einer stampfenden Maschine. Die einen spülten geräuschvoll. Das Geschirr klapperte und Schaumwasser spritzte in alle Richtungen. Die anderen bereiteten das Mittagessen vor. Die Luft war getränkt vom Geruch heißen, nicht mehr frischen Öls. Laut zischten die Hackbällchen, die sie ins Fett legten. Unwillkürlich hielt Vasil die Hand vor seine feine Nase.
Schließlich kam die Bedienung mit einer Scheibe des ‚Käses‘, die sie aus der Mitte geschnitten hatte, stellte den Teller hin und ging ihrer Arbeit nach. Obendrauf lag noch ein Stück Rand als Zugabe. Jetzt erkannte er, dass es Fleischkäse war. Das hatte er von dem runden Stück im Regal nicht erwartet. Fleischkäse aß er ungern. Da die Stimmung so gespannt war, wagte er nicht, die Bestellung rückgängig zu machen. Er wartete geduldig, aber niemand schenkte ihm Aufmerksamkeit. Es war, als wollten sie ihn vor vollen Pfannen aushungern.
Schließlich räusperte er sich. Da erbarmte sich eine der Arbeiterinnen. Sie machte einen etwas feineren Eindruck als die anderen. Doch als er nach dem Frühstück und dem Tee fragte, warf sie einen Blick auf die Uhr an der Rückwand. Fünf nach Zehn war es.
„Tut mir leid, nach zehn Uhr dürfen wir kein Frühstück mehr ausgeben.“
Er war so platt, dass ihm die Worte fehlten. Man hatte so lange gewartet, bis man diese Regel gegen ihn anführen konnte. Deutlicher hätten sie ihre Missachtung nicht ausdrücken können.
„Aber Tee gibt es doch den ganzen Tag?“, wandte er ein.
„Nein, Tee auch nicht“, sagte sie und schlug die Augen nieder. Er sah sich hilfesuchend um, aber keine der Frauen würdigte ihn eines Blickes.
Vasil lehnte sich zurück. Er strich die Haare nach hinten. Tonke, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, sah ihn gespannt an.
Da wurde ihm klar, dass die Frauen die Rangelei beobachtet hatten und einen, den man an den Rand gedrängt hatte, nicht bedienen wollten.
Einen Trumpf hatte er noch. Wenn er keinen Tee bekam, würde er die Schnitte, auf die er sowieso keinen Appetit verspürte, stehen lassen.“
„Ohne Tee und Brot fange ich mit dem Fleischkäse nichts an“, sagte er und erwartete Protest. Aber die Frauen schwiegen.
Da war ihm klar, dass er an diesem Kiosk nicht erwünscht war.
Tonke unterbrach ihn mit der Frage. „Wie warst du gekleidet? So wie jetzt?“
„So ähnlich“, bestätigte Vasil.
„Tja, so sind die wohl, an so einem Ort“, bemerkte Tonke.
Vasil berichtete weiter, wie er zu Pedro ging und ihn fragte, wann er zurückfahren werde. Dieser sah ihn kaum an. Es war nicht zu übersehen, dass ihm Vasils Gesellschaft peinlich war. Als Vasil beharrte und sagte, dass sie doch zusammen hergekommen seien, sah er ihn an, als würde er ihm Lügenmärchen erzählen.
Zu Tonke gewandt sagte er. „Pedro ist meine Andersartigkeit wohl erst bewusst geworden, als er sich unter Seinesgleichen wiederfand.“
Dann berichtete er weiter, wie er den Weg zu Fuß zurück gegangen war. Unweit vom Eingang des Geländes hörte er die schrillen Geräusche eines hochtourigen Fahrzeugs. In dem hohen Gras verliefen mehrere Wege. Vor einer Verzweigung blieb er stehen. Da schoss plötzlich ein Go-Kart auf ihn zu, riss im letzten Moment das Steuer zur Seite und flitzte auf einem Nebenweg weiter.
Vasil hielt die Hand vor den Mund. Beim Erzählen war der Schreck ein zweites Mal in ihn gefahren.
„Verstehst du jetzt, dass mir die Lust nach Frühstücken in der Stadt vergangen ist?“, fragte er Tonke.
Dieser nickte. „Mit deiner auffälligen Erscheinung und deiner besonderen Kleidung kannst du es schlecht treffen unten. Nicht alle sind reif für einen freiheitlichen Umgang. Und, das fürchte ich, wird in gewissen Kreisen auch so bleiben. - Aber man kann sich doch deswegen nicht hier oben zurückziehen und abschließen.“ Wie eine Larve im Holz, dachte Tonke. Aber er sagte es nicht.
