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Dienstag, 11. September 2012

94 Schwarzer und beiger Fleck


Ganz oben, in der Spitze eines topmodernen Gebäudes, das an einem wichtigen Knotenpunkt in der Hauptstadt stand, wohnte eine Freundin von ihm. Mit ihr war er in einem geschwisterlichen Verhältnis so eng verbunden, dass beide voneinander sagten, sie seien ein Herz und eine Seele. Wenn er sich in ihrer Wohnung aufhielt, die über drei Stufen bis zum höchsten Fenster des Gebäudes reichte, fühlte er sich in erregter Stimmung. Die exquisite Einrichtung, die Lichtfülle, die Exponiertheit mochten diesen Zustand bewirken. Seine Freundin Alexa hatte dieses Appartement in Verbindung mit einer Arbeit ergattert, zu der sie – von Beruf Auftragsschreiberin – in sonderbarer Weise gelangt war. Sie hatte an einem windigen Nachmittag, als sie nach Hause kam, in ihrem Briefkasten einige handbeschriftete Blätter gefunden. Das war der Auftakt zu einer Arbeit, die ihr Leben verändern sollte.
Am Abend vor der Präsentation dieser Arbeit war René bei ihr in der Wohnung. Er spürte wieder dieses prickelnde Gefühl, das er in dieser Wohnung immer hatte. Ihm fiel auf, dass ganz oben, wo Alexa ihr Bett stehen hatte, die Vorhänge sich bewegten. Die Stufen hochgehend, hob er oben den Vorhang und sah dass das Fenster schräg gestellt war. Aber er schloss es nicht.
Am nächsten Morgen herrschte große Aufregung. Das lang erwartete Buch eines großen Drahtziehers war erschienen – im wörtlichen Sinn –bei seiner Freundin in der Wohnung. In Windeseile verbreitet sich die Nachricht. René traf Alexa unten auf dem Platz. Sie war im Begriff zur Buchvorstellung zu gehen. Ihre Ausstrahlung war eine andere als sonst. Die dralle, lebensbejahende Art, die ihm so gefiel an ihr, war an diesem Morgen noch stärker als sonst. Er spürte dass sie ihn auf Distanz hielt. Er hatte neben ihr immer die Rolle des Besonnenen gespielt, die er gerne einnahm, weil sie in seiner Natur lag. Sie wusste wohl von sich, dass sie etwas zu leichtfertig und unbekümmert war und schätzte ihn als Gegenpol. Jetzt spürte René jedoch eine Trennwand zwischen ihnen. Trotzdem begleitete er sie auf dem Weg zum Stadtpark, wo der Event stattfinden sollte.
„Was denkst du, wo das Buch lag?“, fragte sie im Gehen und verriet es ihm, bevor er antworten konnte. „Ich fand es auf der Ablage beim Fenster. Ich wunderte mich, wo es so plötzlich herkam. Da stellte ich fest, dass das Fenster ein Spalt offen war.“
„Ich weiß“, sagte René.
Sie hielt abrupt inne und schaute ihn verwundert an.
René wich ihrem Blick nicht aus und sagte. „Gestern Abend habe ich bemerkt, dass es schräg stand.“
„Und du hast mich nicht gewarnt, hast es nicht geschlossen“, warf sie ihm vor.
„Hätte ich das sollen?“, fragte er zweifelnd. „Du hast dir doch gewünscht, was eingetroffen ist oder etwa nicht?“
Sie presste die Lippen zusammen. „Ja, schon, gab sie zu, aber wenn ich’s gewusst hätte, ich hätte kein Auge zugetan. Stell dir vor, ich hätte die Hand gesehen.“
Ein Schauder ging sowohl ihm als auch ihr über den Rücken.
Alexa fasste sich und lief weiter. Er folgte ihr.
Ein gutes Jahr früher hatte Alexa einen Umschlag mit vier handbeschriebenen Blättern in ihrem Briefkasten gefunden. Auf einem beigelegten Zettel stand die Frage.
SIND SIE BEREIT MEINE NOTIZEN AUSZUARBEITEN? WENN JA, SCHICKEN SIE DIE BEARBEITUNG AN DAS POSTFACH … UND SCHREIBEN SIE IHRE BANKVERBINDUNG DAZU.
Versteckt sich hinter diesen Blättern der Auftrag, den ich mir seit Jahren wünsche?, fragte sie sich. Eine bekannte Persönlichkeit, für die es ein Buch zu schreiben galt. Das, alleine wegen dem Bekanntheitsgrad der Person, an die Spitze der Verkaufslisten rücken würde. Für einen führenden Politiker z.B. oder für eine Filmdiva oder für einen bekannten Musiker. Sie konnte es kaum erwarten, bis sie den Inhalt gelesen hatte.
Damals hatte sie noch in einer einfachen Wohnung im Stadtteil Hässloch gehaust und sich mehr schlecht als recht mit Schreibaufträgen über Wasser gehalten.
