Donnerstag, 29. November 2012

129 Triebe aus den Fingerbeeren



Wendys vierunddreißigstes virtuelles Abenteuer

Über den Weg, der direkt zum Berghaus Adler hochführte, erreichte Wendy einige Tage später die Berghöhe. Zwei einflussreiche Personen erwarteten ihn, als er die letzten Stufen hochstieg. Sven Nova, ein bekannter Künstler und Gerda Urban eine Gelehrte, die Vorsitzende der Bildungskonferenz. Sie wiesen auf seine Plastik, die draußen auf dem Boden lag. Wendy sah erschrocken darauf. Sie sah aus wie ein langer Wurm und wirkte sehr unansehnlich.
In unserem Berghaus hat eine solche Arbeit nichts zu suchen, befand die Gelehrte streng. Der coole Künstler trat sogar darauf und sagte. Die ist nicht nur unpassend, sondern auch unansehnlich.
Wendy wehrte sich. „Das Berghaus wird von den Montagnern unterhalten, es steht allen offen. Warum sollte ich meine Erfahrungen nicht präsentieren dürfen?“
Doch sein Einwand trug ihm nur abschätzige Blicke ein. Seine Plastik sah nach der schlechten Behandlung so unansehnlich aus, dass er selber fand, es sei besser sie zu beseitigen. Einer, der in seinem bürgerlichen Beruf Kaminfeger war, kam mit einer Motorsäge. Er verhielt sich Wendy gegenüber feindlich, und gab ihm mit dem Schwert der Säge zu verstehen, dass er aus dem Weg gehen solle. Dabei berührte er die Spitze des Zeigefingers. Wäre die Kette schon gelaufen, hätte er ihm den Finger zerfetzt. Dieses gewalttätige Vorgehen bewirkte in Wendy einen Gesinnungswandel. Er herrschte den Mann mit der Säge an.
„Machen Sie, dass Sie fortkommen. Das ist meine Plastik. Ich alleine entscheide, was mit ihr geschieht.“ Er scheuchte den verdutzten Kaminfeger fort. Dann besorgte er sich eine Kartonschachtel und legte seine Pappmaché-Figur hinein. Er ging damit zum Verlies, zu dieser Vertiefung im Fels, in der das lange Boot steckte. Hinten in der Wand waren Stahlsprossen in der Wand. Über diese stieg er hinab und legte seine Kiste in den Schatten des Bootes, so dass sie von oben nicht zu sehen war. Wenn die Zeit kommt, dass jemand das Boot heraushebt, wird man auch meine Plastik entdecken. Diejenigen, die wissen, dass ein Boot nicht in ein Verlies gehört, werden auch meine Arbeit zu würdigen wissen.
Wie er durch diese Arbeit zu einem Außenseiter geworden war, wurde ihm erst klar, als er in das Berghaus Adler ging, um sich zu stärken. Er blieb alleine am Tisch, niemand setzte sich zu ihm. Und als er nachher durch den Saal ging, zu schauen, ob da etwa noch ein Stück seiner Plastik liege, wurde er von einem Bekannten aus der Stadt in wüster Weise angepöbelt.
„Du glaubst wohl, mit deinen verrückten Einfällen hier Aufsehen erregen zu können“, blökte er ihn an. „Geh doch dahin, wo du hergekommen bist, auf dein Dorf. Hier hast du nichts verloren.“
Wendy wollte diesem Streit nicht aus dem Weg gehen. Ihm lag auf der Zunge zu sagen. Die schlimmsten Dörfler haben sich in der Stadt verschanzt. Aber er spürte plötzlich wie an seinen Fingerbeeren etwas ausschlug. Es waren Triebe wie bei den Kartoffeln. Um sie vor dem Städter zu verbergen, rieb er sie sich schnell weg. Aber sie kamen immer wieder, an allen Fingerkuppen gleichzeitig. Da bemerkte der Städter es doch. Schnell verließ Wendy den Saal. Er strebte zur Felswand neben dem Verlies, wo sich ein Waschbecken befand. In der kurzen Zeit bis dorthin, waren die Keime schon mehrere Zentimeter gewachsen. Beim Waschbecken hielt sich ein jugendliches Pärchen auf. Als er zum Wasser drängte, warf ihm die junge Frau einen giftigen Blick zu. Widerwillig machten sie Platz. Endlich. Das fließende Wasser stoppte das Keimen und der starke Reiz in den Fingerbeeren ließ nach.
Einer der Montagner, die für das Berghaus sorgten, schaute ihm über den Rücken. Seine Stimme klang voller Mitgefühl.
„Du musst sie verstehen, sie können nicht anders. Sie haben eine Allergie gegen Hitler und seine Leute.
Wendy wischte sich die Hände ab und drehte sich um. Die bloße Anwesenheit des Montagners beruhigte ihn schon. Er bemerkte.
„Aber das sollte sie nicht dazu verleiten, sich blind zu stellen.“
Der Montagner wies auf das Boot und sagte. „Ja, das scheinen sie zu sein.“ MLF

