Freitag, 12. Oktober 2012

112 Visham und seine Tiere



Wendys siebzehntes virtuelles Abenteuer

In der folgenden Nacht erhielt Wendy Besuch. Er verbrachte die Nacht mit zwei anderen. Mit Visham, der Name verrät seine Herkunft und mit einem Amerikaner. Trotz oder wegen dieser Gäste hatte Wendy nicht gut geschlafen. Und das Schlimmste, er hatte keinerlei Erinnerung an die Nacht. Er wusste, dass sie sich angeregt unterhalten hatten, aber er hatte keinerlei Anhaltspunkte worüber. Das machte ihm sosehr zu schaffen, dass er kaum aufzustehen vermochte.
Als er’s schließlich doch packte und er zum Fenster ging, da sah er, dass Visham noch da war. Er ging gerade mit einem Löwen spazieren. Ein großes, schönes Tier lief an seiner Seite, ohne Mähne. Wendy erschrak sosehr, dass er zitterte. Er fürchtete sich sogar im Haus drin. Wie er sich dann vom Fenster löste und frühstückte, ging es ihm etwas besser. Später, als er doch wieder zum Fenster ging und rausschaute, sah er einen Leoparden zurückkommen. Ebenfalls ein großes, ausgewachsenes Tier. In seinen Bewegungen hatte der Leopard etwas Menschliches. Dadurch erschien er Wendy aber nicht weniger gefährlich. Im Gegenteil, er fürchtete, dass der Leopardenmensch ihn hinter dem Vorhang sehen und ins Haus eindringen könnte.
Zum Glück musste Wendy, um in die Schule zu gehen, nicht nach draußen gehen, sondern konnte vom Obergeschoss in den Schultrakt hinüber wechseln.
Von der letzten Nacht war ihm einzig eine Sprechweise geblieben, die er aufgeschnappt hatte. Sie lautete:
Da, kommt von dass.
Erst war sein Sinn verwirrt, als er über dieses Wortspiel nachdachte. Er sah zwei zu nahe Linien, die das Auge verwirrten. Aber dann erschloss er sich folgenden Sinn. Er sagte sich. Da muss was geschehen, dass tatsächlich was geschieht. Das gab ihm den Anstoß sich aufzuraffen.

Als er die Treppe ins Foyer des Schulgebäudes runter kam, stieß er mit Frau Waigert zusammen. Er verstand ihr Innehalten und ihren fragenden Blick als Frage, wie es ihm gehe. Eigentlich wusste er, dass man sich vor ihr in Acht nehmen musste. Aber er hatte an diesem Morgen noch mit niemandem gesprochen und es war ihm ein großes Bedürfnis sich mitzuteilen.
„Ach, Frau Waigert, klagte er, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie ich mich heute Morgen fühle. Ich habe kaum geschlafen.“ Ohne dass er ihre Antwort abwartete, fügte er noch hinzu. „Es geht jetzt etwas besser. Wird schon wieder werden.“
Frau Waigert, in einer Art, wie nur sie das konnte, betrachtete ihn eiskalt und sagte nach einer wohl abgewogenen Pause. „Ich meine nicht Ihr Befinden, sondern Ihre Frisur.“ Und ließ ihn ohne ein Wort des Mitgefühls stehen.
Die Frisur?, fragte sich Wendy verblüfft. Konnte es sein, dass er ob dem ganzen Elend vergessen hatte sich zu kämmen? Er suchte schnell die Toilette auf, die sich im hinteren Bereich des Foyers befand. Er wunderte sich nicht wenig, als er vor dem Spiegel stand. Erst sah er überhaupt nur Haare. Sein ganzes Gesicht hing voller Haare. Nachträglich musste er der kalten Frau Waigert sogar Recht geben. Sein Elend mochte zumindest zu einem Teil damit zusammengehängt haben, dass ihm die Haare den Blick verstellt hatten.  
Wendy belegte drei Studienfächer. Eines von den dreien war Englisch. Der Englischunterricht fand am Morgen als erstes statt. Er nahm in der Englisch-Klasse Platz und holte Papier und Stift hervor. Dann wartete er bis die Lehrerin die Standardfrage stellte. Es war jeden Morgen die gleiche.
„Was habt Ihr heute Nacht erlebt? Worüber wurde gesprochen? Zeichnet es auf und vergesst keine Einzelheit.“
Normalerweise legte Wendy sofort los. Er wusste, dass er sich beeilen musste, wenn er in der Doppelstunde mit den Aufzeichnungen fertig werden wollte. Üblicherweise brachte er Notizen mit, die er dann bloß ausschreiben und vervollständigen musste. Aber für diese Doppelstunde hatte er nichts mitgebracht. Er wusste, er hatte die Nacht mit Visham und dem Amerikaner verbracht. Sie hatten sich ausgetauscht und hatten viel miteinander erlebt. Aber was, war ihm schlicht entfallen. Er wusste es nicht mehr. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sein morgendliches Erlebnis aufzuschreiben. Wie er Visham mit dem Löwen gesehen hatte und wie später ein menschenähnlicher Leopard zurückgekommen war. Er beschrieb auch seine Ängste und dass er sich nicht aufzuraffen vermocht hätte, wenn nicht der Spruch ‚Da kommt von dass‘ ihn angespornt hätte. Ich bin ins Foyer gekommen und habe Frau Waigert getroffen. Mein Zustand hat sie nicht interessiert. Einmal mehr hat sie mich brüskiert. Aber sie hat mich auf die Haare im Gesicht aufmerksam gemacht. Als ich sie zurückkämmt hatte, ging es mir schon besser.
Die Englischlehrerin überflog das Blatt und fragte. „Geht es jetzt besser?“
Naja, bemerkte Wendy lakonisch, um einem Leoparden zu begegnen, fühle ich mich noch nicht gewappnet, aber ansonsten bin ich okay. MLF

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