Wendys siebzehntes virtuelles
Abenteuer
In der folgenden Nacht erhielt Wendy Besuch. Er verbrachte die
Nacht mit zwei anderen. Mit Visham, der Name verrät seine Herkunft und mit
einem Amerikaner. Trotz oder wegen dieser Gäste hatte Wendy nicht gut
geschlafen. Und das Schlimmste, er hatte keinerlei Erinnerung an die Nacht. Er
wusste, dass sie sich angeregt unterhalten hatten, aber er hatte keinerlei
Anhaltspunkte worüber. Das machte ihm sosehr zu schaffen, dass er kaum aufzustehen
vermochte.
Als er’s schließlich doch packte und er zum Fenster ging, da sah
er, dass Visham noch da war. Er ging gerade mit einem Löwen spazieren. Ein
großes, schönes Tier lief an seiner Seite, ohne Mähne. Wendy erschrak sosehr,
dass er zitterte. Er fürchtete sich sogar im Haus drin. Wie er sich dann vom
Fenster löste und frühstückte, ging es ihm etwas besser. Später, als er doch
wieder zum Fenster ging und rausschaute, sah er einen Leoparden zurückkommen.
Ebenfalls ein großes, ausgewachsenes Tier. In seinen Bewegungen hatte der
Leopard etwas Menschliches. Dadurch erschien er Wendy aber nicht weniger
gefährlich. Im Gegenteil, er fürchtete, dass der Leopardenmensch ihn hinter dem
Vorhang sehen und ins Haus eindringen könnte.
Zum Glück musste Wendy, um in die Schule zu gehen, nicht nach
draußen gehen, sondern konnte vom Obergeschoss in den Schultrakt hinüber
wechseln.
Von der letzten Nacht war ihm einzig eine Sprechweise geblieben,
die er aufgeschnappt hatte. Sie lautete:
„Da, kommt von dass.“
Erst war sein Sinn verwirrt, als er über dieses Wortspiel
nachdachte. Er sah zwei zu nahe Linien, die das Auge verwirrten. Aber dann
erschloss er sich folgenden Sinn. Er sagte sich. Da muss was geschehen, dass
tatsächlich was geschieht. Das gab ihm den Anstoß sich aufzuraffen.
Als er die Treppe ins Foyer des Schulgebäudes runter kam, stieß
er mit Frau Waigert zusammen. Er verstand ihr Innehalten und ihren fragenden
Blick als Frage, wie es ihm gehe. Eigentlich wusste er, dass man sich vor ihr
in Acht nehmen musste. Aber er hatte an diesem Morgen noch mit niemandem
gesprochen und es war ihm ein großes Bedürfnis sich mitzuteilen.
„Ach, Frau Waigert, klagte er, Sie können sich gar nicht
vorstellen, wie ich mich heute Morgen fühle. Ich habe kaum geschlafen.“ Ohne
dass er ihre Antwort abwartete, fügte er noch hinzu. „Es geht jetzt etwas
besser. Wird schon wieder werden.“
Frau Waigert, in einer Art, wie nur sie das konnte, betrachtete
ihn eiskalt und sagte nach einer wohl abgewogenen Pause. „Ich meine nicht Ihr
Befinden, sondern Ihre Frisur.“ Und ließ ihn ohne ein Wort des Mitgefühls
stehen.
Die Frisur?, fragte sich Wendy verblüfft. Konnte es sein, dass er
ob dem ganzen Elend vergessen hatte sich zu kämmen? Er suchte schnell die
Toilette auf, die sich im hinteren Bereich des Foyers befand. Er wunderte sich
nicht wenig, als er vor dem Spiegel stand. Erst sah er überhaupt nur Haare.
Sein ganzes Gesicht hing voller Haare. Nachträglich musste er der kalten Frau
Waigert sogar Recht geben. Sein Elend mochte zumindest zu einem Teil damit
zusammengehängt haben, dass ihm die Haare den Blick verstellt hatten.
Wendy belegte drei Studienfächer. Eines von den dreien war
Englisch. Der Englischunterricht fand am Morgen als erstes statt. Er nahm in
der Englisch-Klasse Platz und holte Papier und Stift hervor. Dann wartete er
bis die Lehrerin die Standardfrage stellte. Es war jeden Morgen die gleiche.
„Was habt Ihr heute Nacht erlebt? Worüber wurde gesprochen? Zeichnet
es auf und vergesst keine Einzelheit.“
Normalerweise legte Wendy sofort los. Er wusste, dass er sich
beeilen musste, wenn er in der Doppelstunde mit den Aufzeichnungen fertig
werden wollte. Üblicherweise brachte er Notizen mit, die er dann bloß
ausschreiben und vervollständigen musste. Aber für diese Doppelstunde hatte er
nichts mitgebracht. Er wusste, er hatte die Nacht mit Visham und dem Amerikaner
verbracht. Sie hatten sich ausgetauscht und hatten viel miteinander erlebt.
Aber was, war ihm schlicht entfallen. Er wusste es nicht mehr. Also blieb ihm
nichts anderes übrig, als sein morgendliches Erlebnis aufzuschreiben. Wie er
Visham mit dem Löwen gesehen hatte und wie später ein menschenähnlicher Leopard
zurückgekommen war. Er beschrieb auch seine Ängste und dass er sich nicht
aufzuraffen vermocht hätte, wenn nicht der Spruch ‚Da kommt von dass‘ ihn
angespornt hätte. Ich bin ins Foyer gekommen und habe Frau Waigert getroffen.
Mein Zustand hat sie nicht interessiert. Einmal mehr hat sie mich brüskiert.
Aber sie hat mich auf die Haare im Gesicht aufmerksam gemacht. Als ich sie
zurückkämmt hatte, ging es mir schon besser.
Die Englischlehrerin überflog das Blatt und fragte. „Geht es
jetzt besser?“
Naja, bemerkte Wendy lakonisch, um einem Leoparden zu begegnen,
fühle ich mich noch nicht gewappnet, aber ansonsten bin ich okay. MLF
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