Dienstag, 27. November 2012

128 Apricot-farbener Schutzhelm und Frauenhandschuhe



Wendys dreiunddreißigstes virtuelles Abenteuer

Langsam ging es voran bergwärts. Schrittweise stiegen sie vor ins Hochgebirge. Noch ein letzter Aufstieg bis zur Hochfläche. Linkerhand ragte eine senkrechte Felswand empor. In der Gruppe hieß es. „Klettern wird nötig sein.“ Aber da war die Rede von Touren oben vom Berghaus aus.
Eine ungewöhnliche Sicht tat sich auf, als sie die Hochfläche erreichten. Es war, als hätten sie durch ein großes Treppenhaus ein flaches Dach erreicht, das sich endlos ausbreitete. Aber näher oder ferner war die Hochebene von dunklen Felsen und weißen Riesen umfasst.
Oben angekommen rüsteten sich die Teilnehmer mit apricot-farbenen Schutzhelmen aus, wie man sie (in Gelb) auf Baustellen trug. Nur Elmar und Wendy waren noch barhäuptig. Wendy wunderte sich, in Anbetracht der ebenen Fläche, auf der sie sich befanden. Aber er wusste ja nicht, welche Tour sie sich vorgenommen hatten. Ein Helm war übrig geblieben. Mitten in dieser archaischen Landschaft stand ein Trittbrett aus Metall. Elmar wurde eingeladen sich darauf zu stellen. Für seine Arbeit, für die er den Zeitco-Preis gewonnen hatte, wurde ihm der freie Helm überreicht. Er nahm das Kunststoffding entgegen und ließ es an seiner Hand baumeln.
Wendy, der immer etwas patzig wurde, wenn andere in seiner Anwesenheit geehrt wurden, fuhr ihn an. „Jetzt musst ihn aber auch aufsetzen.“
Widerstrebend setzte Elmar den Bauhelm auf den Kopf. Einer der alten Hasen half ihm beim Festziehen des Bändels unter dem Kinn.
Und ich selber?, fragte sich Wendy. Einen Helm wollte er nicht aufsetzen, aber Handschuhe hätte er mitbringen sollen. Schon bald würden sie wohl ins Eis geraten. An den Händen war er empfindlich. Um die anderen auf der bevorstehenden Tour nicht zu behindern, musste er sich Handschuhe besorgen.
Da wo sie hochgekommen waren, gab es die einzigen Bäume weit und breit. Eine Allee aus niedrigen Birken. An einem der Bäume entdeckte er einen Korb vom Format eines Schirmständers. Er ging zu diesem Korb hin.
„Was suchst du denn?“, wurde er von den andern gefragt.
„Handschuhe“, gab er zur Antwort und bückte sich über den hohen Korb.
„Du kannst auch in der Hütte schauen, da haben sie immer welche“, wurde ihm geraten.
Aber Wendy wurde fündig. Zwischen kleinen Reisigbesen stieß er auf ein Paar schöne Fellhandschuhe. Es waren Damenhandschuhe. Beim Herausnehmen knackte es. Er sah Federn und Eierschalen im Innern. Ein Vogel musste darin gebrütet haben. Wendy hob sie an den Fingerenden und klopfte sie aus. Er schlüpfte hinein. Sie passten wie für ihn modelliert.

Im Gänseschritt ging es über die karge Fläche vor zu einem geräumigen Berghaus, das den sprechenden Namen, Adlerhorst hatte. Von einer weiterführenden Tour war erstmal nicht die Rede. Das kam Wendy gelegen, denn er hatte ja die Absicht, den im Berghaus Anwesenden sein Erlebnis vorzustellen. Er zog sich in einen Nebenraum zurück und fing an, mangels anderer Materialien, seine Erlebnisse aus Zeitungspapier und Kleister in Pappmaché zu modellieren. Er hatte sich alles schön durchdrungen vorgestellt. Die Bootsfahrt, das Gedränge in der Kleinstadt, die Bilder in der Synagoge, der Wall, die Neustadtstraße, der Auszug – diesen bemalte er in düsteren Farben – die Husaren und schließlich der Elefant mit dem Reiter und die Autoachse, die in seiner Darstellung nur wie eine Hantel wirkte. Er rang zäh mit der Gestaltung seines Erlebnisses, aber was herauskam, war ein langer Wurm in sehr unterschiedlichen Farben.
Im Saal der Herberge Adlerhorst gab es einen Tisch bei der Bühne. Hier stellte er seine Pappmaché-Plastik aus und schrieb darunter. Während der Bootsfahrt, Besuch des Städtchens, Synagoge voller Bilder, Auszug eines Trosses von Armen, Ankunft der Autoachse. W.N.
Die andern aus der Gruppe sahen sich die Arbeit an. Aber von niemandem kam eine Reaktion. Das hatte er nicht anders erwartet. Aber er hoffte, dass jemand hier vorbeikam, der vielleicht etwas Ähnliches erlebt hatte. Der Einfluss hatte und seine Arbeit lobte.
Beim Aufbruch zur Rückkehr machte er draußen eine Entdeckung, die ihn wenig optimistisch stimmte. Vor einer Felswand gegenüber dem Berghaus sah er eine Spitze dem Boden ragen, die wie ein kleines Dach wirkte. Als er näher ging, entdeckte er ein Verlies von mehreren Metern Tiefe. In diesem Felsloch steckte ein Boot, das so lang war, dass es oben noch herausragte. Wie er dieses gefangene Boot sah, erinnerte er sich daran, dass sein Erlebnis ja mit einer Bootsfahrt begonnen hatte. Da sank unvermittelt seine Zuversicht, dass man seine Arbeit annehmen würde. Aber die Hoffnung blieb, die rechte Person werde kommen und auf den Wert seiner Arbeit hinweisen. MLF

Freitag, 23. November 2012

127 Autoachse per Elefant



Wendys zweiunddreißigstes virtuelles Abenteuer



Es fing mit einer Bootsfahrt an.

Als Wendy mit Bea an den Fluss kam und die Boote darin sah, machte er seiner Begleiterin zum Vorwurf.

„Du hättest mich doch schon öfter mit einem solchen fahren lassen können.“

Bea reagierte gedämpft. Als fürchtete sie, dass ihm daraus Schwierigkeiten entstehen könnten.

Durch ein weites Feld waren sie auf einen Flussabschnitt gestoßen, der außerhalb der Stadt lag. Hinter dem Fluss breitete sich dichter Wald aus. Etwas oberhalb von ihnen war eine Schnelle. Als Wendy dies sah, mochte er sich nicht mehr zurückhalten. Ohne zu fragen, nahm er eines der Boote, zog es an Land und schleifte es durch das Gras aufwärts bis er oberhalb der Flussschnelle an ruhiges Wasser kam. Dort schob er das Boot hinein. Er bat seine Begleiterin mit einzusteigen. Sie schien unschlüssig und stieg dann doch nicht dazu.



Es war später Nachmittag. Wendy schob sich durch das Gedränge einer Kleinstadt. Er war zu beschäftigt, sich einen Weg zu bahnen, um festzustellen, dass er an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit gelandet war. Ein eleganter, wendiger Mann gesellte sich zu ihm. Der schien bemerkt zu haben, dass er hier fremd war. Er ging voran und bahnte ihm den Weg.

„Kommen Sie“, sagte er, „ich will Ihnen etwas zeigen.“

Hinter dem Fremden her war das Fortkommen spürbar leichter. Sie gelangten auf einen Platz des Städtchens. Hier war das Gedränge nicht mehr so groß. Wendy bewunderte die altertümliche Bauweise der Häuser und sah den unebenen Boden aus vielfach geflicktem Kopfsteinpflaster. Sein Begleiter hielt vor einem Gebäude, dessen Türen offen standen. Wendy erkannte, dass es eine Synagoge war.

„Treten Sie ein, ich möchte Ihnen unsere Synagoge zeigen“, sagte der elegante Begleiter.

Wendy trat näher und sah von außen auf die Wände des gewölbten Vorraumes. Sie waren über und über mit Bildern ausgelegt. Dieser Bilderreichtum erinnerte ihn, dass er schon immer mal gerne eine Synagoge aufgesucht hätte. Aber es war als zöge das Wasser des Stromes ihn weiter. Er lehnte dankend ab.

„Nicht jetzt, ein anderes Mal gerne“, sagte er und bedankte sich bei seinem Begleiter für das Angebot.

Fast wehmütig lief er weiter, hinaus aus dem heimeligen Städtchen.



Nur wenige Meter dahinter, getrennt durch einen Wall, lief eine Vorortsstraße auswärts, gesäumt von eher nüchtern anmutenden Neubauten. Auf einem leicht ansteigenden, asphaltierten Vorplatz hatten sich Menschen aufgestellt und blickten auf die Straße. Aus ihrem Verhalten schloss Wendy, dass hier demnächst eine Parade oder ein Umzug stattfinden würde. Er war gespannt, was es hier zu sehen geben würde. Er verspürte das Bedürfnis sich zu setzen. Aber die Stühle lagen am Boden. Mit viel Mühe gelang es ihm die Metallbeine eines Stuhles gerade zu richten, so dass er sich setzen konnte. Aber just in dem Moment kam Bea, seine Begleiterin, daher. Er wunderte sich, sie konnte doch nicht mitten in der Fahrt in sein Boot gestiegen sein? Wahrscheinlich war sie in einem eigenen Boot unterwegs. Sie setzte sich auf seinen Stuhl und er hatte mit einem weiteren die Mühe ihn zum Stehen zu bringen. Kaum dass er saß, begann der Umzug.

Wie sich herausstellte, war es kein Umzug, sondern ein Auszug. Ein riesiger Tross armseliger, verlumpter Menschen, mit Handwagen und Ochsenkarren schoben sich durch die Straße. Das war kein schöner Anblick, vielmehr ein Bild schrecklicher Armut. Menschen in Massen, stöhnend, weinend, gebeugt unter der Last ihrer ärmlichen Habe, die sie in altmodischen Koffern oder in Tüchern auf dem Rücken trugen. Ein endloser Tross der Armut zog vor ihren Augen fort. Oben auf einem Wagen lag ein großer, flacher Korb. Der hatte sich quergestellt und drohte runter zu fallen. Wendy rannte hin und richtete ihn gerade. Von der Bäuerin, die die Ochsen führte, erhielt er ein.

„Gott dank Ihnen, Sie sind ein guter Mensch.“

Den Husaren auf den Pferden dahinter, die den Tross antrieben, schien seine Einmischung nicht zu gefallen. Zu seiner Verwunderung herrschte ihn einer mit seinem Namen an.

„Wendy, was hast du hier verloren. Was hältst du hier Maulaffen feil, du Schwätzer, du Besserwisser“, beschimpft er ihn.

Wendy drehte sich erstaunt zu seiner Begleiterin um. Woher kennt der mich, wollte er fragen.

Aber seine Aufmerksamkeit wurde von etwas anderem angezogen. Von etwas, das weit hinter dem Tross und hinter dem Städtchen sich zeigte. Er sah in der Ferne einen Elefanten, der vorbeijagte. Auf dem Elefant saß ein Reiter. Der schien es sehr eilig zu haben. Das Tier rannte nicht wie ein Elefant rennt, sondern bewegte sich im Galopp. Und noch etwas stach Wendy in die Augen. Der Reiter trug in seiner Faust eine Autoachse. Die Richtung, in der Reiter und Elefant strebten, war eindeutig. Dort hinten auf der Anhöhe lag Liechtenstein. Zur Autowerkstätte in Liechtenstein jagten sie hin.

Wendy war von diesem Anblick so gefesselt, dass er Bea außer Acht gelassen hatte. Jetzt wandte er sich ihr zu.

„Hast du das gesehen?“, rief er.

„Nein, was?“, fragte sie.

„Den Reiter, den Elefanten.“

Sie wiegte den Kopf hin und her.

„Stell dir vor, da hinten im Feld jagt ein riesiger Elefant im Galopp wie ein Pferd vorbei. Der Reiter hält in seiner Pranke die Achse eines Autos.“

Sie hörte ihm gebannt zu. Es war nicht zu übersehen, dass sie stolz war auf seine Scharfsichtigkeit.

„Das musst du in den Bergen melden, das müssen die dort oben erfahren“, sagte sie und schien nach einer Möglichkeit zu suchen, wie sich ihre Empfehlung umsetzen ließe. Nach einer Weile sagte sie. „Du kennst doch Thomas, der den Preis der Zeitcos für die beste Arbeit in Ulmenholz gewonnen hat.“

Wendy nickte.

„Er wird morgen geehrt, dort oben. Du könntest dich zu der Gruppe gesellen, die hochgeht. Dann lernst du schon mal die Örtlichkeit kennen.“

Wendy war einverstanden. „Ja, wenn die mir erlauben mitzugehen, so schließe ich mich gerne an.“

Mit ihrem letzten Satz allerdings dämpfte sie seine erwartungsvolle Stimmung. „Die Hoffnung, dass sie wahrnehmen, was du hier erfahren hast, ist nicht groß. Aber probieren solltest du’s.“ MLF

Mittwoch, 21. November 2012

126 Tag der offenen Moschee



Wendys einunddreißigstes virtuelles Abenteuer

Ein Engländer war zu Besuch bei ihm. Wendy erzählte ihm, dass er gerne mal das muslimische Zentrum besichtigen würde. Er berichtete, wie er damals, als er mit dem Zug in der Stadt angekommen war, von der Überführung aus einen großen Komplex aus unterschiedlichen, grünen Gebäudeteilen gesehen hatte. Sie erschienen ihm wie ineinander gefügte, rechteckige Zelte. Und dass ihn diese Gebäudeeinheit, die er für ein muslimisches Zentrum gehalten, angesprochen hatte.
Also, worauf wartest du, sagte der Engländer, jetzt sind die interkulturellen Wochen, die Moschee ist zur Besichtigung offen. Sie gingen zusammen los. Aber der Engländer ging einen Umweg und er lief immer schneller, so dass Wendy nicht mehr mithalten konnte. Wäre ich nur meinen eigenen Weg gegangen, sagte er sich. Er lief weiter, bis er an den Rand des Stadtzentrums zurückkam. Hier arbeitete Pius, ein Bekannter von ihm, in einem Lokal mit sozialer Ausrichtung.
Wendy trat ein, bestellte ein Getränk und zog dazu Paranüsse aus der Tasche und legte sie auf den Tresen. Er bot Pius von den Nüssen an und berichtete ihm, dass er die Moschee besuchen wolle. Aber Pius wich erschrocken zurück und machte ein Gesicht, als hielte er ihn für einen Abtrünnigen.
„Was ist?“, fragte Wendy neckend, „hast du Angst, dass ich nach dem Besuch zum Islam konvertieren werde?“
„Mit solchen Dingen sollte man nicht spaßen“, entgegnete Pius ernst. „Du weißt, dass die Muslime ihren Propheten und Kriegsführer mehr verehren als den Erlöser.“
Wendy überlegte, ob er Pius von seinem Abenteuer vom Vortag berichten sollte, aber er ließ es lieber bleiben. Er zahlte das Getränk und packte die restlichen Paranüsse wieder ein.

An der Stelle, wo er damals den großen Komplex in verschiedenen Grüntönen gesehen hatte, standen jetzt moderne Stadtgebäude. Aber er sah eine Tafel ‚Interkulturelle Woche‘, die nach rechts hoch wies. Er folgte dieser Straße und stieß schon bald auf die Moschee der Stadt. Von außen ein eher nüchterner Bau. Die Tür war angelehnt, er konnte eintreten.
Im Vorraum zog er die Schuhe aus und drückte dann die Tür zum Gebetsraum auf. Ein großer, von einer Kuppel überdachter Raum, nahm ihn in Empfang. Es schien nicht, als hätte die offene Tür viele Menschen angezogen. Drei, vier Neugierige drehten sich nach ihm um. Von den Muslimen schien sich niemand für diesen Anlass von der Familie trennen zu wollen. Wendy stellte sich an das Pult des Vorlesers und fand den Koran aufgeschlagen. Zweisprachig. Er las ein paar Zeilen und blätterte dann weiter.
Die andern Besucher waren in den nach hinten angrenzenden Raum entschwunden. Er erinnerte sich, draußen im Vorraum ein Schild gesehen zu haben. ‚Muslimische Kunst und Gebrauchsgegenstände‘. Von diesem Nebenraum kam ein Mann zurück und trug einen Stab, auf dem sich ein komplexes Gebilde drehte. Wendy löste sich vom muslimischen Buch der Bücher und ging auf ihn zu.
„Was haben Sie denn da Schönes gefunden?“, fragte er.
„Ein Spielzeug“, war die Antwort.
Wendy erkannte, was es war. „Das ist aber eher etwas für Erwachsene“, sagte er, „ein Cupido, eine Figur, die das Begehren der Menschen darstellt.“
„Gibt es die auch im Islam?“, fragte der Mann verwundert. „Ich kenne sie nur aus der Antike.“
„Mir scheint auch, dass sich der Künstler nicht ganz an den Rahmen der muslimischen Kunst gehalten hat“, räumte Wendy ein. „Eigentlich ist die Darstellung menschlicher Figuren in ihrer Tradition ja untersagt.“
Der Halter des Stabes stoppte die drehenden Figuren. Wendy sah eine Frau und ihr Begehren. Aber bevor er die Plastik genauer studieren konnte, drehte dieser schon weiter. Nun sah Wendy den Mann. Sein Begehren war so ausgedrückt, dass ihm drei Frauen zu Füßen lagen.
Wendy lachte. „Gut getroffen, die im muslimischen Glauben bewahrte Tradition erlaubt den Männern, mehrere Frauen an sich zu binden.“
„Und wie steht es mit Ihnen?“, fragte der Mann. „Wäre das für Sie nicht ein Grund zu konvertieren?“
Wendy sah ihn erstaunt an. Dann lachte er. „Bei den Lebensformen halte ich mich lieber an die modernen. In meinem Fall müssten es drei Männer sein. Das würde mir die muslimische Tradition wohl kaum bewilligen.“ MLF