Montag, 15. Oktober 2012

113 Gärtnerei im Glashaus



Wendys achtzehntes virtuelles Abenteuer

In der Senke des Nachbarorts von Home blieb plötzlich sein Auto stehen. Kein Benzin mehr, ausgerechnet am tiefsten Punkt, mitten in einer unbesiedelten Landschaft. Dümmer hätte er es nicht treffen können. Also gab es das auch in der virtuellen Welt, dass der Kraftstoff ausging. Er hatte vergessen, auf die Tankanzeige zu achten. Es gelang ihm gerade noch, das Auto ins Gras rollen zu lassen. Dann stieg er aus.
Der erste Wagen, ein großer, hellgrauer Van hielt an.
„Wohin fahren Sie?“, fragte Wendy.
Der Fahrer schien ein ansprechender, eleganter Typ. „Naach Vennedig“, gab er in plattdeutschem Tonfall zur Antwort.
Venedig?, ging Wendy durch den Kopf. Warum fährt er hier lang, wenn er nach Vennedig will? War aber doch froh über die Hilfsbereitschaft des Niederländers. „Ich meine hier, über welchen Ort?, verdeutlichte er seine Frage.
Gehoven“, war die Antwort.
Wendy wusste zwar nicht, wo der Ort ‚Gehoven‘ lag, aber er sagte sich, Hauptsache ich komme hier mal aus der Senke raus.
Der Fahrer machte auch aus der Nähe einen sympathischen Eindruck, nur sein Gesichtsausdruck hatte etwas Irritierendes. Wendy stellte mit Befremden fest, dass er sich auch nach dem Anfahren nicht nach vorne wandte, sondern quer zur Fahrtrichtung sitzen blieb. Er tippte etwas in einen Taschenrechner oder Navigator auf der Ablage zwischen ihnen. Während der Wagen beschleunigte und die Straße aus der Senke hochstieg, schaute er nicht ein einziges Mal nach vorne. Wendy wurde ganz bang. Er war nahe daran zu fragen, ob er das Steuer halten solle, bis er mit seiner Tipperei fertig sei. Wagte aber doch nicht sich einzumischen.
Der Retter in der Not schaute zu ihm auf, Etwas an seinem Blick rührte Wendy merkwürdig an. Da, plötzlich fiel ihm auf, was es war. Er kannte diesen Gesichtsausdruck aus den Portraits jenes Pariser Malers, der die Gesichter mit Augen nach vorne und nach der Seite zu malen pflegte. Jetzt verstand Wendy, weshalb der Fahrer quer sitzen konnte. Das Auge seitlich im Kopf überwachte die Fahrt und vermittelte über eine gekringelte Schnur zu den frontalen Augen. Die virtuelle Welt ist halt doch eine andere, dachte er und fühlte sich wieder beruhigt.
Er erklärte dem Ortsfremden. „Wir sind hier im Nachbarort von Home“ und schlug mit fragender Intonation vor. „Wenn Sie mich in Home abliefern könnten, dann wäre ich von meiner Not befreit.“ Er dachte daran, dass einer seiner Verwandten ihn fahren könnte und gewiss auch ein Reservekanister im Home herumstünde.
Der Fahrer ging nicht auf seine Frage ein und sie landeten auch nicht at Home, sondern auf der Degerhöhe, direkt vor seiner Arbeitsstelle.
„Uuh“, entfuhr Wendy, „das ist aber praktisch.“ Die Arbeit hatte er ob der Flaute ganz vergessen. Als der Wagen stehen blieb, hatte er nur noch daran gedacht, wie er sein Auto wieder flott kriegen könnte. Jetzt hatte ihn der Niederländer gleich zweimal gerettet. Ist halt doch gut, wenn man drei Augen hat. Wahrscheinlich hatte er mit ‚Gehoven‘ die erhöhte Fläche gemeint, auf der die Degerhöhe lag.

Wendy arbeitete dort oben in einem großen Glashaus. Er setzte sich zu den anderen auf eine von den zwei Bänken und wartete auf seinen Einsatz. Die Großgärtnerei gehörte einer esoterischen Vereinigung, zu der sich verschiedene Gruppierungen zusammengeschlossen hatten. Das Angenehme an dieser Firma war, dass sie nicht auf Profit ausgerichtet war. Die Betreiber, zu denen Reichmuth, der Leiter, gehörte, waren so reich, dass sie nicht um des Verdienstes willen gärtnerten. So wurde eine Vielzahl von Zierpflanzen, Blumen und Sträucher gezogen. Auch Gemüse und Früchte wurden angebaut, aber nichts davon massenweise, sondern großzügig arrangiert, in schönen Beeten immer darauf bedacht, dass die Pflanzen dem Auge gefielen und sich voll entfalten konnten. Schon die Düfte, die dieses riesige Glashaus durchzogen, machten die Arbeit zum Privileg.
Noch gab es an diesem frühen Nachmittag nichts zu tun. Reichmuth, der Leiter, machte wohl Mittagsruhe. Wendy war ungeduldig. Er stand auf und ging auf einen Rundgang in die unmittelbare Umgebung. Die Gärtnerei lag am unteren Rand der Siedlung auf der Höhe. Etwa hundert Meter entfernt verlief die Echazstädter Straße, die den Ort im Bogen durchzog. Schon als Wendy den ersten Schritt aus dem Gelände der Vereinigung tat, stach ihm der Unterschied zwischen drinnen und draußen ins Auge. Von dem lichtdurchfluteten, mit Wohlgerüchen erfüllten Glashalle war er auf einer ganz gewöhnlichen Straße gelandet, mit ihrem Gestank nach Asphalt und Abgasen und dem ganzen Müll, der links und rechts von der Straße lag. Noch realistischer wurde es auf der stark befahrenen Echazstädter Straße mit ihrem Lärm und den Schwaden von Kraftstoffgasen. Er folgte dieser bis zur nächsten Abzweigung, bog nach links ab bis an den Siedlungsrand und schlug wieder nach links den Weg zwischen den Schrebergärten ein. Aber dieser Weg hatte keinen Durchgang zur Gärtnerei. Die Fahrspur verlor sich, das Gras wurde höher und Wendy mit seinen leichten Schuhen musste umkehren. Es blieb ihm keine andere Wahl, als den Weg an der dreckigen Straße entlang zurück zu gehen.
Er war jetzt der Einzige, der auf der Bank auf seinen Einsatz wartete. Wahrscheinlich waren sie Reichmuth zu einem Einsatz gefolgt. Nur der alte Walter, die rechte Hand des Chefs, saß gegenüber auf seinem Platz und schien auch zu warten, dass Reichmuth zurückkam. Wendy kannte Walter kaum. Er war aus einer anderen Welt. Durch und durch Angestellter, um nicht zu sagen, Diener. Wie ein Schatten folgte er dem reichen Arbeitgeber. Außer zur Begrüßung und zur Klärung sachlicher Fragen hatten sie kaum je ein Wort miteinander gewechselt. Umso verwunderlicher war, was sich im Folgenden ereignete.
Der Alte kam überraschend zu ihm herüber und legte sich auf die Bank davor. Gerade als hätte ihn eine plötzliche Müdigkeit überkommen.
„Alles okay?“, fragte Wendy besorgt.
Da richtete Walter den Blick zu ihm hoch und sprach ihn an.
Du, ich möchte dir etwas sagen. Die wollen dich absägen.“
Wendy war zu betroffen, um gleich zu antworten. Der Alte, den er hundertprozentig hinter Reichmuth gewähnt hatte, zeigte auf verschwörerische Weise seine Verbindung zu ihm.
„Oh ja“, sagte Wendy bedauernd, „so viel gibt es hier gar nicht zu tun. Klar, dass ich dann gehen muss.“
Der Alte, der noch immer so tat, als würde er Mittagsschlaf machen, ging nicht darauf ein, sondern raunte vielmehr.
Man wirft dir vor, du seist unmoralisch, zu triebgesteuert.“
Unmoralisch? Triebgesteuert? Wendy verstand nicht was der Alte ihm sagen wollte und antwortete.
„Ach, Walter, da haben Sie sich bestimmt verhört. Es liegt doch daran, dass mir eine Arbeitseinstellung wie die Ihre fehlt. Reichmuth ist zu großzügig. Das macht mich übermütig. Ich benehme mich nicht wie ein Angestellter. Das ist mir bewusst, aber ich kann es nicht ändern.“
Der Alte schüttelte unmerklich den Kopf.
Neulich, als die große Sendung kam, waren das eigentlich zwei. Aber man hat mit Absicht eine daraus gemacht.“
Wendy sah in fragend an.
„‚Vermählung auf dem Kopf‘“, stieß da der Alte hervor „und ‚Grüß Hirt dein Kleid‘.“
„Das war bestimmt ein Zolltrick“, entfuhr Wendy, der die Bedeutung der Mitteilung noch nicht verstanden hatte.
Walter kehrte an seinen Platz zurück und ließ einen grübelnden Wendy zurück. Ihm war unbegreiflich, wie Walter von seinen Abenteuern hatte erfahren können. Er wurde sich einmal mehr bewusst, wie wenig er von dieser virtuellen Welt verstand und dass er sie immer wieder mit den simplen Maßstäben maß. Sie musste viel durchlässiger sein, als die Welt, die er kannte. Aber was er jetzt verstanden hatte, war, dass die Betreiber dieser schönen, lichten Gärtnerei, was die neuen Steckverbindungen anging, nicht mitwollten. Sie hatten also von seiner anderen Arbeit erfahren. Sie hielten diese neuen Verbindungen für amoralisch, für eine bloße Angelegenheit der Triebe. Etwas, das man nicht fördern durfte, sondern einschränken und unterdrücken musste. Das war eine böse Überraschung. Sie, die ununterbrochen den göttlichen Plan und die kosmische Fülle priesen, sollten die Gnade nicht erkennen, die die modernen Steckverbindungen den Menschen schenkten und sie ihnen verwehren wollen? Unbegreiflich. [An ‚Die Vermählung auf dem Kopf‘ waren sie natürlich interessiert. Er hatte selber gestaunt, warum er an einem Tag zwei so verschiedene Aufgaben zu bewältigen hatte. Geschickt die Koppelung.]
Dass umgekehrt der alte Walter für ihn eine Gefahr eingegangen war und sich auf seine Seite gestellt (gelegt) hatte, das ermunterte ihn sehr. Walter, der Bescheidene, der Unscheinbare hatte sich als sein Verbündeter herausgestellt. Das machte die Sache mit den Steckverbindungen nochmal dringlicher. MLF

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