„Ich hätte mir meinen Begleiter besser aussuchen müssen“, sagte Vasil mit seiner hellen Stimme. Er musterte dabei Tonke, und fragte sich wohl. Würdest du zu mir halten, oder würdest du dich meinetwegen genieren?
Tonke war froh, dass er die Frage nicht laut stellte. Denn er war sich selber nicht sicher, wie er sich verhalten würde.
Die Bedienung kam und nahm die Tabletts mit. Sie standen auf. Einmal mehr war Tonke überrascht, wie groß Vasil war.
Es war Zeit aufzubrechen. Im Flur trennten sie sich. Er ging nach oben, um im Zimmer seine Habe einzusammeln. Als Vasil sich nach unten ins Basement wandte, wurde Tonke stutzig. Er blieb auf den Stufen stehen, wartete einige Sekunden, bis die Tritte auf der Treppe unten verhalten. Dann schlich er sich abwärts bis in die Kellerebene und vor zur Werkstatt. Die Tür war angelehnt. Er warf durch den Spalt einen Blick ins Innere. Da war er, Vasil, der große Mann in den apricot-farbenen Kleidern. Was er wohl darin tat? Tonke war unschlüssig, was er tun sollte. Als er wieder nach drinnen schaute, sah er ihn nicht mehr. Jetzt wollte er es wissen.
„Vasil“, rief er und stieß die Türe auf. Aber er sah niemanden. Er horchte, wo er hingegangen sein könnte. Aber alles was er hörte, war ein auffallend lautes Knabbern im Holz. Ihm wurde unheimlich. War sein Besucher etwa doch aus dem Holz geschlüpft und dahin zurückgekehrt?
Er lachte über diese Vorstellung, als er ins Zimmer hochging. Aber ganz ließ sie sich nicht vertreiben.
In Anspielung darauf, sagte er, wenn er dieses Erlebnis erzählte: Eine Käferlarve hat mir von ihrem missglückten Frühstück in einem verwilderten Teil der Stadt berichtet. MLF



Mittwoch, 20. März 2013

150 II Eine Käferlarve berichtet



Als Tonke seinen Blick anhob, saß im Sessel gegenüber eine Person - ein Mann wohl, wenn auch nicht ganz eindeutig. Die Person hatte etwas Weiches, Weibliches an sich. Aber für eine Frau waren ihre Gesichtskonturen zu deutlich gezogen und Größe und Breite des Oberkörpers ließen auch eher auf ein männliches Wesen schließen. Die hellbraunen Haare waren wellig und reichten bis zur Schulter. Trotzdem entschied Tonke, dass er einen Mann vor sich hatte.
Der feminine Mann ließ seinen Blick auf ihm ruhen. Er schien neugierige Blicke gewohnt zu sein. Seine Augen verrieten, dass auch er Interesse an ihm hatte.
Mit zur Verwirrung trug die Kleidung des Besuchers bei. Zum einen die Form – eine weitgeschnittene Hose, die Tonke im ersten Moment für einen Rock gehalten hatte und eine pludrige Bluse. Zum andern die Farbe der Kleidung, welche exakt der Farbe des Holzes entsprach, über das Tonke auf seinem Rundgang gestolpert war. Das Abricot-Orange der Kleider erinnerte ihn überhaupt erst wieder an sein Erlebnis in der Werkstatt.
Während er gebannt auf die Tüte gestarrt hatte, musste der Mann mit dem schönen welligen Haar und der rockartigen Hose leise eingetreten sein und musste ihm gegenüber Platz genommen haben. Was bin ich doch für ein Narr, warf sich Tonke vor, beschäftige mich mit Holz und sogar mit den Viechern in diesem und verschließe meine Augen vor den anderen Gästen des Hauses.
Der Mann mit den schönen, weichen Zügen ließ seine Augen die ganze Zeit auf Tonke ruhen. Er hatte bemerkt, dass er ihn überrascht hatte. Wenn er auch gewiss nicht all die Gedanken erraten konnte, die Tonke aufgrund seines Erlebnisses im Basement durch den Kopf gingen. Der Besucher im Sessel nutzte diesen Moment der Verblüffung, um den Mann auf dem Bett genau zu studieren. Ob Tonke ein Kandidat sei, fragte er sich oder ob er in seiner herkömmlichen Neigung abgeschottet war? Er kam zu dem Schluss, dass Tonke dazwischen stand, dass er noch nicht wirklich wach war für die neue Neigung, im Grunde der alten Ausrichtung aber schon entwachsen war. Das legte schon Tonkes Anwesenheit in diesem Haus am Hang nahe. Wer ganz im konventionellen Umfeld sich bewegte und in der Anziehung des andern Geschlechts gefangen blieb, würde nicht so leicht hierher finden.