Wie sie vermutet hatte, handelte es sich um eine Person, die eine wichtige Rolle in der Gesellschaft zu spielen schien. Diesen Eindruck hatte sie nach dem ersten Überfliegen des Textes. Allerdings kein Politiker, auch niemand aus der Filmbranche oder Musikszene, sondern wohl eher aus der Wirtschaft. Es dauerte eine Weile, bis sie die teils krakelige, teils fahrige Handschrift entziffern konnte. Sie ging die Seiten zweimal durch. Dann ging sie in die Küche, goss sich einen Tee auf. Erneut las sie die Blätter durch. Die vier Seiten behandelten einen Abschnitt aus den Anfängen seiner Karriere. Die, wie er in einer Nachbemerkung erklärte, für ihn besonders wichtig gewesen war, weil er in dieser Zeit entdeckt hatte, dass das Leben besser funktionierte, wenn man es vereinfachte.
 Alexa übertrug den Inhalt zuerst wortgetreu. Dann erstellte sie davon einen Text in korrektem und flüssigem Stil. Sie nahm sich dafür zwei Tage Zeit. Dann packte sie das Original und ihre Bearbeitung in ein Kuvert. Doch sie steckte es noch nicht in den Briefkasten.
Tatsächlich war sie am nächsten Tag unzufrieden damit. Wenn daraus ein Buch werden sollte, musste sie schon jetzt den richtigen Stil finden. Sie musste aus diesen wenigen Blättern den Auftraggeber in seinem Typ erkennen, und was er den Lesern mitteilen wollte. Aus den ersten Blättern ging hervor, dass der Auftraggeber mit Medien zu tun hatte oder zumindest so begonnen hatte. Ihr waren zwei, drei Größen dieser Branche bekannt. Wobei einer von ihnen besonders herausragte. Im Verlagsbereich hatte er durchgesetzt, dass Bücher nur noch gedruckt wurden, wenn sie auf Anhieb einem der Genres, die er ausgewählt hatte, zuzuordnen waren. In den Zeitungen seines Konzerns waren die Artikellängen auf ein Drittel der ursprünglichen Länge gekürzt worden. Aufs Geratewohl versetzte sie sich in diesen Menschen und versuchte wie er zu sprechen. Sie stellte sich vor den Spiegel und verzerrte ihr Gesicht zu einer ihm ähnlichen Grimasse. In seinem Geiste schrieb sie die Notizen nochmal neu. Jetzt gefielen sie ihr schon deutlich besser.
Eines Tages war in dem Kuvert mit den Blättern ein Hinweis dabei, dass in einem besonderen Gebäude an einem zentralen Knotenpunkt eine Wohnung frei sei, die sie mieten könne. Sie solle sich bei Frau … melden.
Nach dem Umzug hatte René sie dort besucht. Ihm gefiel die Wohnung auch, sie war fantastisch. Exponiert, hell und ganz neu. Dass man nur mit dem Lift in die Wohnung gelangen konnte, störte ihn anfangs (die Feuertreppe war nur für den Notfall erlaubt). Andererseits benutzte er, wenn er in die Bibliothek ging, ja auch jedesmal den Lift.
In diese Gedanken vertieft, wurde René immer langsamer. Sie dagegen, in Gedanken schon bei der Buchvorstellung, lief ihm einen Schritt voraus. Er war ihr ein Klotz am Bein und sie bereute es, dass sie nicht einfach weitergegangen war, nachdem sie sich auf dem Platz begrüßt hatten.
 René hatte seine Abers gegen diesen Auftritt. Nur aus Rücksicht auf ihre gehobene Stimmung sprach er sie nicht aus. Warum macht man um die Äußerungen eines solchen Drahtziehers – im Grunde hielt er ihn sogar für einen Fiesling – solches Aufheben.  Hatte er nicht schon genug Einfluss, indem er mit seinen rüden Methoden gewachsene Strukturen zerstörte und eine vielfältige Kulturlandschaft in lauter Plantagen verwandelte? Musste man sich jetzt noch seine klugen Sprüche anhören und seine Analysen, die eine demokratische Kultur, als etwas Veraltetes darstellten. Aus diesem inneren Widerstreben war René langsamer geworden.
Alexa hielt inne. „Ich sehe, du hast keine Eile, mein Gutester“, sagte sie in ungeduldigem Ton. „Ich lass dich jetzt in deinem Schritt gehen. Ich werde erwartet.“ Sie gab ihm einen Klaps auf die Wange und eilte davon. Er schaute ihr nach, wie sie mit strammem Schritt und wehender Bluse auf die provisorisch eingerichtete Bühne mit Stühlen zuschritt.
René fragte sich, ob er ihr überhaupt folgen solle und blieb stehen. Genau betrachtet hatte er gar keine Lust, die Schar derer zu vergrößern, die gespannt auf den Lebensrückblick und die Botschaften eines rücksichtslosen Drahtziehers warteten. Alexa würde ihn bei dem Trubel, den man um ihr Buch machte, bestimmt nicht vermissen. Also drehte er um.

