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Donnerstag, 14. Juni 2012

67 Das Rätsel

Das Rätsel, das Ruben ausgesucht hatte, war ein Vorfall, der sich vor kurzem in einem Arbeiterviertel ereignet hatte, im Einflussgebiet der Firma Scheffler. Ein Brand, der auf einer quadratischen Fläche mehrere Dutzend Häuser zerstört hatte. Inzwischen ging man davon aus, dass nach exakter Planung ein Karree von sieben mal sieben Häusern abgebrannt worden war. Als die Feuerwehr kam, konnte sie nicht mehr ins Innere dieses Karrees eindringen. Bei der Summe an Hausbränden hatte sich eine solche Hitze entwickelt, dass selbst die Schutzanzüge nicht standhielten. Bei einem Löschfahrzeug, dessen Fahrer es dennoch versucht hatte, schmolzen die Schläuche und die Reifen. Es war danach unbrauchbar. Alles was die Schutzleute tun konnten, war zu verhindern, dass das Flammenmeer sich auf den weiteren Umkreis der Siedlung ausdehnte. Außer den Tollkühnen in dem einen Löschfahrzeug, die leichte Brandverletzungen erlitten hatten, waren keine Menschen zu Schaden gekommen. Das wurde als großes Glück gesehen. Dieser Umstand hat die Behörden aber auch misstrauisch gestimmt. Handelte es sich um einen unfasslichen Zufall, verursacht zum Beispiel durch beschädigte Gasleitungen? Oder war es eine geplante Brandstiftung? Eines einzelnen? Von mehreren? Oder gar vom Kollektiv der dort Wohnenden? Dieser Fall fand Ruben, könnte Rätsels genug sein, um als Frage seine Arbeit auf eine neue Ebene zu heben. Er glaubte, diesem Vorfall nachgehen zu müssen, um seinen Grabungen eine Richtung zu geben. Im Laufe seiner Arbeit war er auf verschiedene Hinweise gestoßen.
Toni hatte staunend der Mitteilung von Jasmus zugehört, der wie Mili mit halbgeschlossenen Augen berichtete und den Eindruck machte, als würden sich Bilder vor seinem inneren Auge abspielen, von dem Viertel im Vorzustand, während des Brandes und danach mit den verkohlten Überresten.
„Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche“, meldete sich Toni zu Wort.
Jasmus schaute ihn verwundert an, als sei er aus wichtigen Überlegungen aufgeschreckt worden.
„Haben Sie gerade gesagt, dass Ruben bei seinen Grabungen Hinweise auf den Brand fand?“
Jasmus schaute ihn an und nickte.
„Wie soll ich mir das erklären?“, fragte Toni ungläubig.
„Rubens Grabungen stehen in Beziehung zu verschiedenen Vorfällen, die im näheren oder weiteren Umfeld stattfinden“, erklärte er.
„Außerhalb des Grabungsortes?“, fragte Toni.
„Sie müssen bedenken, dass viele Künstler durch Grabungen zu ihren Ergebnissen kommen“, betonte Jasmus. „Denken sie nur an den berühmten Stefan König, der die Entstehung seiner schockierenden Geschichten, als das Freilegen eines Fossils beschreibt. Wenn ich es ganz befreit habe, ist mein Werk fertig, sagt er sinngemäß. Im Unterschied zu ihm gräbt unser Künstler nach Fleisch, nach lebendigem Fleisch im Boden.“
Toni verstand nicht genau, was Jasmus damit ausdrücken wollte. Aber er mochte auch nicht nachfragen. Schon als Mili damals beschrieb, wie Ruben mit seinen Helfern Fleisch freilegte und daraus die Raupensegmente bildete, hatte er passen müssen. Künstler leben in einer anderen Welt, hatte er sich gesagt. Man kann sie nie ganz verstehen.
„Ruben hat bei seinen Grabungen entdeckt, dass ein gewisser Bodo vor kurzem in dieses Viertel gezogen ist“, fuhr Jasmus fort. „Zu einem Freund, dessen Haus, wie sich herausstellte, genau in der Mitte dieses Karrees aus sieben mal sieben Häusern gestanden hatte. Merkwürdig nicht?“
„Geradezu unfasslich“, stieß Toni hervor und wiegte den Kopf. Er stutzte kurz, wegen dem Namen, Bodo, machte sich aber keine weiteren Gedanken.
„Ich musste Ruben zustimmen, dieser Vorfall war ein wirksames Rätsel, um in die Mitte seiner Arbeit gestellt zu werden“, sagte Jasmus. „Dramatischer Vorfall, keinerlei Hinweise, die Behörden bei der Aufdeckung überfordert, Versicherungen weigern sich zu zahlen, bevor der Fall nicht restlos aufgedeckt sei.“
Auf der Straße war ein ziemlicher Lärm. Der Gastgeber stand auf und schloss das Fenster. Wieder im Sessel sitzend, fuhr er fort.
„Obwohl ich nicht gerade der Freund von Todschlag, Unglücken und Naturkatastrophen bin, musste ich in Anbetracht, dass das Interesse der Zeitungen an Rubens Grabungen mehr als bescheiden war, zustimmen. Dieser Aufhänger könnte uns helfen, mehr Aufmerksamkeit für seine große Arbeit zu gewinnen.“
„Setzt zwar alles in ein etwas düsteres Licht“, bemerkte Toni, „aber Neugierde kann damit bestimmt geweckt werden. – Wie geht es denn den Leuten? Werden die Häuser schon wieder aufgebaut?“
„Ach keine Spur – das kann noch lange dauern.“
„Oh je“, rief Toni, „was für eine Not für die Betroffenen.“
„Ich habe nicht den Eindruck, dass sie in Not sind“, entgegnete Jasmus. „Neulich war ich mit Ruben dort. Sie wohnen in Notunterkünften, wie man sie aus den Katastrophengebieten kennt. Die Stimmung ist eine ganz andere, als man sie aus solchen Arbeitervierteln kennt.“ Er beugte sich vor. „Einer der Bewohner hat zu mir gesagt. Ein neues Leben. Das ist ein Glück für mich.“
Toni: „Was haben Sie und Ruben bisher zur Aufklärung unternommen?“
Auf Jasmus‘ Stirn bildeten sich Furchen. Ihm schien gar, dass sich Schweißperlen zeigten. Er berichtete weiter.
Da er sich für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig fühlte, hatte er sich einer Gruppe von Krimi-Schreibern angeschlossen. Sie bildeten eine Orchestergruppe und musizierten gemeinsam. Letzte Woche war er dort gewesen. Jasmus legte die flachen Hände vor seinen Augen. Er war schon mit schlechtem Gefühl hingegangen. Aber es erwies sich als noch viel schlimmer, als er befürchtet hatte. Er stand auf und erläuterte. „Der Raum war etwa doppelt so groß wie dieser. Hier in der Mitte saßen die Meister. Soweit ich sehen konnte, alles Journalisten, die nebenher dem Krimi-Schreiben frönen. Sie spielten die ersten Geigen, die Bratschen, Cellos, Trompeten und Pauken. Ich hatte meine Querflöte dabei. Aber dafür hatten sie keine Verwendung und drückten mir einen Triangel in die Hand. Damit saß ich am Rand unter den Hobbyschreibern. Kling, kling, kling. Heute Morgen hat mich Ruben daran erinnert, dass wieder Dienstag ist. Ich habe ihm deutlich gesagt, dass ich mir die Triangel nicht nochmal antun werde.“
Toni schaute ihn fragend an.
Ruben habe gebrummt, wie immer, wenn ihm etwas nicht gefalle, berichtete er weiter. Er, Jasmus, habe ihm gesagt, er solle seine Funde nach weiteren Hinweisen zu den Vorfällen in diesem Viertel durchforsten. Das werde eine Weile dauern. Wie er, Toni, wohl wisse, seien diese ziemlich umfassend. AS

Mittwoch, 13. Juni 2012

66 Toni auf eigenen Beinen

Er war nachts nicht aufgewacht. Zwar spürte er am Morgen, dass sie bei ihm gelegen hatte, aber sie hatte ihn nicht geweckt.
„Du bist angekommen in dem ovalen Raum“
 Das musste sie als letztes in sein Ohr geflüstert haben. Diese Worte waren ihm so präsent, als stünden sie in Leuchtschrift mitten im Raum. Er wälzte sich im Bett und war in großer Versuchung, sich die nächtliche Vereinigung, die stattgefunden haben musste, in allen Details vorzustellen. Aber dann fasste er sich. Wenn sie mich nicht geweckt hat, dann gibt es dafür einen Grund. Sie will, dass ich mich löse – keinen Zweifel. Die Betonung auf der ‚Ankunft im ovalen Raum‘ verdeutlichte dies. Hatte sie nicht schon früher darauf hingewiesen, dass er selbstständig werden müsse? – Hatte sie das? – Womöglich – Wahrscheinlich! Er war nur zu beschäftigt gewesen damit, ihren Geschichten zu lauschen und sie auszuformulieren und hatte solche Winke übersehen. Er war gar nicht auf die Idee gekommen, dass er eines Tages selber Geschichten zu erzählen habe.
Eine Vermutung kam im mit einem Mal, die er bis dahin noch nicht erwogen hatte. Vielleicht hatte sie ja von Anfang an das Ziel verfolgt, ihn zum Geschichten-Schreiben anzuregen und hatte gar nicht wirklich einen eigenen Blog gewünscht.
Wenn sie angestrebt hatte, ihn zum Schreiben zu verleiten, so war ihr das wohl gelungen. Ja, er musste weitermachen. Er konnte gar nicht sein, ohne täglich eine Geschichte zu erleben. Doch was sollte er berichten, wenn er von ihr keine Erzählung mehr erhielt? Er spürte, dass er völlig leer war, weiß wie ein leeres Blatt, nicht ein Wölkchen irgendwo am Himmel, das er hätte beschreiben können. Ihre Geschichten dagegen, die waren ihm mehr als gegenwärtig. Ständig fragte er sich, was wohl aus Jasmus geworden sei? Wo steckte René? Wie ging es Bodo mit seinem Enrico?
Hauptsächlich aber war er mit seinen Gedanken bei Jasmus und Ruben. Zuletzt hatte er von dem nächtlichen Treffen bei Jasmus erfahren. Tamura hatte ihnen die Arbeitsweise eines japanischen Komponisten anhand seines Werkes ‚Der Norwegerin Lächeln‘ vorgestellt. Er hatte ihnen erklärte, dass der Komponist einem Rätsel zu folgen versuchte, so entstünden seine Werke. Wie ein Detektiv einen Mordfall aufdeckt. Ruben hatte sich beeindruckt gezeigt. Ob er aber die Kraft gehabt hatte, dadurch seine Arbeit in eine neue Phase zu leiten?, das wusste Toni nicht. Die zwei andern Beteiligten in der Gaststätte, Amwald und Holzstock, hatten sich ja skeptisch gezeigt. Nicht ganz zu unrecht, wie Toni schien. Die Methode eines anderen Künstlers zu übernehmen, konnte in die Irre führen. Sich einen großen Künstler zum Vorbild zu nehmen, konnte sogar gefährlich werden. Weil man am eigenen Wert zu zweifeln begann. Wie mochte das ausgegangen sein?
Mili hatte ihm viel berichtet. Aber für sein Gefühl waren die Mitteilungen nie vollständig genug gewesen. Vielleicht waren ihr die Sachverhalte klar und nur er begriff sie nicht oder es interessierte sie manche Details nicht wie ihn. Toni gestand sich ein, so fasziniert er von ihren Geschichten gewesen war, sie hatten ihn doch immer latent unzufrieden gelassen.
Aus dieser Unzufriedenheit spürte er jetzt einen Vorsatz wachsen: Ich muss selber mit diesen Menschen in Berührung kommen.
Da war sofort die Frage. Sie hatte sie doch nicht nur erfunden? – Nein, das konnte nicht sein!
Es kam auf eine Probe an. Doch wo anfangen? –
Bei Ruben und Jasmus! Naheliegend war zur Halle von Ruben zu gehen. Ein hundertzehn Meter langes Ding, irgendwo am Rand der Stadt musste doch leicht zu finden sein. Aber er wusste noch einen leichteren Weg. Von der Beschreibung von Jasmus‘ Haus hatte er ein ziemlich genaues Bild. Er meinte sogar den Transporter gesehen zu haben, der für einige Tage zwischen lauter PKWs vor einem mehrstöckigen Haus nicht weit vom Stadtzentrum gestanden hatte.
Toni raffte sich auf. Er wickelte seinen Schlafsack ein und ging durch den schmalen Schiffsflur zum Waschraum. Man hatte ihn angewiesen, Wasser zu sparen. Also wusch er sich mit dem Lappen von der Stirn und den Ohren, bis zur Fußsohle und den Zehenspitzen. Pfeiffend verließ er das Schiffsdeck und steuerte auf ein Stehcafé zu.

Er betrachtete das Gebäude hinter dem Parkplatz näher, auf dem er damals den Transporter gesehen hatte. Die Luft war mild, mal schien die Sonne, dann versteckte sie sich wieder hinter luftigen Wolken. Nach Milis Beschreibung hatte der Buchhändler sich verpflichtet, den Laster vor das Haus zu stellen. Und Jasmus hatte den LKW vom Fenster aus gesehen. Nach diesen Aussagen kam nur das Gebäude direkt dahinter in Frage. Es war ein moderner, fünfstöckiger Wohnblock, in einem angenehmen Beigeton, allerdings von senkrechten Wasserspuren versehrt. Er durchquerte den Grasstreifen und ging zur Tür und prüfte die Klingelschilder. Tatsächlich, im dritten Feld von unten stand Jasmus … und zwei darüber, ganz oben, Gila …. Sein Herz pochte laut.
Dann waren das also keine Fantasiefiguren, sondern leibhaftige Personen. Zumindest im Fall Jasmus. Aber woher wusste Mili von ihnen? Sie war für ihn noch immer ein großes Rätsel, obwohl er das Glück gehabt hatte, ihr fünfundsechzig Tage lang beizuwohnen. Er fasste sich und drückte auf die Klingel. Sekunden, die nicht enden wollten, bis eine helle, ziemlich elegante Stimme,
„Ja, bitte?“, sagte.
Jetzt stand Toni vor einem Problem. Wie sollte er sich vorstellen? Dass er sich das nicht vorher gefragt und sich entsprechend vorbereitet hatte! Er kannte Jasmus auf geheimnisvollem Weg. Jasmus konnte ihn unmöglich kennen. Er musste doch misstrauisch werden, wenn er von einer Mili anfinge, einer Frau im Fischkleid, die er im Bad eines stillgelegten Grand Hotels in einem Bündner Kurort kennengelernt hatte. In seiner Verlegenheit sagte er.
„Sie arbeiten doch mit dem Künstler Ruben zusammen? Ich hätte Ihnen gerne ein paar Fragen gestellt.“
Der Summton erklang. Toni drückte gegen die Tür. Diese sprang mit einem metallischen Geräusch auf und er trat in ein kühles Treppenhaus. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn, als könnte er nicht richtig unterscheiden, zwischen Wirklichkeit und Fantasie. Er wagte nicht in den Aufzug einzusteigen, aus Angst in eine irreale Ebene zu geraten, aus der er nicht mehr herausfinden würde. Auf jede Stufe trat er kräftig auf. Jasmus, falls er oben vor der Tür wartete, musste ihn für einen Trampel halten.
Ein Mann Mitte Dreißig, schmales Gesicht, krause, kastanienbraune Haare, lächelte ihm zu und bat ihn herein. Von hinten wirkte er groß. Er war elegant gekleidet, leichte Sachen, Jeans, farbiges Hemd. Beim Umdrehen fiel ihm eine schön geschwungene, glänzende Schnalle am Gurt auf.
„Nehmen sie doch bitte Platz“, lud ihn Jasmus ein und wies aufs Sofa.
Die Wohnung war nicht klein, für eine einzelne Person. Polstergarnitur. Im Hintergrund eine Küchenecke mit Theke. Zwei Türen, die abgingen, wohl das Bad und das Schlafzimmer. Dem Fenster gegenüber an der Wand, Bücherregale und ein Schreibtisch mit Computer.
Toni wies zum Fenster und fragte, „darf ich?“
Der Gastgeber nickte.
Er sah nach unten. Dort in der Reihe der PKWs musste der Laster gestanden haben. Genauso hatte er sich den Blick vorgestellt. Davon aber durfte er Jasmus nichts sagen. Sonst würde der Verdacht aufkommen, er sei beschattet worden. Die Arbeit von Ruben, darauf musste er sich beschränken. Er setzte sich und ließ sich ein Glas Wasser einschenken.
„Sie interessieren sich für die Arbeit des Künstlers Ruben?“, fragte Jasmus.
Toni nickte.
„Das freut mich“, bemerkte Jasmus, aber seine Stimme klang gespannt. „Vorab würde mich interessieren, wie es kommt, dass Sie mich privat aufsuchen. Soweit ich mich erinnere habe ich als Kontaktadresse ausschließlich das Büro in der Halle angegeben. Alles was Rubens Arbeit betrifft, läuft über die Werkstraße.“
Toni checkte, dass er einen Fehler begangen hatte. Er hätte die Halle suchen, notfalls Jasmus vom Haus aus folgen müssen. Aber das war nicht so leicht ohne Wagen. Jetzt war er schon hier. Er könnte sich auf einen Bekannten berufen, der ihn persönlich kannte. Aber das war ihm zu wenig, er wollte Jasmus wissen lassen, dass er Einblick in die aktuelle Situation hatte. Er räusperte sich.
„Man hört, dass Ruben vor einer neuen Phase steht und sich dabei womöglich an dem japanischen Künstler, der ‚Jimmy ging zum Regenbogen‘ komponiert hat, orientieren will. Der, wie es heißt in seinen Arbeiten einer ungelösten Frage folgt. Hat unser Künstler vor, einen ähnlichen Weg einzuschlagen? Wenn ja, welche Frage hat er sich gestellt?“
Jasmus Gesicht verriet deutlich die Überraschung. Es kam Toni so vor, als würde er ihn jetzt ganz anders ansehen. Auf diese Frage war er jedenfalls nicht vorbereitet.
Aber er fasste sich und begann mit dem Wohlklang eines Radiosprechers.
„Ja, tatsächlich, er hat diesen Weg eingeschlagen, aber es traten unerwartete Hindernisse auf…“ AS

Mittwoch, 23. Mai 2012

55 Die Kompositionen des Japaners

Als Toni nachts aufwachte, erkannte er Mili im Halbdunkel. Sie kam auf ihn zu und zog ihn an sich. Sie vereinigten sich voller Lust. Anschließend erzählte Mili ihre Geschichte. AS

Am Morgen geriet er in Auseinandersetzung mit Ruben, der in unveränderter Form weitergrub und das aufgespürte Fleisch in ein weiteres Segment des riesigen raupenartigen Körpers verwandelte – das fünfundfünfzigste.
„Ich hab‘s dir gesagt, das ist die letzte Erweiterung der Halle gewesen“, rief Jasmus in die Grube hinab. „Wenn du willst, kannst du jenseits dieser Wand im Freien fortfahren, von mir aus auch wieder ein Zelt aufstellen, aber die Halle bleibt wie sie ist.“
Ruben wurde sichtlich nervös, aber er unterbrach seine Arbeit nicht. Es war eine richtige Sucht. Jasmus hatte ihn ja auch zu Freunden sagen hören, ‚wenn ich nicht täglich mein Raupensegment bilden kann, fühle ich mich nicht gut‘.
Er lehnte sich an einen Pfosten der Außenwand und stützte den Arm auf den Querbalken. Wie könnte ich Ruben helfen, die Arbeit in eine neue Phase überzuführen?, fragte er sich. Wenn er bei der Arbeit war, konnte man ihn nicht ansprechen. Er musste ihn mal in einer freien Minute erwischen. Jasmus löste sich von der Wand. An das Loch tretend rief er: „Draußen im Freien – die Halle wird nicht mehr erweitert! Ist das klar?“
Die Antwort war ein Brummen.
Auf dem Heimweg ging er in einen Laden. Er lief zwischen den Regalen und konnte sich nicht konzentrieren. Möglichst heute Abend sollte ich mit Ruben reden, sagte er sich. Am besten einen Freund mitnehmen. Und Ruben in Ruhe auf die nötige Verwandlung ansprechen. Aber das ging nicht, diesen Abend hatte er etwas anderes vor. Er füllte den Einkaufskorb, bezahlte und fuhr nach Hause.
Zuerst versorgte er die Blumen. Dann setzte er sich in der Küche an die Theke.
Er hatte für diesen Abend die Freunde von der Reisegruppe zu einem Abschiedstreffen im Restaurant Kreuz eingeladen. Dies hatte er organisiert, nachdem er vorige Woche Gila im Treppenhaus getroffen hatte.
„Na, wie sieht’s aus, Gila?“, hatte er sie gefragt. „Bald mal wieder Lust auf eine Reise?“
Sie gefror gleichsam. Auch wenn sie stumm geblieben wäre, hätte er doch Bescheid gewusst. „Keine Fahrten mehr“, sagte sie knapp und wiegte den Kopf.
„Wieso denn?“, bohrte er nach.
„Diese Übersetzungen vom Englischen ins Französische, du kannst dir das nicht vorstellen. Das sind zwei völlig andere Welten. Es ist, als müsstest du, was eine Amsel flötet einem Hasen verständlich machen.“
„Schade“, hatte er geantwortet.
Nachher hatte er an derselben Stelle gesessen wie jetzt. Und hatte sich überlegt: Wenn Gila nicht mehr reisen wollte, machte es für ihn auch keinen Sinn mehr, an den Treffen teilzunehmen, bei denen die Reisen besprochen wurden. Komischerweise war er eher erleichtert als bedrückt. Manches störte ihn inzwischen an dieser Gruppe. Jeder bevorzugte das Land, in dem er zuletzt gereist war. Man versuchte, die andern zu den gleichen Fahrten zu animieren. Es war nicht mehr ein Austausch über ganz unterschiedliche Reisen. Ihm ging es ja im Grunde genauso. Mit seiner Begeisterung für Japan hatte er die andern nie erreichen können. Trotzdem musste er dem Abschied eine gewisse Form geben. Deshalb entschloss er sich, die Freunde ins Restaurant Kreuz zu einem Abschiedstreffen einzuladen.
Mit bei der Feier war Tamura, ein Japaner. Als Jasmus ihn kennenlernte, hatte er ihm von ihren Reisen nach Nippon erzählt. Seither waren sie befreundet. Als sie im Gasthof gegen später nur noch zu viert waren, bat er Tamura eine Komposition seines liebsten japanischen Musikers aufzulegen. Tamura hatte das Werk ‚Der Norwegerin Lächeln‘ dabei. Sie beide lauschten dieser großartigen Komposition. Jeder Abschnitt war ein Klangwunder. Keine Misstöne, keine Unstimmigkeiten, trotz der großen Komplexität.
Während sich Jasmus mit Tamura austauschte, spürte er, wie die beiden aus der Gruppe, Amwald und Holzstock sie misstrauisch betrachteten. Er spürte Eifersucht. Das verstand er nicht. Sie mussten doch diese Musik auch schätzen.
„Wie alt ist diese Komposition?“, fragte er Tamura.
Dieser lehnte sich zurück und überlegte. „‚Der Norwegerin Lächeln‘ hat er vor fünfundzwanzig Jahren komponiert. ‚Jimmy ging über den Regenbogen‘ ist vor zehn Jahren entstanden.“
Jasmus konnte sich an dieser Musik nicht satt hören.
Amwald und Holzstock fragten, was das sei. Da antwortete er, dieses Stück sei fünfundzwanzig Jahre alt und der gleiche habe ‚Jimmy ging über den Regenbogen‘ komponiert. Er überlegte. Diese Werke verkauften sich auch heute noch. Gewiss konnte der Komponist gut davon leben.
Irgendwie kam Jasmus auf Ruben zu sprechen. „Dieser Komponist hat was, das Ruben fehlt“, sagte er.
„Wer ist Ruben?“, fragte Tamura.
„Hab ich dir noch nicht von ihm erzählt?“, fragte Jasmus. „Der Künstler, der diese große Ausgrabung macht. Ich baue für ihn die Halle.“ Er überlegte kurz, ob er davon sprechen sollte, aber dann brach es aus ihm raus. „Wir haben uns heute Morgen gestritten. Ich habe ihm bei der letzten Erweiterung gesagt, dass es die letzte sei. Die Halle hat jetzt eine Länge von hundertzehn Meter. Kannst du dir das vorstellen? – Hundertzehn Meter.
Tamura schaute ihn an, ohne zu antworten.
Jasmus fuhr fort. „Es ist ja faszinierend, was er in seiner unermüdlichen Art zum Vorschein bringt. Aber mir scheint, je mehr es wird, umso abschreckender wird sein Projekt für die Journalisten. Sie schauen schon gar nicht mehr hin, was er ans Licht befördert, sondern nennen nur noch die Superlative und sagen, ein Verrückter sei am Werk, ein Künstler im Schaffensrausch – ohne Sinn und Verstand. Das Schlimmste ist, sie haben nicht ganz Unrecht.“
Plötzlich hatte Jasmus eine Idee. „Wir könnten Ruben anrufen.“ Er schaute auf die Uhr. „Schon zwölf. Vielleicht geht er doch noch dran. Probieren wir’s.“
Er nahm sein Handy, blätterte und wählte.
„Hallo Ruben.“
Durch den Hörer war eine tiefe Stimme zu vernehmen. Jasmus schwieg eine Weile. Dann sagte er. „Höre Ruben, ich hab hier einen Freund, einen Japaner. Ein Kenner der Musik dieses Japaners, von dem ich dir schon erzählt habe. Hast du nicht Lust, dich noch etwas zu uns zu gesellen. Er hat CDs dabei. Wir brechen jetzt hier im Restaurant Kreuz auf und werden gleich bei mir zu Hause sein.“ Wieder trat eine längere Pause ein. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst aufhören.“ Und nach einer Pause. „Also bis gleich.“
„Er kommt“, sagte Jasmus zu Tamura. „Erst war er nicht begeistert. Seine Stimme klang dunkel. Wohl hatte er zwei, drei Bier getrunken. Er müsse morgen früh an die Arbeit. Das hab ich ihm gleich mal ausgeredet. – Vielleicht können wir ihn dazu anhalten, in eine neue Arbeitsphase zu treten.“
Ruben war ebenso begeistert von dieser Musik wie sie beide. Trotz der schweren Lidern und der noch schwereren Zunge, blitzten seine Augen. „Ich habe da eine Idee“, sagte er und lachte in sich hinein. Vielleicht lassen sich diesem Raupenungetüm ja ein paar Schmetterlinge entzaubern.“ MLF

Donnerstag, 10. Mai 2012

49 Dunkel im Haupthaus

So leicht lässt sich Toni nicht mehr an der Nase herumführen. Er hat an Mili schon so viele Verwandlungskünste erlebt, dass er sie sofort durch jede Verkleidung hindurch erkennt. Nur diesmal liegt ganz eindeutig eine Farbige neben ihm. Schwarz wie die Nacht hebt sie sich vom weißen Leintuch ab. Sie liegt von ihm abgewandt. Er folgt mit den Augen den vollkommenen Konturen des Beckens, der Taille und der Schulter. Das pechschwarze Haar ist gewellt. Wie diese schwarzen Sklavinnen, denkt er, um die er die Sultane in den Geschichten immer beneidet hat, mehr als um ihre Schatzkammern (Das eine mochte mit dem anderen etwas zu tun haben). Während er noch überlegt, wie er die Exotin auf sich aufmerksam machen könnte, erwacht die Schönheit und dreht sich ihm langsam zu.
„Mili“, ruft er verblüfft. Sie lächelt triumphierend. Die Überraschung ist gelungen. Er ist sprachlos und fällt ihr in die Arme.
Nach dem Liebesspiel tupft er ihr mit einem Tuch die Schweißperlen von der glänzenden Haut. Sie bettet sich hoch und beginnt mit ernstem Gesichtsausdruck ihre Geschichte zu erzählen. AS
 
Er lädt Freunde ein und kocht zu Abend für sie. Er macht es schnell, Spaghetti mit Sauce und Mischgemüse. Zum Essen geh‘n sie rüber ins zweite Haus, in den Pavillon im Garten, der etwas höher liegt. Da sitzen sie um den großen Tisch vereint. Thema sind in dieser Runde die Reisen. Als Jasmus an der Reihe ist, berichtet er, was ihm mit Gila zugestoßen ist.
Die Freunde, alle sehr belesen, muntern ihn auf. „Ach was, das geht vorüber. Meine Fahrerin hat mal ein ganzes Jahr gestreikt.“ „Meine ist eine Zeit lang immer eingeschlafen. Dann mussten wir mittendrin anhalten.“ „Vielleicht hat sie ja nur ihre Tage gehabt.“
So ne blöde Bemerkung, denkt Jasmus, aber er ist trotzdem erleichtert. Da klingelt das Telefon. Die Vermieterin ist am Apparat. Wegen der Stimmen versteht er nicht recht. „Seid doch mal etwas leiser“, bittet er seine Gäste. Durchs Telefon hört er.
„Die andere Partei ist dagegen, dass getafelt wird.“
„Wieso?“, fragt er verwundert.
„Sie behaupten, nicht informiert worden zu sein.“
„Stimmt. Aber das hat mir auch niemand gesagt, dass ich das müsse. Ich kenne sie ja nicht mal“, sagt Jasmus und kann seine Verstimmung nicht ganz verbergen.  
„Ich wollt’s nur gesagt haben“, bemerkt die Vermieterin versöhnlich und legt auf.  
Er guckt befremdet auf das Mobilteil, als könnte es ihm weitere Auskünfte geben. Muss ich jetzt die Vermieter fragen, wenn ich hier ein paar Gleichgesinnte einlade?, fragt er sich verärgert. Die können mich mal!
Sammy steht neben ihm, der sich den fremden Ländern mit Vorliebe durch Kochbücher nähert. „Du, sag mal, wie hast du die Sauce gemacht?“
„Wie soll ich sie gemacht haben?“
„Kann es sein, dass du Pelatis aus der Dose verwendet hast?“
Jasmus verstummt. Es gibt die Regel, dass alles frisch sein soll, wenn sie sich treffen. Unwillig stößt er hervor. „Ich hab schnell gemacht, damit wir viel Zeit zum Reden haben.“
Er hört nachher wie Samy zu Lisa sagt: „Ja, er hat. Das wusst ich doch. Da kann man mich nicht täuschen.“ Jasmus spürt den enttäuschten Blick von Lisa.
Da scheint mal wieder eins zum anderen zu kommen. Ist doch wichtig, im Haupthaus nachzuschauen, sagt er sich. Vielleicht sind diese anderen Vermieter ja gekommen. Besser er sucht das Gespräch.
Im Haupthaus ist es dunkel. Nanu, eben hat noch das Licht gebrannt. Er tastet sich zum Schalter vor, tippt ihn an, nichts ändert sich. Er will es wissen und geht behutsam durch die Stube in den Flur. Auch da geht das Licht nicht an. Vage ahnt er, die haben im Keller den Sicherungsschalter gekippt. In der Küchenschublade findet er die Taschenlampe, öffnet die Kellertür. Schließt sie aber wieder. Nein, er geht jetzt nicht da runter.
Als er wieder am großen Tisch sitzt, sind zwei Reisen Thema, die er beide nicht gemacht hat. Die eine in die neuen Staaten des ehemaligen Jugoslawien. Das ist für ihn eine weiße Fläche auf der Landkarte. Er weiß nicht mal wie die Sprachen heißen. Kroatisch, klar. Aber Bosnisch, gibt es die? Die andere Reise ins aufstrebende China. Wenn man den Berichtenden glauben will, herrschen dort Zustände wie in Europa zur Zeit der Industrialisierung. Er sitzt stumm dabei. Ohne Gila ist er aufgeschmissen. Dann kommt er nirgends mehr hin. Eigentlich kann er dann auch die Teilnahme an diesen Treffen lassen. Nur zuhören mag er nicht. Er will mitreden, aber dazu muss man informiert sein.
Mit der Begründung eines Kurzschlusses im Haupthaus bittet er die Gäste, für den Nachhauseweg die Gartentür zu nehmen. Jasmus entscheidet sich dafür, ohne Licht ins Bett zu gehen.
Als er am nächsten Morgen aufsteht, brennt sowohl in der Stube, als auch im Flur das Licht. Wieder alles normal. Er hat es fast vermutet. Wenn wieder so ein Konflikt auftritt, brauch ich nur den Morgen abwarten. Dann ist alles wieder beim Alten, sagt er sich beruhigt.
Doch die nächste Reiserunde bei ihm wird im Herbst sein. Sie werden am Tisch in der Stube sitzen. Was ist, wenn dann das Licht ausgeht? Soll er Kerzen aufstellen? Was denken die Freunde, wenn bei ihm jedesmal, wenn sie kommen, Stromausfall ist? Besser ist es das Gespräch zu suchen. Diesen Wunsch teilt er seiner Vermieterin mit.

Tage später sieht er sie, die andere Partei. Die Vermieterin hat ihn in ihr Büro in einem modernen Gebäude an der Fußgängerzone gerufen. Sie tritt ans Fenster und winkt ihn zu sich. Sie blicken auf das bunte Gewusel einer beliebten Einkaufsstraße hinunter.
 „Dort ist sie, bei der Akazie.“
„Wer?“
„Die Vermieterin.“
„Aber die ist doch schwarz.“
Sie nickt.
Komisch. Schwarze kennt er eher als Sozialhilfe-Empfänger, denn als Vermieter. Und noch etwas irritiert ihn. Die schwarze Frau dort unten sieht seiner Bekannten, Heidi, sehr ähnlich. Er hat Heidi immer für den Inbegriff einer Einheimischen gehalten. Von ihrer Gestalt und ihrem Wesen her erinnert sie ihn an ein Freiberger Pferd. Eines jener kräftigen Zugpferde, mit breitem Kopf, stämmigen Beinen und den typischen Haarbüscheln hinter jedem Fuß. Bieder, gradlinig, von nicht zu dämpfender Schaffenskraft.
Die Frau, die er da unten sieht, ist wie Heidi, aber sie ist schwarz. Es ist ihm, wie wenn er von einem zweiteiligen Katalog zum ersten Mal die andere Hälfte aufgeschlagen hätte.
„Ist wohl am besten, wenn ich um einen Termin bei ihr bitte und mal mit ihr spreche, finden Sie nicht?“
Die Vermieterin macht einen überraschten Eindruck. „Kennen Sie sich aus im Wald?“, fragt sie.
„Im Wald? Warum? Wohnt sie im Wald?“
Sie nickt. „Ja, ihre Siedlung ist im Wald.“
Jasmus fragt nicht weiter. Das sind etwas zu viele Neuigkeiten, die da auf ihn einstürmen, hat er plötzlich den Eindruck. Vielleicht sollte er doch erst mal den Mietvertrag lesen, vor allem das Kleingedruckte. Wenn er das nur nicht so hassen würde. MLF

Mittwoch, 9. Mai 2012

48 Das Muschelbäumchen

Auf der Kommode seitlich des Fußendes seines Bettes hatte Toni seine Heiligtümer drapiert. Ein ovaler Stein, den er wie ein präpariertes Ei auf die Spitze stellen konnte und der ihm half, der Schwerkraft ein Schnippchen zu schlagen. Eine Erdkugel aus Kristall, die den Kundigen befähigte, in die Vergangenheit und in die Zukunft zu schauen. Ein Modell der großen Pyramide mit eingelassener Grabkammer im richtigen Maßstab und noch weitere Kostbarkeiten. Um die Schätze auch richtig zu würdigen, hängte er einen Strahler von der Decke und richtete den Schein auf diese. Den ganzen Abend hatte er sich daran ergötzt. War dann aber eingeschlafen. Als er nachts aufwachte fingen die im Licht stehenden zauberhaften Gegenstände seinen Blick und er war ganz verzückt. Als plötzlich ein Wimmern ihn aufschreckte. Neben ihm saß eine Gestalt unter einer schwarzen Hülle. Erst erschrak er, dann ärgerte er sich, denn die kläglichen Laute passten gar nicht zu seiner ekstatischen Stimmung. Es verstrich eine Weile, bis Toni begriff, dass Mili darunter stecken musste.
„Was soll der Schabernack“, rief er aufgebracht und zog an der Decke. Aber sie ließ sie nicht los. Er versuchte es nicht weiter, denn er wusste wohl, wer von ihnen beiden stärker war. Etwas musste Mili stören. Womöglich das Licht? Er stand auf und zog den Stecker. Tatsächlich ließ sie nun die Decke fallen und zeigte sich in ihrer Schönheit. Aber ihr holdes Gesicht hatte nicht den strahlenden Ausdruck, den er kannte. Mili streckte ihm die schwarze Decke entgegen und deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung der Kommode.
Zögernd trug er die Decke dorthin. „Was soll ich damit?“, fragte er widerstrebend.
Ihre Geste war eindeutig: Zudecken!
Also breitete Toni den dicken Teppich über seine gekauften Schätze. Es blieb nichts als ein dumpfes Auf und Ab. Er konnte es kaum fassen.
Aber als er sich Mili zuwandte und sie nun strahlen sah, da vergaß er augenblicklich seinen Verlust. Er stieg zu ihr ins Bett und sie liebten sich mit großer Wonne.
Anschließend bettete sich Mili etwas höher und erzählte… AS

Von der Buchhandlung aus geht er zu Ruben. Als er um fünf zurück ist, wärmt er sich die andere Hälfte der Quiche auf, die er am Vortag gebacken hat und rührt einen Salat an. Zum Essen setzt er sich aufs Sofa. Jasmus ist gespannt auf diese ominöse Ausstellung von Pedro, dem Brasilianer. Er richtet sich auf, isst ein paar Gabeln Salat, steckt sich einen Happen von der Quiche in den Mund und kehrt in Gedanken nach Spanien zurück, wo er Pedro vor vielen Jahren zufällig getroffen hat.
Pedro hatte sich dem einfachen Leben zugewandt und hütete Schafe. Bei dieser einfachen Tätigkeit ereilte ihn der Ruf. Eine Zigeunerin versprach ihm einen geheimen Schatz, wenn er zu den Pyramiden reisen würde. Jasmus begleitete Pedro nach Marokko, wo dieser eine Zeit lang in einem Laden Kristallgläser verkaufte. Dann schlossen sie sich einer Expedition an, durch die Wüste. Der Fund am Ziel erwies sich als Flop und Pedro kehrte zu seiner Mutter nach Spanien zurück - arm aber happy wie Hans im Glück.
Obwohl er eine halbe Stunde früher ankommt, ist der Saal schon gut gefüllt. Es ist tatsächlich Pedro aus Brasilien. Nach vorne gehen und ihn begrüßen, will er nicht. Viele Menschen haben Reisen mit Pedro unternommen. Jasmus ist sich bewusst, dass er als Bekannter Pedros einer von vielen ist.
Der Vortrag hat zwei Schwerpunkte, die Reise ins Aleph-Gebirge und die Fossilien. Es dauert eine Weile bis Jasmus dem Bericht folgen kann. Er hat das Aleph-Gebirge irgendwo in Südamerika angesiedelt oder im Himalaya. Aber Pedro steigt mit seinem Gefolge in Moskau in die Transsib und fährt bis Wladiwostok. Es geht eine Weile bis er akzeptieren kann, dass das Gebirge an dieser Strecke liegen muss. Pedro hat es aber auch immer mit den beschwerlichen Wegen, denkt er. Damals die Wüstendurchquerung, auf der sie viele Grenzsituationen durchstehen mussten und jetzt das Gegenteil, Eis statt Sonnenglut.
Dass es im Hochgebirge Fossilien zu finden gibt, ist für Jasmus nichts Neues. Er hat sich oft gewundert, wenn er oberhalb der Vegetationsgrenze unterwegs war, wie viele Funde man in einer steilen Berghalde machen konnte. Das hatte mit den Umwälzungen im Zuge der Gebirgsbildung zu tun. Da wurde das Unterste ganz nach oben getragen.
Pedro verbindet mit den Funden im Aleph-Gebirge aber etwas Besonderes. Das wird im Laufe des ersten Teils der Lesung deutlich. Bilder ausgewählter Fossilien werden auf die Leinwand projiziert. Anhand von diesen Funden erklärt Pedro, dass diese ihm Ausschnitte aus seinem eigenen früheren Leben vor Augen führen. Das bringt ihn dazu, sein Leben nicht als isoliertes, einmaliges Ereignis zu sehen, sondern als Teil einer unbegrenzten Folge. Er setzt die Fundstücke zueinander in Beziehung und zieht daraus Schlussfolgerungen für sein jetziges Leben.
Die Fundstücke, die Pedro präsentiert, sind so lebendig, so plastisch, dass Jasmus ganz neidisch wird. Das Glück, solche Funde zu machen, ist ihm bisher nicht zugefallen. Gespannt hört er zu, um Auskunft zu erhalten, wo sich das Aleph-Gebirge befindet. Da muss ich auch hin, sagt er sich. Und wenn Gila nicht mitgeht, dann reis ich eben auf eigene Faust.
Pause. Pedro hat sich zurückgezogen, um Kraft für den zweiten Teil der Lesung zu schöpfen. Auf dem Tisch vorne an der Wand steht ein Bäumchen. Von der Sitzreihe aus hat er es für eine Bonsai-Pflanze gehalten. Bei der genaueren Betrachtung fällt ihm auf, dass es kein Grün trägt. Der Stamm und die Äste bestehen aus Korallen. Für die Blätter hat man mehrheitlich flache Muscheln und für die Früchte spiralige Schnecken verwendet. Er staunt über die Fertigkeit mit der dieses filigrane Gebilde zusammengekittet worden ist.
Im zweiten Teil geht die Reise mit der Transsib weiter. Berichte von den vielen Zwischenhalten, auf denen Pedro seinen unzähligen Freunden begegnet, die er auch in diesem Teil der Welt hat. Und dann der entscheidende Aufstieg ins Aleph-Gebirge. Bilder werden eingeblendet, wie Pedro und sein Begleiter auf einem steilen Grat in dünner Luft auf einen ganz besonderen Fund stoßen. Ein Bäumchen mit Ästen, die im Laufe verschiedener Epochen gewachsen ist. Als Jasmus erkennt, dass es sich um das Gebilde handelt, das er vorne auf dem Tisch bestaunt hat, nickt er unwillkürlich.
Der letzte Teil des Vortrags ist der Erklärung gewidmet, wie das Bäumchen entstanden sei. Eine schuldhafte Tat in weit zurückliegender Zeit hat den Stamm gebildet, mit dem sich die Schicksale der Geschädigten als Äste verbunden haben. Mit den verschiedenen Leben ist der Baum weiter gewachsen.
Nach dem Vortrag reiht sich Jasmus in die Schlange der Zuhörer ein, die Pedro die Hand drücken und mit ihm ein paar persönliche Worte tauschen wollen. Pedro erkennt ihn. Als er dran ist, steht er auf und sie umarmen sich kurz. Jasmus flüstert ihm die Frage zu: „Aber das Bäumchen hast du doch nicht so gefunden? Du hast es doch aus den Fundstücken verleimt, nicht wahr?“
„Doch ich habe es so gefunden. Genau so stand es auf dem Grat.“
Der nächste drängt hinter ihm. Jasmus gibt seinen großen Bekannten wieder frei und geht weiter.
Betreten läuft er nach Hause. Fossilien sind halt doch nicht mein Ding, denkt er. Eine Stimme sagt ihm, es tut dir nicht gut, wenn du dich zu viel mit Totem beschäftigst. Und so schlägt er sich den Vorsatz, das Aleph-Gebirge aufzusuchen, wieder aus dem Kopf. MLF