Wendys achtzehntes virtuelles
Abenteuer
In der Senke des Nachbarorts von Home blieb plötzlich sein Auto
stehen. Kein Benzin mehr, ausgerechnet am tiefsten Punkt, mitten in einer
unbesiedelten Landschaft. Dümmer hätte er es nicht treffen können. Also gab es
das auch in der virtuellen Welt, dass der Kraftstoff ausging. Er hatte
vergessen, auf die Tankanzeige zu achten. Es gelang ihm gerade noch, das Auto
ins Gras rollen zu lassen. Dann stieg er aus.
Der erste Wagen, ein großer, hellgrauer Van hielt an.
„Wohin fahren Sie?“, fragte Wendy.
Der Fahrer schien ein ansprechender, eleganter Typ. „Naach Vennedig“, gab er in
plattdeutschem Tonfall zur Antwort.
Venedig?, ging Wendy durch den Kopf. Warum fährt er hier lang,
wenn er nach Vennedig will? War aber doch froh über die Hilfsbereitschaft des Niederländers.
„Ich meine hier, über welchen Ort?, verdeutlichte er seine Frage.
„Gehoven“, war die
Antwort.
Wendy wusste zwar nicht, wo der Ort ‚Gehoven‘ lag, aber er sagte
sich, Hauptsache ich komme hier mal aus der Senke raus.
Der Fahrer machte auch aus der Nähe einen sympathischen Eindruck,
nur sein Gesichtsausdruck hatte etwas Irritierendes. Wendy stellte mit
Befremden fest, dass er sich auch nach dem Anfahren nicht nach vorne wandte,
sondern quer zur Fahrtrichtung sitzen blieb. Er tippte etwas in einen
Taschenrechner oder Navigator auf der Ablage zwischen ihnen. Während der Wagen beschleunigte
und die Straße aus der Senke hochstieg, schaute er nicht ein einziges Mal nach
vorne. Wendy wurde ganz bang. Er war nahe daran zu fragen, ob er das Steuer
halten solle, bis er mit seiner Tipperei fertig sei. Wagte aber doch nicht sich
einzumischen.
Der Retter in der Not schaute zu ihm auf, Etwas an seinem Blick
rührte Wendy merkwürdig an. Da, plötzlich fiel ihm auf, was es war. Er kannte diesen
Gesichtsausdruck aus den Portraits jenes Pariser Malers, der die Gesichter mit
Augen nach vorne und nach der Seite zu malen pflegte. Jetzt verstand Wendy,
weshalb der Fahrer quer sitzen konnte. Das Auge seitlich im Kopf überwachte die
Fahrt und vermittelte über eine gekringelte Schnur zu den frontalen Augen. Die
virtuelle Welt ist halt doch eine andere, dachte er und fühlte sich wieder
beruhigt.
Er erklärte dem Ortsfremden. „Wir sind hier im Nachbarort von
Home“ und schlug mit fragender Intonation vor. „Wenn Sie mich in Home abliefern
könnten, dann wäre ich von meiner Not befreit.“ Er dachte daran, dass einer
seiner Verwandten ihn fahren könnte und gewiss auch ein Reservekanister im Home
herumstünde.
Der Fahrer ging nicht auf seine Frage ein und sie landeten auch nicht
at Home, sondern auf der Degerhöhe, direkt vor seiner Arbeitsstelle.
„Uuh“, entfuhr Wendy, „das ist aber praktisch.“ Die Arbeit hatte
er ob der Flaute ganz vergessen. Als der Wagen stehen blieb, hatte er nur noch
daran gedacht, wie er sein Auto wieder flott kriegen könnte. Jetzt hatte ihn
der Niederländer gleich zweimal gerettet. Ist halt doch gut, wenn man drei
Augen hat. Wahrscheinlich hatte er mit ‚Gehoven‘ die erhöhte Fläche gemeint,
auf der die Degerhöhe lag.
Wendy arbeitete dort oben in einem großen Glashaus. Er setzte
sich zu den anderen auf eine von den zwei Bänken und wartete auf seinen
Einsatz. Die Großgärtnerei gehörte einer esoterischen Vereinigung, zu der sich
verschiedene Gruppierungen zusammengeschlossen hatten. Das Angenehme an dieser
Firma war, dass sie nicht auf Profit ausgerichtet war. Die Betreiber, zu denen
Reichmuth, der Leiter, gehörte, waren so reich, dass sie nicht um des
Verdienstes willen gärtnerten. So wurde eine Vielzahl von Zierpflanzen, Blumen
und Sträucher gezogen. Auch Gemüse und Früchte wurden angebaut, aber nichts
davon massenweise, sondern großzügig arrangiert, in schönen Beeten immer darauf
bedacht, dass die Pflanzen dem Auge gefielen und sich voll entfalten konnten.
Schon die Düfte, die dieses riesige Glashaus durchzogen, machten die Arbeit zum
Privileg.