Was sollte er jetzt noch mit dem Tag anfangen? Es war, als hätte Alexa seine Seele und mit dieser seine Begeisterungsfähigkeit davongetragen. Er ging weiter zur neuen Bibliothek, die ähnlich hoch war, wie der Bau in dem Alexa residierte, aber nicht spitz zulaufend, sondern in einer geometrischen, fast kubischen Form. Dort arbeitete er manchmal. Zum Glück war er routiniertes Arbeiten gewohnt. Aber an diesem Tag, da sie ihren Triumpf feierte, fiel es ihm besonders schwer sich aufzuraffen.
Er fuhr mit dem Lift hoch in das oberste Stockwerk, wo dem Lift diagonal gegenüber die mathematische Bibliothek untergebracht war. Die Mitte dieses Gebäudes nahm ein großes Atrium ein. Er hatte also erst die Längsseite und dann die Querseite dem Atrium entlang zu gehen.
In der Ecke jedoch wurde er angesprochen. Ein junger Mann trat an ihn heran und forderte ihn auf, mit in die Vertiefung zu kommen. René war überrascht, aber er folgte der Aufforderung. Der Mann schritt ihm voran zur Außenwand und durch eine Glastür in einen schmalen Raum, der sich außerhalb des Gebäudes befand. Links an der Wand standen einige Menschen, unter ihnen auch ein Freund von ihm, dem er flüchtig zuwinkte. Geradeaus stand ein Tisch, an dem zwei Tutoren saßen. Er wurde an den Tisch gebeten und durfte sich setzen. Er wunderte sich über diesen Ort. Anscheinend war der schmale Raum von außen provisorisch an das Gebäude angedockt worden. Die Vorstellung, dass sie gleich den Fensterreinigern in einer Kabine über dem Abgrund schwebten, ließ ihn erschauern. Die Tutoren schoben ihm ein Blatt zu. René nahm es in die Hand und betrachtete es. Auf diesem Papier war eigentlich nichts anderes drauf als zwei kleine Flecken, um nicht zu sagen, zwei Kleckse. Der eine war schwarz, der andere nicht ganz weiß, beige vielleicht. Das war alles. Er schaute fragend zu den Tutoren hoch.
„Was ist, wenn man die tauscht?“, wurde er gefragt.
Nun war René nicht ganz unvorbereitet auf solche Fragen. Man konnte, wenn von Tutoren eine Frage gestellt wurde, davon ausgehen, dass je banaler sie schien, umso weitreichender und komplexer der Sachverhalt sein würde, den sie betraf. Er hatte auch eine ungefähre Ahnung, um was es sich dabei handeln könnte. Er sagte.
„Mir ist ein solcher Wechsel vertraut von den Koordinaten-Transformationen in der Mathematik.“ Gleichzeitig kam ihm in Erinnerung, wie schwer er sich immer getan hatte, sich die Veränderungen vorzustellen, die eine solche Transformation bewirkte. Auf die Schnelle fiel ihm nichts ein, was er dazu hätte sagen können. Vielleicht etwas von Gegensätzen, von Polaritäten. Aber er schwieg lieber, als sich im Allgemeinen zu ergehen.
Als sie sahen, dass von ihm keine schlüssige Antwort kam, steckten sie ihm ein Blatt von der Größe einer Postkarte zu. Das Blatt beschrieb einen Kurs, der sich mit wenigen Wochenstunden über ein Semester erstrecken würde. Sie empfahlen ihm, sich zu diesem Kurs anzumelden. Er nahm den Zettel entgegen und stand auf.
Sein Freund kam zu ihm. Er hatte den gleichen Zettel. Sie beschlossen zusammen daran teilzunehmen. Die Vorstellung, mit einem Begleiter gemeinsam den Kurs zu besuchen, weckte die Lust aufs Unbekannte und beseitigte seine Vorbehalte. MLF

Sonntag, 26. August 2012

90 Ein Haus in Bünden


Wer war dieser Angeklagte gewesen, in diesem schrecklichen Gerichtsprozess?, fragte sich René immer wieder. Da er selber verfolgt worden war, ließ ihm die Sache keine Ruhe und er fing an zu recherchieren. Dabei fand er heraus, dass der Angeklagte selber ein Anwalt war und in Oberreinach eine Anwaltspraxis führte. Als er dort anrief, sagte eine Stimme auf Band. ‚Voranmeldung ist nicht möglich. Mit Wartezeiten ist zu rechnen. Bringen sie etwas Zeit mit‘. Von zeitweiliger Schließung des Büros wurde nichts gesagt. Daraus schloss René, dass die Meute im Gericht, dem Anwalt doch nichts hatte anhaben können.
Die Nacht vor dem Besuch beim Anwalt, verbrachte er bei Bekannten und schlief mit dem Freund und einigen anderen auf einer Pritsche im Obergeschoss. Erst am Morgen fiel ihm der ungewöhnliche Zuschnitt des Obergeschosses auf. In der Mitte war ein einziger großer Raum, der zugleich als Flur diente. Von diesem gingen, eingefasst von schönen Holzrahmen, in mehrere Richtungen Treppenstufen hoch. Aber diese wurden nicht als Treppenaufgänge genutzt, sondern dienten als Schlafräume. Über die Stufen gelangte man zu einer Pritsche, genau wie in dem Raum, in dem er geschlafen hatte. Er sah viele solche Aufgänge und in jedem hielten sich viele Kinder auf. Das veranlasste ihn, seinen Freund zu fragen. „Wie viele seid ihr denn?“
„Wir haben gerade einige Gäste“, bekam er zur Antwort. „Mit ihnen sind wir genau hundert.“
René war mehr als erstaunt. Da die Zahl achtzehn genannt wurde, mutmaßte er, dass sie so viele Kinder waren.
Auch die Mutter trat im großen Raum des Obergeschosses in Erscheinung. Sie machte einen sehr dynamischen und erfrischenden Eindruck. Sie schien nicht übermäßig belastet. 

Stufen führten zum Eingang des massiven Gebäudes hoch. Vor dem Zimmer des Anwalts traf er auf eine lange Schlange von Menschen. Daraus schloss René, dass er bei einer wichtigen Person vorsprach. Es hieß, dass der Anwalt von jedem Menschen, der sich an ihn wende, einen Akte vorliegen habe. René war einerseits begierig einen Menschen, der einen solch widerlichen Prozess unbeschadet überstanden hatte, näher kennenzulernen. Andererseits war er neugierig, ob der Anwalt von ihm auch eine Notiz verwalte.
Als nur noch zwei Personen vor ihm in der Schlange standen, konnte er den Anwalt an seinem Arbeitstisch sehen. Wie sein erster Eindruck im Gericht gewesen war, so sah er auch jetzt einen väterlichen Menschen vor sich. Ein schönes Gesicht mit nicht wenigen Falten und einer warmen Ausstrahlung.
Als René dran war, legte ihm der Anwalt ein Blatt vor, auf dem ein Gebäude abgebildet war. Das Haus stand in den Bergen.
Es gehört dem Jud, Dubist", bemerkte der Anwalt dazu.
Es war ein schönes, modernes Haus, ganz neu gebaut. Die linke vordere Seite hatte statt einer Ecke eine Rundung. Daran konnte René erkennen, dass es vom Baumeister persönlich gebaut worden sein musste. René begriff nicht, was es mit diesem Haus auf sich hatte. Die Zeit, die ihm zustand, war zu kurz, um viele Fragen zu stellen. Die nächsten drängten hinter ihm. Bevor der Anwalt sich der folgenden Person, einer älteren Dame, zuwandte, machte er ihn nochmal auf die Besonderheit des Namens aufmerksam. „Nicht Dubist, sondern Du-Bist, heißt der Bauherr“, betonte er.
René machte einen Schritt und die Alte rückte nach. Er sagte sich, dass er das Haus dieses Juden zumindest mal anschauen möchte. Deshalb wandte er sich nochmal an den Anwalt.
„Die Adresse. Können sie mir die Adresse nennen?“
Die Alte mit Klunkern im Ohr fühlte sich sichtlich gestört und warf ihm einen gehässigen Blick zu. Der väterliche Anwalt wies mit dem Stift auf eine Zeile unterhalb des Bildes. Dort stand. ‚Bünden, am Hang beim Zentrum‘. René bedankte sich.
Draußen setzte er sich auf die Stufen und nahm das Blatt, das ihm der Anwalt mitgegeben hatte, in näheren Augenschein. Wirklich, ein sehr schönes Haus, dachte er. Wie er jetzt den Namen des Bauherrn nicht nur hörte, sondern auch las, begriff er erst, was es mit diesem Namen auf sich hatte. „Du bist“ hieß der Bauherr. Da erst dämmerte ihm, warum das Bild dieses Hauses ausgerechnet in seiner Akte lag. MLF