Auch Tonke vergegenwärtigte sich, wo er war. In diesen Häusern in der Höhe erfuhr er so gut wie jedesmal eine Überraschung. Dass jemand sein Zimmer betrat und ihm gegenüber Platz nahm, war da noch verhältnismäßig normal. Zwar würde ein solcher Zwischenfall in einem Hotel mit Zimmerschlüsseln nicht vorkommen – da überraschte höchstens die Putzkraft den Gast, wenn er den Raum nicht rechtzeitig verließ – aber in einer Herberge wie dieser war es nicht ungewöhnlich, wenn jemand unerwartet eintrat. Was ihn mehr irritierte, war die seltsame Koinzidenz der Farbe des Holzes mit den Kleidern seines Besuchers.
Er erinnerte sich wieder, dass er ja über die Grenze geschritten war. Seither hatte er nur Ungewöhnliches erlebt, am Ausgefallensten wohl die Pi-Menschen. Was war da schon eine kleine Übereinstimmung in einer Farbe, die für ihn neu war. Seine Mentorin würde ihn auslachen, wenn er ihr berichtete, wie sehr er sich von dem Gast in den aprikosenfarbenen Stoffen hatte überraschen lassen.
Dieser Besucher schien auch ein Besonderer zu sein. Es haftete ihm etwas Durchscheinendes, Ätherisches an. Fast als sei er nur ein Geschöpf der Fantasie.
Warum stellte er sich nicht vor, wenn er hier eindrang? Ein paar erklärende Worte wären schon angebracht, fand Tonke. Zum Beispiel, er suche eine Mitfahrgelegenheit. Oder, er lebe in diesem Haus und lerne gerne Gäste kennen, irgendein Vorwand zur Rechtfertigung. Der schöne Mann saß aber bloß da, als sei er nicht aus eigenem Antrieb gekommen, als habe vielmehr ein unergründlicher Zufall ihn an diese Stelle platziert. Wie ein Insekt, dachte Tonke, das aus der Verpuppung erwacht und sich in einer neuen, unbekannten Welt erst orientieren muss.
Er kniff seine Augen zusammen und überlegte, wie er den Besucher ansprechen könnte. Da kam ihm die Stimme seines Magens zu Hilfe – ein laut vernehmliches Knurren wurde laut. Wie spät mochte es sein? Er hob den Arm und schaute auf die Uhr, halb zehn. Für ihn, der gewohnheitsmäßig zwischen acht und neun frühstückte, war es nicht erstaunlich, wenn sein Magen sich um diese Zeit meldete. Daraus formten sich wie von selbst die ersten Worte.
„Haben Sie schon gefrühstückt?“, fragte er und wunderte sich, wie heiter seine Stimme klang.
Sein Gegenüber schien nicht überrascht, aber irgendwie unentschieden.
„Ich bin heute Morgen etwas früher aufgewacht“, sagte Tonke unbekümmert. „Da ich noch zu früh dran war, bin ich durchs Haus geschlendert und habe mich ablenken lassen.“
Der Gast nickte verständnisvoll, sagte aber noch immer nichts.
In diesem Haus wurde das Frühstücksbuffet um zehn abgeräumt. Wer danach kam, ging für den Morgen leer aus. Tonke spürte, dass er initiativ werden musste, wenn er nicht hungrig bleiben wollte. Deshalb sagte er zu seinem Gast. Er freue sich über seinen Besuch. Ob es ihm etwas ausmache, ihn in den Essensraum zu begleiten.
Er wartete die Antwort nicht ab, sondern stand auf. Der Gast erhob sich ebenfalls, was Tonke als Zustimmung auffasste. Schnell ergriff er die Tüte und stellte sie in eine Ecke. Es war nur noch Papier, das spürte er. Trotzdem warf er einen prüfenden Blick hinein. Da war natürlich nichts zu sehen – wie auch.
Er näherte sich nun dem Besucher, der größer war, als er erwartete hatte und stellte sich vor.
„Mein Name ist Tonke. Darf ich fragen wie Sie heißen?“
„Vasil“, kam als erstes Wort dem weiblich wirkenden Mann über die Lippen. Er hatte eine helle Stimme – ungewöhnlich für einen so hochgewachsenen Mann. Noch ungewöhnlicher aber erschien Tonke der Name, der nicht zu den hellbraunen Haaren passen wollte.
Sein Zimmer befand sich im ersten Stock, der Essensraum im Erdgeschoss, nahe dem Eingang. Schwerelos ging der Besucher an seiner Seite die Stufen hinab. Auf dem Weg nach unten kam Tonke der Gedanke, sie könnten doch in die tiefer liegende Stadt gehen. Dort galt die Beschränkung mit zehn Uhr nicht. Da fand man immer eine Cafeteria, in der man auch später frühstücken konnte, zumindest bis zur Mittagszeit. Mit diesem hübschen Mann durch die Stadt zu promenieren, stellte er sich verlockend vor.
„Was halten Sie von einem Abstecher in die Stadt?“, fragte er und fügte hinzu. „Eigentlich bin ich zu hungrig, um noch weit zu gehen. Aber wenn ich mir vorstelle, in der Fußgängerzone zu bummeln und mich in ein reizvolles Café zu setzen. Dafür würde ich meinem Magen noch eine halbe Stunde Schweigen gebieten. Was halten sie davon, Vasil?“
Tonke sah über sich ein ängstliches Gesicht. Klarer hätte auch ein Nein sprechen können. Diese Reaktion verstärkte seinen Eindruck, dass er es mit einem Menschen dieser höher gelegenen Zone zu tun hatte. Der noch nicht den Schritt nach unten gewagt hatte und deshalb in seiner Art etwas Unbedarftes, Ungefestigtes hatte.
„Mir ist es egal“, lenkte er ein, „ich esse gerne hier. „Also lassen Sie uns hingehen, solange das Buffet noch gedeckt ist.“
Vasil stellte sich mit an der Theke an. Das war Tonke sehr recht, denn er hätte sich geniert alleine zu essen. Sein Besucher schien ja nicht sehr mitteilsam zu sein.
Während Tonke den Kaffee einlaufen ließ, schaute er auf die Uhr. Elf vor zehn, so spät schon. Das führte ihn dazu etwas mehr auf sein Tablett zu laden, als er es sonst getan hätte. Mehrere Schnitten Brot, zwei gekochte Eier, Käsescheiben, Marmelade und noch eine Schale Müsli, über das er reichlich frische Milch goss.
Am Platz warf er einen Blick auf das Tablett von Vasil. Dieses war im Vergleich zu seinem nur mit einem Häufchen bedeckt. Ein Hörnchen, ein Brot, eine Portion Butter und Marmelade – Aprikose. Tonke schaute auf die pludrige Bluse und verglich die Farben. Sie stimmten überein. Ob das ein weiterer Zufall war?
Mit großem Genuss begann er zu essen. Er war froh über die Gesellschaft. Vor allem, dass er von seinem Spleen mit den Käferlarven abgelenkt worden war und jetzt doch noch zu einem üppigen Frühstück kam. Nachdem er die erste Tasse Kaffee geleert hatte, holte er sich schnell noch eine zweite.
Zwischendurch warf Tonke immer wieder einen Blick auf Vasil, der sich sein Brot in winzige Häppchen geteilt und sie sich einzeln in den Mund steckte. Dazu trank er seinen Tee in kleinen Schlücken. Seine anmutige Art gefiel ihm. Er wünschte sich näheren Kontakt zu diesem femininen Menschen. Doch wusste er noch nicht, was ihre gemeinsamen Themen sein könnten.
„Es schmeckt gut hier, nicht wahr“, brachte er hervor, bemüht darum, den Austausch nicht ganz zum Erliegen kommen zu lassen. „Aber ein Bummel durch die Stadt, sich in eine Cafeteria setzen, das wäre doch auch reizvoll. Sie frühstücken nicht gerne in der Stadt?“
Das sei nicht prinzipiell der Fall, erwiderte der Besucher, mit einer für seine Körpergröße erstaunlich hohen Stimme. Doch beim letzten Mal habe er schlechte Erfahrungen gemacht. Seither habe er sich noch nicht wieder überwinden können, nach unten zu gehen.
„Schlechte Erfahrungen beim Frühstück?“, fragte Tonke verwundert. „War der Kaffee – entschuldigen Sie – der Tee kalt? Oder waren die Eier verdorben? Was hat Ihnen nicht behagt?“
Vasil schob mit der rechten Hand die hellbraunen Strähnen aus der Stirn. „Nein, da sind ein paar andere Sachen schief gelaufen“, sagte er den Kopf graziös bewegend. „Wenn es - dich interessiert, kann ich gerne davon berichten, aber es ist eine längere Geschichte.“
Der Besucher hatte vor der Anrede kurz gezögert und ihn dann geduzt. Tonke verstand das als Einladung zu einem vertraulicheren Ton und freute sich.
Sicher, bekräftigte er, das interessiere ihn sehr.
Vasil bestrich die zweite Hälfte seines Brotes mit Butter und Aprikosen-Marmelade. Er kaute genüsslich bis er fertig war. Dann rieb er sich mit der Serviette sorgfältig den Mund ab und begann mit seinem Bericht. … MLF