Montag, 29. Oktober 2012

119 Wie lautet ihr Name



Wendys vierundzwanzigstes virtuelles Abenteuer

Wendy kam gut voran mit dem Entwickeln der Bilder. Es zeichneten sich einzelne Stränge von Themen ab. Aber noch fehlte ihm der Überblick gänzlich. Er hätte gerne mit der Tochter von Lutz gesprochen und ihr die eine oder andere Frage gestellt. Aber da sie in England weilte, würde er sie ja wohl schwerlich erreichen. Lutz hatte gesagt, die Ausstellung solle nach ihr benannt werden. …‘s Bilder. Aber er hatte sich ihren Vornamen nicht gemerkt.
Als er die Entwicklungsarbeit für diesen Tag beendete, suchte er beim Verlassen der Schule nach jemandem, den er nach ihrem Vornamen fragen konnte. Im Foyer befand sich niemand, also ging er nach draußen. Es war früher Nachmittag und eine schläfrige Stimmung hatte sich über den Pausenhof gelegt. Mittendrin stand ein Häuschen, das der Rezeption und wohl auch der Pausenaufsicht diente. Es hielten sich zwei Frauen in dem kleinen Gebäude auf und unterhielten sich gedämpft. Er trat vor das hochgeschobene Glasfenster. Aber sie plauderten weiter und schenkten ihm keine Beachtung. Wendy räusperte sich und sagte, dass er jetzt gehen werde.
Obwohl ihre Blicke eher abweisend waren – was geht das uns an, was tu hier treibst – stellte er doch die Frage, die ihn beschäftigte.
„Wie heißt eigentlich die Tochter von Lutz? Sie ist in England. Ich entwickle ihre Bilder. Ihr Vorname ist mir entfallen.“
Ohne einen Augenblick nachzudenken, schüttelten die beiden gleichzeitig den Kopf. „Wissen wir nicht.“
Eine Dickfelligkeit und Gleichgültigkeit schlug ihm entgegen, die er an dieser Schule nicht gewohnt war. Enttäuscht wandte er sich fort. Eine solche Haltung hatte er nicht erwartet.
Da fiel ihm ein, dass sein Bruder die Tochter von Lutz kennen musste. Der ging noch auf die öffentliche Schule. Diese lag gerade auf der anderen Seite der Stadt, ebenfalls auf einer Anhöhe. Also machte sich Wendy auf den Weg dorthin.

Das Schulgelände des Gymnasiums machte einen nüchterneren Eindruck, als das der Astoria-Schule. Der Pausenhof war leer, anscheinend steckte sein Bruder noch im Unterricht. Wendy ging zu den Kästen der Schüler, in denen sie ihre Materialien, wie Schulbücher, Lexika und Formelsammlungen, aber auch Kleider für den Sport und persönliche Dinge, aufbewahrten. Der schwarze Kasten seines Bruders war offen, aber er stöberte vergeblich nach einem Adressbuch oder einem Bild oder sonst einem Anhaltspunkt, der auf die Tochter von Lutz hinwies.
Wieder im Schulhof kam ihm eine Gruppe von Schülern in ihren lässigen Klamotten entgegen. Da wurde er sich erst seiner eigenen Kleidung bewusst. Er trug ein schwarzes Jackett, das ihm an diesem Ort sehr altmodisch vorkam. Da erschien schon sein Bruder.
„Hallo, ist der Unterricht zu Ende?“, fragte Wendy ihn.
Sein Bruder schaute ihn mit scheelem Blick an, als schämte er sich seiner. Wenn Wendy nicht auf ihn zugegangen wäre, hätte er ihn wahrscheinlich einfach stehen lassen. Er zeigte sich in seiner dumpfen, dickhäutigen Art, eine Seite an ihm, die Wendy gar nicht mochte. Er ließ sich aber nicht abschütteln.
„Du, sag mal, du kennst doch auch die Tochter von Lutz“, sprach er ihn an. „Kannst du mir sagen, wie sie mit Vornamen heißt, mir ist es entfallen.“ Und er fügte noch hinzu. „Ich entwickle gerade einige Bilder von ihr und soll die Ausstellung nach ihr benennen. Sag, wie heißt sie.“
Der Bruder blieb, sichtlich unwillig, kurz stehen. Er schaute sich um, ob sie jemand beobachtete. Dann brummte er nur, „kenn ich nicht, weiß ich nicht“ und ging weiter. Er schloss sich wieder den andern aus seiner Klasse an.
Wendy stand ratlos da. Wie ist das möglich?, fragte er sich. Weiß wirklich niemand ihren Namen? Er ärgerte sich umso mehr, dass er selber ihn vergessen hatte.
Wenn er unzufrieden und erfolglos war, ging Wendy gerne den weiteren Weg über die Höhe nach Hause. Davor hatte er aber wieder die Stadt zu durchqueren.

Als er zwischen den Stadtbauten an den Fuß des Berghangs kam, sah er mehrere Menschen, die dort warteten. Von der Stadt aus ging es steil hoch. Die Anstehenden ließen sich anseilen. Wie in einem Kletterpark ging es zu.
Als der Leiter der Unternehmung kam, blickte Wendy nach oben und fragte, ob das die größte Steigung sei oder ob es noch exponiertere Stellen auf dem Weg gebe.
Der Leiter schüttelte den Kopf und sagte.
„Nein, steiler wird’s nicht mehr.“
Dann werde ich ohne Absicherung gehen, sagte Wendy. Der Leiter begleitete ihn eine Weile. Er trug Gummistiefel. Daran erkannte Wendy, dass er ein Montagner war. Niemand sonst würde es wagen, auf einem Bergweg, auf dem sich die Mehrheit der Wanderer mit dem Seil absicherte, in Gummistiefeln zu gehen. MLF

Freitag, 26. Oktober 2012

118 Annas Bilder



Wendys dreiundzwanzigstes virtuelles Abenteuer

Wendy befand sich wieder an der Schule. Aber bevor ihn jemand zu was einspannen konnte, traf er auf Günther Lutz und seine Tochter. Lutz hielt an und sprach ihn an.
„Wendy, hallo, schön dich an der Schule zu sehen. Was treibst du hier?“
Wendy berichtete, dass Bea und Hiltja versuchten, ihn für den Werkunterricht zu gewinnen.
Da trat Lutz näher an ihn heran und sagte. „Das mit dem Unterricht haben sie doch bisher auch ohne dich hingekriegt. Wir haben hier etwas viel Wichtigeres, das uns niemand abnehmen will.“
Die Tochter von Lutz trug eine große Schachtel vor sich, über die ein Tuch gelegt war. Sie hob das Knie, um die eine Hand frei zu kriegen und legte das Tuch zur Seite. Die Schachtel war voller Negative.
„Zu welchem Thema?“, fragte Wendy.
„Mach mal, du wirst schon sehen“, sagte Lutz aufmunternd.
Wendy schüttelte den Kopf. „Neulich hat man mich zu einer Abendveranstaltung eingeladen. Dann hat sich herausgestellt, dass ich eine Werklehrerstelle annehmen soll. Ohne dass ich das Thema weiß, mach ich nichts. Wenn ihr es nicht verraten wollt, dann sucht euch jemand anderen.“
Lutz suchte noch nach einem Ausweg. Aber dann trat er ihm nahe und flüsterte. „Das Thema ist ‚Gnade‘“.
Wendy sah ihn verwundert an. Dann griff er wahllos ein Negativ heraus und hielt es gegen das Licht. Er sah die Umrisse eines nackten Mannes mit erigiertem Penis. Was für eine Verbindung, dachte er und wurde neugierig.
„Von wem stammen die Bilder?“, fragte er.
Ein Teil ist von mir, und ein Teil von einem Holländer, antwortete die Tochter.
Und warum entwickelst du sie nicht selber?, fragte Wendy.
„Sie zu entwickeln würde mich 200 Tage kosten, aber so viel Zeit habe ich leider nicht“, antwortete sie ehrlich.
Es ist eigentlich mehr ein zeitliches Problem, fiel Lutz ein. Meine Tochter wohnt nämlich in England.
Ah, dann ist sie hier nur zu Besuch, folgerte Wendy.
Er griff ein anderes Bild heraus und hatte einen seltsamen Vogel in der Hand, aufrecht gehend wie ein Mensch. Ein weiteres zeigte schwarze Schlangen um ein Loch in einem Sofa. Daneben Vögel, die versuchten an das Loch zu kommen. Was ist das?, fragte er Lutz und reichte ihm das Negativ.
Das sind Schlangen, die die Vögel beim Brüten hindern.
Wendy steckte das Negativ zurück.
Und die haben alle damit zu tun, was du gesagt hast? Wie war das nochmal? Gnade?
Die Tochter nickte.
Wendy überlegte, was dieses Wort genau bedeutete. Aber es fiel ihm auf die Schnelle nicht ein. Wie Makel und Skrupel war das ein Wort, das er schon oft gehört hatte, aber das sich nicht in seinem aktiven Wortschatz befand. Seinem Gefühl nach passten diese Worte nicht in diese Zeit.
Soll dieser Begriff im Titel der Ausstellung erscheinen?, fragte er skeptisch.
Nein, die soll einfach ‚… s Bilder‘ heißen.
Lutz hatte den Namen seiner Tochter genannt, der Wendy nicht mehr einfallen wollte.
Die Tochter führte Wendy ins Fotolabor der Schule. Sie zeigte ihm, wo die Flüssigkeiten standen. Sie erwies sich als umgänglicher Mensch. Ein rundes, glattes Gesicht, dunkelbraunes Haar und ein geheimnisvolles Lachen.
Wieder draußen bei Lutz, rieten ihm die beiden, in die Stadt zu gehen, um den Niederländer zu treffen.
Wo genau, wollte Wendy wissen.
Gegenüber der Kaufhalle. Er hat einen Stand mit Bildern.

Trotz des Gewusels fand er den Niederländer leicht. Er hatte seinen Stand an der meist frequentierten Stelle aufgestellt. Der Fotograf glich seinem Freund Ruben. Groß und bärig, wenn man sich einen Bär blond vorstellen konnte. Auch nicht rundlich, sondern kräftig und schlank. Der Niederländer war von Interessierten umringt. Halbakte und Akte von Männern und Frauen. Alle waren eindeutig homoerotischen Inhalts. Aber keine ganz einschlägigen, wie das mit dem aufgerichteten Phallus auf dem Negativ von Lutz‘ Tochter. Wie sagt mir das Auge, dass dieser Mann Männer liebt?, fragte sich Wendy. Er suchte nach weiblichen Anteilen im Gesicht. Selbst wenn er etwas entdeckte, war es nicht leicht, zu benennen was es war. Er war überzeugt, dass der Niederländer die Bilder genau nach diesem Kriterium zusammengestellt hatte.
Als der Niederländer frei war, ging er zu ihm hin und stellte sich vor.
Ich komme von Lutz‘ Tochter. Sie hat mir eine Kiste mit Negativen überreicht und hat gesagt, dass ein Teil von Ihnen stammte. Mich würde interessieren, wo Sie diese Bilder gemacht haben.
Der Niederländer antwortete flüchtig, wurde aber von einem Kunden abgelenkt, der den Preis eines der Bilder wissen wollte. Fünfzig Euro war die Antwort. Nicht gerade wenig, dachte Wendy und wunderte sich, dass der Kunde sich nicht über den Preis beschwerte. Während dieser das Geld hervorholte, stellte Wendy seine Frage nochmal. Er glaubte zu hören, ‚Northampton‘, hielt es aber für einen Irrtum, weil er den Namen einer holländischen Stadt erwartete, Northampton aber aus England kannte. Deshalb wiederholte er die Frage, sobald der Niederländer das Geld einkassiert hatte.
Entschuldigen Sie, aber wo haben Sie die Bilder aufgenommen?
Die Antwort schien wieder dieselbe zu sein. Northampton.
Einige der Umstehenden hatten seinem Fragen zugehört. Wendy wollte die Begegnung nicht mit einer unverstandenen Antwort enden lassen. Deshalb appellierte er an seine alpenländer Herkunft. Ihr Niederländer und wir Alpenländer verstehen uns gut. Wie sind nicht so … wie die hier Heimischen. Dabei machte er mit dem Arm eine zackige Bewegung, als wollte er ein Gewehr schultern. Deshalb verstehen wir uns so gut.
Die Umstehenden – die wohl Heimische waren – schauten ihn befremdet an. Wendy bedachte, dass er nach mehrmaligem Anlauf die Frage der Herkunft der Bilder nicht hatte klären können, sprach eigentlich nicht für eine gute Verständigung. MLF

Mittwoch, 24. Oktober 2012

117 Gärtnern für die Astoria-Schule



Wendys zweiundzwanzigstes virtuelles Abenteuer

Wendy wachte auf der Matratze von Enzo auf. Er hatte nicht bemerkt, wie dieser aufgestanden war. Als er fertig gefrühstückt hatte, kam Jella und teilte ihm mit, was für diesen Tag anstand. Nach dem Erlebnis in der Nacht, besann sich Wendy auf seine Verbindung zur Astoria-Schule. Ihm fiel ein, dass er vor kurzem einen Aufruf der Schule gesehen hatte, man möge den Eingangsbereich jäten. Als Jella wie üblich am Morgen ihm auftrug, was er zu tun hatte, ging er gar nicht darauf ein. Er hörte ihr nicht mal zu. Er zog sich alte Kleider an und teilte ihr mit, dass er vor der Astoria-Schule jäten werde. Jella zog sich erzürnt zurück.
Der Eingangsweg führte mit zwei Knicken u-förmig durch den Vorgarten zur Schule. Wenn ein Zugangsweg, den man täglich zu gehen hat, durch einen Garten verlängert wird, dann sollte dieser auch gepflegt werden. Deshalb wohl die dringende Bitte an Eltern und Freunde der Schule, man möge den Vorgarten pflegen.
Schon beim ersten Stück außen, gesellte sich die Gartenbau-Lehrerin zu ihm und unterstützte ihn. Er war froh, denn so genau kannte er sich mit den Pflanzen nicht aus. So konnte er fragen, wenn er unsicher war, ob es sich um eine Zierpflanze oder um Unkraut handelte. Sie schien seinen Einsatz sehr zu schätzen und sagte es auch.
„Dass Sie als Ehemaliger sich einsetzen, finde ich ja toll.“
„Und mich freut, dass Sie es annehmen können“, entgegnete Wendy.
„Ja, das ist ja selbstverständlich“, meinte sie.
„Hm, ich habe schon an anderen Orten zu helfen versucht. Da hat mein Engagement als Einmischung empfunden.“
Sie setzten ihre Arbeit beidseitig der mittleren Strecke, dem langen Boden der U-Form fort. Zwischendurch fand Wendy kleine Kostbarkeiten in der Erde. Er hob sie auf und sammelte sie in einer Höhlung an der Böschung beim letzten Abschnitt. Ab und zu gingen Eltern vorbei, die etwas in der Schule zu erledigen hatten oder ihre Kinder abholten. Dann entspann sich ein kurzes Gespräch zwischen der Gartenbau-Lehrerin und den Vorbeigehenden. Wendy war überrascht, wie gut die Gärtnerin die Kinder kannte. Zwischendurch kam Jella wieder.
„Bist du jetzt so weit?“, fragte sie ungeduldig. „Wir müssen jetzt unbedingt […]“
Aber Wendy blickte nur kurz auf und arbeitete weiter.
Jella spitz zur Gärtnerin. „Es gibt doch Eltern genug, die ihre Kinder hier an der Schule haben. Ist denn von denen niemand bereit diese Arbeit zu machen?“
Die Gärtnerin richtete sich auf und antwortete ruhig. „Ach, wissen Sie, wenn man Kinder in dem Alter hat, ist man belastet genug. Da sind nur wenige, die noch zusätzlich was leisten können.“
Jella stellte sich demonstrativ neben Wendy und wartete. Aber er verrichtete stur seine Arbeit und beachtete sie nicht. Da ging sie zornig davon.
Sie waren jetzt beim der letzten Strecke des U angelangt, aber es wurde schnell dunkel und Wendy spürte, sie würden an diesem Tag nicht den ganzen Eingangsbereich schaffen. Als einzelne Schüler vom Instrumentenunterricht nach Hause gingen, reizte es ihn den fleißigen Schülern je eines seiner Fundsachen zu schenken. Die meisten waren Süßigkeiten.
„Macht es was, dass sie aus der Erde sind?“, fragte er die Gärtnerin.
„Oh nein“, fand diese, „unsere Erde ist sauber. Geben Sie’s nur, die Schüler werden sich freuen.“
Und tatsächlich, die Schüler freuten sich sehr über die Kleinigkeit.
Beim Zusammenräumen stieß noch Bea, die Sekretärin, dazu. Sie fuhr den Schubkarren mit dem Unkraut zum Kompost und verräumte die Werkzeuge. Wendy hatte nur noch seine Hände zu waschen.

Am folgenden Mittag rief die Sekretärin an und lud Wendy zu einer Abendveranstaltung an der Astoria-Schule ein.
„Was ist es denn, Konzert, Theater, von Schülern oder ein Gastspiel?“, wünschte Wendy zu wissen.
Aber sie wollte es nicht verraten. „Wirst schon sehen. Lass dich einfach überraschen.“
Wendy war etwas knapp dran. Pinkeln musste er auch noch. Und wie immer, wenn er’s eilig hatte, wollte die Blase sich nicht lösen. Als es endlich so weit war, bemerkte er, dass er den Schlüssel fürs Mofa vergessen hatte. In der Werkstatt war Licht. Er stieß die Tür auf und fragte, ob er das Mofa in die Werkstatt stellen dürfe. Hiltja, der Werklehrer, winkte ihn herein. Als Wendy Helm und Jacke abgelegt hatte, trat der Werklehrer zu ihm und begann ihm die Arbeitsbereiche Bildhauern und Schreinern zu erklären. In welchen Klassenstufen, was unterrichtet wird, und welche Arbeiten den Schülern mehr und welche ihnen weniger gefallen. Es dauerte eine Weile bis Wendy begriff, dass er sein abendliches Eintreten als Interesse an einer Mitarbeit verstanden hatte. Ihm wurde ganz mulmig zu Mute. Diese handwerkliche Arbeit, wollte er die wieder aufnehmen? Warum eigentlich nicht. Nein doch nicht.
„Ich möchte es nicht grundsätzlich ausschließen“, sagte er schließlich, „aber erst muss ich mit Jella reden. Sie ist es, die ständig sagt, dass ich mir zu viel aufhalse. Als ich gestern im Eingangsbereich jätete, war sie gar nicht begeistert.“
„Versteh ich gut“, sagte Hiltja, „aber diese Arbeit hier ist ja was ganz anderes und sie wird bezahlt.“
Wendy versprach, ihm Bescheid zu geben und fragte schlussendlich, wo denn die Abendveranstaltung stattfinde?
Hiltja schüttelte den Kopf. „Abendveranstaltung heute? Weiß ich nichts von.“
„Aber Bea hat mich doch extra deswegen angerufen.“
„Was sollte es denn sein?“, fragte der Werklehrer.
„Hat sie mir nicht verraten. Eine Überraschung“, sagte sie.
„Komisch“, bemerkte Hiltja, „und mir hat sie gesagt, du wärst interessiert hier mitzuarbeiten.“
Da sagte Wendy nichts mehr.
Da er schon da war, sah er sich um. Er warf einen Blick in den Maschinenraum, der recht gut ausgestaltet war. Wieder im Bankraum öffnete er einen Schrank und fand ihn voller Lindenholzstücke. Er zog ein paar davon heraus. Das Holz war fein und sie waren gut getrocknet, aber insgesamt doch etwas klein. Habe ich wirklich den Nerv, die Schüler bei ihren Übungsarbeiten zu betreuen?, fragte er sich.
Hiltja nutzte die Zeit und räumte auf. Als Wendy sich verabschiedete, war er daran die Bilderhauer-Meißel zu schärfen. MLF

Freitag, 19. Oktober 2012

116 Fischers holen Doppelmatratze



Wendys einundzwanzigstes virtuelles Abenteuer

Als Wendy am nächsten Morgen die Aufzeichnungen nicht fand, ging er kleinmütig runter zur Mülltonne. Er lehnte sich draußen an die Tür und schaute, ob nicht jemand gerade vorbeiging und beobachtete, wie er etwas aus dem Restmüll holte. Bei der Tonne stehend hielt er ein zweites Mal inne und schaute zu den umliegenden Fenstern hoch. Kein Gesicht, kein Vorhang, der sich bewegte. Er hob den Deckel und zog mit Schwung das gerollte Paket heraus. In der Waschküche befreite er den Teppich von den Spuren des Mülls. Im Tageslicht erschien ihm der Wollstoff als sehr kostbar und die Farbe wirkte auf ihn wie ein tiefgründiges, geheimnisvolles Wasser. Mit einem Frottiertuch rubbelte er die Feuchtigkeit weg und trug den Stoff in sein Zimmer hoch. Als er ihn ausrollte, durchströmte ihn ein Glücksgefühl und es fiel ihm augenblicklich ein, wo der Text steckte. Er hatte ihn auf den Schrank geschoben. Wendy stand auf den Stuhl und spürte erleichtert die Blätter. Eines war sicher, dass er von jetzt an sein Arbeitszimmer immer abschließen würde.
In der folgenden Nacht – er lag noch im Arbeitszimmer auf der Isomatte – hörte er jemanden reden oben und vernahm dann ein Poltern im Treppenhaus. Er glaubte, es sei Enzo, der sauer war, dass er sich davongemacht hatte und erwartete, dass er gleich an seiner Tür rütteln würde. Doch das Poltern setzte sich fort auf der Treppe nach unten. Da musste jemand etwas Schweres abwärts schleppen. Dann wurde die Haustüre geöffnet. Da raffte sich Wendy auf und stieg, noch immer schlaftrunken, zu Enzo hoch.
Enzo lag auf einer einfachen Matratze. Die Doppelmatratze war weg. Er brummte etwas wie. „Das ist ja das letzte, dass die mitten in der Nacht kommen.“ Aber er schien schon wieder zu schlafen. Jemand hatte die breite Matratze geholt.
Wendy überlegte auf Hochtouren. Von wem hatten sie die doppelte Matratze erhalten? Wer könnte sie wieder geholt haben? Da fiel es ihm ein, wie Anna Fischer, einige Wochen nach der Übergabe der Schlüssel, ihn angerufen hatte, sie hätten eine nicht ganz neue, aber qualitativ sehr hochwertige Doppelmatratze zu verschenken. Es konnte nur einer von Fischers sein, der sie geholt hatte. Das Ding war so schwer, dass er es die Treppe hatte runterrutschen lassen. Das war das Geräusch, das Wendy gehört hatte. Wahrscheinlich war es Annas Bruder. Er wollte ihn wenigstens kurz sprechen. Vielleicht brauchten sie sie ja nur für kurz. Wendy rannte die Treppen hinunter und wäre schier hingefallen, weil er noch schlafentrunken war. Als er an die Tür kam, hörte er drüben auf dem Platz ein Fahrzeug, ein Dieselmotor, wohl ein Transporter. Er rannte vor zum Platz. Vielleicht wendete der von Fischers ja noch. Aber der Platz war leer. Und er war verwandelt.
Der Platz war von alten Gebäuden aus  gelbbraunen Steinen umfasst. Mittelalterlich mutete die Stadt an. Gegenüber wölbte sich die Mauer einer Kirche oder eines Klosters wie ein ungeheures Bollwerk. Es war kalt. Wendy steckte im Schlafanzug. Mit nackten Füßen stand er auf dem kalten Pflaster. Ein eisiger Wind trieb Eisnadeln über den Platz und in den Weg zu ihrem Haus, das ebenso alt war wie die anderen. Bis dahin hatte Wendy geglaubt, dass Fischers die Matratze überraschend gebraucht hatten, für Asylsuchende etwa, die in Not steckten. Doch langsam wurde ihm bewusst, woher dieser eisige Wind kam. Obwohl die virtuelle Welt sich gerne hinter Rätseln versteckte, lag sie oftmals nah bei der Wahrheit. Ihm wurde jetzt klar, wer hinter dieser nächtlichen Aktion stand. Die ewig Mittelalterlichen hatten Fischers unter Druck gesetzt, hatten von ihnen verlangt, Wendy und Enzo die Doppelmatratze wieder zu entziehen. Da waren sie bei ihm aber an den Falschen geraten. Kämpferischer Mut erwachte in ihm. Er hielt den Kopf schräg und schüttelte die Faust. Wie ein Held aus einem Bergmann-Film schrie er gegen den eisigen Wind an. Ihr werdet uns nicht kleinkriegen, Ihr Ewiggestrigen. MLF