Noch gab es an diesem frühen Nachmittag nichts zu tun. Reichmuth,
der Leiter, machte wohl Mittagsruhe. Wendy war ungeduldig. Er stand auf und
ging auf einen Rundgang in die unmittelbare Umgebung. Die Gärtnerei lag am
unteren Rand der Siedlung auf der Höhe. Etwa hundert Meter entfernt verlief die
Echazstädter Straße, die den Ort im Bogen durchzog. Schon als Wendy den ersten
Schritt aus dem Gelände der Vereinigung tat, stach ihm der Unterschied zwischen
drinnen und draußen ins Auge. Von dem lichtdurchfluteten, mit Wohlgerüchen
erfüllten Glashalle war er auf einer ganz gewöhnlichen Straße gelandet, mit
ihrem Gestank nach Asphalt und Abgasen und dem ganzen Müll, der links und
rechts von der Straße lag. Noch realistischer wurde es auf der stark befahrenen
Echazstädter Straße mit ihrem Lärm und den Schwaden von Kraftstoffgasen. Er
folgte dieser bis zur nächsten Abzweigung, bog nach links ab bis an den
Siedlungsrand und schlug wieder nach links den Weg zwischen den Schrebergärten
ein. Aber dieser Weg hatte keinen Durchgang zur Gärtnerei. Die Fahrspur verlor
sich, das Gras wurde höher und Wendy mit seinen leichten Schuhen musste
umkehren. Es blieb ihm keine andere Wahl, als den Weg an der dreckigen Straße
entlang zurück zu gehen.
Er war jetzt der Einzige, der auf der Bank auf seinen Einsatz
wartete. Wahrscheinlich waren sie Reichmuth zu einem Einsatz gefolgt. Nur der
alte Walter, die rechte Hand des Chefs, saß gegenüber auf seinem Platz und
schien auch zu warten, dass Reichmuth zurückkam. Wendy kannte Walter kaum. Er
war aus einer anderen Welt. Durch und durch Angestellter, um nicht zu sagen,
Diener. Wie ein Schatten folgte er dem reichen Arbeitgeber. Außer zur Begrüßung
und zur Klärung sachlicher Fragen hatten sie kaum je ein Wort miteinander
gewechselt. Umso verwunderlicher war, was sich im Folgenden ereignete.
Der Alte kam überraschend zu ihm herüber und legte sich auf die
Bank davor. Gerade als hätte ihn eine plötzliche Müdigkeit überkommen.
„Alles okay?“, fragte Wendy besorgt.
Da richtete Walter den Blick zu ihm hoch und sprach ihn an.
„Du, ich möchte dir etwas
sagen. Die wollen dich absägen.“
Wendy war zu betroffen, um gleich zu antworten. Der Alte, den er
hundertprozentig hinter Reichmuth gewähnt hatte, zeigte auf verschwörerische
Weise seine Verbindung zu ihm.
„Oh ja“, sagte Wendy bedauernd, „so viel gibt es hier gar nicht
zu tun. Klar, dass ich dann gehen muss.“
Der Alte, der noch immer so tat, als würde er Mittagsschlaf
machen, ging nicht darauf ein, sondern raunte vielmehr.
„Man wirft dir vor, du
seist unmoralisch, zu triebgesteuert.“
Unmoralisch? Triebgesteuert? Wendy verstand nicht was der Alte ihm
sagen wollte und antwortete.
„Ach, Walter, da haben Sie sich bestimmt verhört. Es liegt doch
daran, dass mir eine Arbeitseinstellung wie die Ihre fehlt. Reichmuth ist zu
großzügig. Das macht mich übermütig. Ich benehme mich nicht wie ein
Angestellter. Das ist mir bewusst, aber ich kann es nicht ändern.“
Der Alte schüttelte unmerklich den Kopf.
„Neulich, als die große
Sendung kam, waren das eigentlich zwei. Aber man hat mit Absicht eine daraus
gemacht.“
Wendy sah in fragend an.
„‚Vermählung auf dem Kopf‘“, stieß da der Alte hervor „und ‚Grüß
Hirt dein Kleid‘.“
„Das war bestimmt ein Zolltrick“, entfuhr Wendy, der die
Bedeutung der Mitteilung noch nicht verstanden hatte.
Walter kehrte an seinen Platz zurück und ließ einen grübelnden
Wendy zurück. Ihm war unbegreiflich, wie Walter von seinen Abenteuern hatte
erfahren können. Er wurde sich einmal mehr bewusst, wie wenig er von dieser
virtuellen Welt verstand und dass er sie immer wieder mit den simplen Maßstäben
maß. Sie musste viel durchlässiger sein, als die Welt, die er kannte. Aber was
er jetzt verstanden hatte, war, dass die Betreiber dieser schönen, lichten
Gärtnerei, was die neuen Steckverbindungen anging, nicht mitwollten. Sie hatten
also von seiner anderen Arbeit erfahren. Sie hielten diese neuen Verbindungen
für amoralisch, für eine bloße Angelegenheit der Triebe. Etwas, das man nicht
fördern durfte, sondern einschränken und unterdrücken musste. Das war eine böse
Überraschung. Sie, die ununterbrochen den göttlichen Plan und die kosmische
Fülle priesen, sollten die Gnade nicht erkennen, die die modernen
Steckverbindungen den Menschen schenkten und sie ihnen verwehren wollen?
Unbegreiflich. [An ‚Die Vermählung auf dem Kopf‘ waren sie natürlich
interessiert. Er hatte selber gestaunt, warum er an einem Tag zwei so
verschiedene Aufgaben zu bewältigen hatte. Geschickt die Koppelung.]
Dass umgekehrt der alte Walter für ihn eine Gefahr eingegangen
war und sich auf seine Seite gestellt (gelegt) hatte, das ermunterte ihn sehr. Walter,
der Bescheidene, der Unscheinbare hatte sich als sein Verbündeter
herausgestellt. Das machte die Sache mit den Steckverbindungen nochmal
dringlicher. MLF
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen