Wendys vierundzwanzigstes virtuelles
Abenteuer
Wendy kam gut voran mit dem Entwickeln der Bilder. Es zeichneten
sich einzelne Stränge von Themen ab. Aber noch fehlte ihm der Überblick
gänzlich. Er hätte gerne mit der Tochter von Lutz gesprochen und ihr die eine
oder andere Frage gestellt. Aber da sie in England weilte, würde er sie ja wohl
schwerlich erreichen. Lutz hatte gesagt, die Ausstellung solle nach ihr benannt
werden. …‘s Bilder. Aber er hatte sich ihren Vornamen nicht gemerkt.
Als er die Entwicklungsarbeit für diesen Tag beendete, suchte er
beim Verlassen der Schule nach jemandem, den er nach ihrem Vornamen fragen
konnte. Im Foyer befand sich niemand, also ging er nach draußen. Es war früher
Nachmittag und eine schläfrige Stimmung hatte sich über den Pausenhof gelegt.
Mittendrin stand ein Häuschen, das der Rezeption und wohl auch der
Pausenaufsicht diente. Es hielten sich zwei Frauen in dem kleinen Gebäude auf
und unterhielten sich gedämpft. Er trat vor das hochgeschobene Glasfenster. Aber
sie plauderten weiter und schenkten ihm keine Beachtung. Wendy räusperte sich
und sagte, dass er jetzt gehen werde.
Obwohl ihre Blicke eher abweisend waren – was geht das uns an,
was tu hier treibst – stellte er doch die Frage, die ihn beschäftigte.
„Wie heißt eigentlich die Tochter von Lutz? Sie ist in England.
Ich entwickle ihre Bilder. Ihr Vorname ist mir entfallen.“
Ohne einen Augenblick nachzudenken, schüttelten die beiden
gleichzeitig den Kopf. „Wissen wir nicht.“
Eine Dickfelligkeit und Gleichgültigkeit schlug ihm entgegen, die
er an dieser Schule nicht gewohnt war. Enttäuscht wandte er sich fort. Eine
solche Haltung hatte er nicht erwartet.
Da fiel ihm ein, dass sein Bruder die Tochter von Lutz kennen
musste. Der ging noch auf die öffentliche Schule. Diese lag gerade auf der
anderen Seite der Stadt, ebenfalls auf einer Anhöhe. Also machte sich Wendy auf
den Weg dorthin.
Das Schulgelände des Gymnasiums machte einen nüchterneren
Eindruck, als das der Astoria-Schule. Der Pausenhof war leer, anscheinend
steckte sein Bruder noch im Unterricht. Wendy ging zu den Kästen der Schüler,
in denen sie ihre Materialien, wie Schulbücher, Lexika und Formelsammlungen,
aber auch Kleider für den Sport und persönliche Dinge, aufbewahrten. Der
schwarze Kasten seines Bruders war offen, aber er stöberte vergeblich nach
einem Adressbuch oder einem Bild oder sonst einem Anhaltspunkt, der auf die
Tochter von Lutz hinwies.
Wieder im Schulhof kam ihm eine Gruppe von Schülern in ihren
lässigen Klamotten entgegen. Da wurde er sich erst seiner eigenen Kleidung
bewusst. Er trug ein schwarzes Jackett, das ihm an diesem Ort sehr altmodisch
vorkam. Da erschien schon sein Bruder.
„Hallo, ist der Unterricht zu Ende?“, fragte Wendy ihn.
Sein Bruder schaute ihn mit scheelem Blick an, als schämte er
sich seiner. Wenn Wendy nicht auf ihn zugegangen wäre, hätte er ihn
wahrscheinlich einfach stehen lassen. Er zeigte sich in seiner dumpfen,
dickhäutigen Art, eine Seite an ihm, die Wendy gar nicht mochte. Er ließ sich
aber nicht abschütteln.
„Du, sag mal, du kennst doch auch die Tochter von Lutz“, sprach
er ihn an. „Kannst du mir sagen, wie sie mit Vornamen heißt, mir ist es
entfallen.“ Und er fügte noch hinzu. „Ich entwickle gerade einige Bilder von
ihr und soll die Ausstellung nach ihr benennen. Sag, wie heißt sie.“
Der Bruder blieb, sichtlich unwillig, kurz stehen. Er schaute
sich um, ob sie jemand beobachtete. Dann brummte er nur, „kenn ich nicht, weiß
ich nicht“ und ging weiter. Er schloss sich wieder den andern aus seiner Klasse
an.
Wendy stand ratlos da. Wie ist das möglich?, fragte er sich. Weiß
wirklich niemand ihren Namen? Er ärgerte sich umso mehr, dass er selber ihn
vergessen hatte.
Wenn er unzufrieden und erfolglos war, ging Wendy gerne den
weiteren Weg über die Höhe nach Hause. Davor hatte er aber wieder die Stadt zu
durchqueren.
Als er zwischen den Stadtbauten an den Fuß des Berghangs kam, sah
er mehrere Menschen, die dort warteten. Von der Stadt aus ging es steil hoch.
Die Anstehenden ließen sich anseilen. Wie in einem Kletterpark ging es zu.
Als der Leiter der Unternehmung kam, blickte Wendy nach oben und
fragte, ob das die größte Steigung sei oder ob es noch exponiertere Stellen auf
dem Weg gebe.
Der Leiter schüttelte den Kopf und sagte.
„Nein, steiler wird’s nicht mehr.“
Dann werde ich ohne Absicherung gehen, sagte Wendy. Der Leiter
begleitete ihn eine Weile. Er trug Gummistiefel. Daran erkannte Wendy, dass er
ein Montagner war. Niemand sonst würde es wagen, auf einem Bergweg, auf dem
sich die Mehrheit der Wanderer mit dem Seil absicherte, in Gummistiefeln zu
gehen. MLF