Donnerstag, 16. August 2012

88 Das Gericht

Er fand sich in einem großen Gebäude in einem Flur, von dem breite Treppen nach oben und nach unten in andere Bereiche führten. Die dicken Mauern weckten in ihm das beklemmende Gefühl, in eine Burg geraten zu sein, in der alle Räume wie Kerker anmuteten. René schaute in den großen Raum darunter und sah, wie über Einzelne vor einer großen Menschenmenge Gericht gehalten wurde und wie man über sie herzog. Offensichtlich war er in ein Gerichtsgebäude geraten. Er stieg die Stufen hinab und blieb über der Menge, die gebannt einem Prozess folgte, stehen. Mindestens die Hälfte der Anwesenden schienen Presseleute zu sein. Gegenüber, an der Wand, saß der Angeklagte auf der Bank. Renés erster Eindruck war der von einem älteren, väterlichen Mann. Es schien ihm, dass er Reife und Güte ausstrahlte. Er sah einen Menschen dort sitzen, dem man sich in einer schwierigen Situation anvertrauen würde, von dem man Rat und Beistand erwartete. Das pure Gegenteil von einem Verbrecher. Aber unter den Angriffen schien sich sein Gesicht zu verändern. Irgendwie erinnerte ihn der Angeklagte nun an Rainman (gespielt von Dustin Hofmann), ein Mensch mit vielen Macken, aber mit herausragender Begabung und unfähig einem anderen Menschen Böses anzutun. Blätter wurden herumgereicht. Die Anwesenden zerrissen sich den Mund darüber. „So eine Schweinerei“, „ist ja scheußlich“, „so einer gehört weggesperrt“, hörte René rufen. Er wurde neugierig. Als eines der Blätter in seine Nähe kam, drängte er sich durch die Leute und ergriff es. Um es im Gedränge anschauen zu können, musste er es nach oben halten. Abgebildet war der Arsch – vermutlich der des Angeklagten - und zwar mit weit geöffnetem Arschloch. Das war es, was die Anwesenden so schockierend fanden. Sein erster Gedanke war, da habe ich ja Glück, dass ich mich auf dieser Seite befinde und nicht dort auf der Anklagebank sitze.
Doch dann stieg eine Wut in ihm hoch. Was sind das für Sitten, einen Angeklagten auf solche Art zu demütigen. Er drängte durch die Menge und riss alle Blätter, derer er habhaft werden konnte, an sich. Sie zeigten alle das gleiche Bild. Dann hob er das Bündel hoch und zerriss es demonstrativ über seinem Kopf und setzte diese Performance fort, bis er lauter Schnipsel in den Händen hielt. Diese warf er hoch in die Luft und ließ die Fetzen wie Schneeflocken auf die Menge niederschneien.
Alle Blicke richteten sich auf ihn. Die Journalisten waren verwirrt und riefen sich hektische Sätze zu.  Pepi fiel ihm auf, sein Jugendfreund, Ritter des alternativen, rebellischen Zeitgeists und Mitarbeiter von Renés geliebter Tatzen-Zeitung. René spürte, dass etwas im Gange war. Er hörte einzelne gellende Schreie. Erst nur vereinzelt, hier und dort, dann mehrere zusammen. Noch war er sich keiner Gefahr bewusst. Vor Menschen, die den Regeln der Rudeltiere folgten, fürchtete er sich nicht. Doch als sich eine Gruppe auf ihn zubewegte und die gellenden Schreie anschwollen, spürte er doch die Gefahr. Noch glaubte er, ein lauter Schrei von ihm würde sie vertreiben. Doch dann kamen ihm Zweifel. Bin ich denn überhaupt ein Wolf?, fragte er sich. Wird ein Heulen von mir, sie zum Kuschen bringen? Probeweise versuchte er einen Schrei. Doch nicht mal ein Laut entrang sich seiner Kehle. Er fühlte sich vielmehr äußerst sanft. Die Männer, die auf ihn eindrangen, fand er hübsch und er versuchte, während er die Stufen nach oben auswich, mit ihnen zu flirten. Doch dazu waren diese nicht aufgelegt. Sie stießen ihn vielmehr und zerrten an seinen Kleidern. Eine Reporterin griff ihm ins Haar und riss ihm ein ganzes Büschel Haare aus. Er spürte Stiche am ganzen Körper, während er durch den Gang zurückwich, durch den er gekommen war. Einer schlug ihn mit der Kamera. Auf der Schwelle gab ihm jemand einen Tritt. Er fiel, strauchelte und landete schließlich flach auf dem Kies. Die Türe wurde zugezogen. Um ihn wurde es still.
Er war nicht ohnmächtig. Aber er war so frustriert, dass er sich nicht erheben konnte. An den Armen, unter dem Hemd, überall schmerzte ihn, von den Piksern, die man ihm bereitet hatte. Schließlich zwang ihn der harte Untergrund, sich aufzurichten. Neben den Beulen waren es vor allem die Stiche, die ihn schmerzten. Im Tageslicht sah er an diesen Stellen blaue und schwarze Punkte und Striche. Anscheinend hatten die Angreifer und Angreiferinnen die nächst greifbaren Werkzeuge – ihre Kugelschreiber – gepackt und ihn damit traktiert. Für René, der so viel für seine reine Haut tat, war es entsetzlich, sich so entstellt zu sehen. Als er sich zuhause vor dem Spiegel sah, hätte er am liebsten geheult. Denen mache ich den Prozess, sagte er sich und holte die Kamera, um Beweismittel zu schaffen. Doch bei dem Gedanken, dass er zwanzig Journalisten wegen Verletzung seiner Haut anzeigen sollte, kam er sich doch etwas komisch vor. Zudem mochte er sich, so hässlich wie er aussah, nicht ablichten. Er zog es vor sich in die Badewanne zu legen. Nach einer Stunde, während der er mit Seife und Schwamm sich rot gerieben hatte und das Wasser schon kalt war, fühlte er sich endlich wieder rein. MLF

Freitag, 22. Juni 2012

72 Den trockenen Flusslauf hoch

Als René ins Ärztehaus kam, war die Klappe über dem Eingangsbereich zu. Wieso, fragte er sich verärgert. Er hatte doch verlangt, dass sie immer offen stand. Drinnen hörte er den Staubsauger, die Putzfrau war da. Sie musste sein Eintreten bemerkt haben, arbeitete aber unbeirrt weiter. Doch als er stehen blieb, schaltete sie das Gerät aus und richtete sich auf. Sie schien seine ungute Stimmung zu spüren.
„Die Stoffe im Verschlag sind brüchig geworden“, rechtfertigte sie sich, „ich musste sie wegmachen. Ich habe Heu hochgetan.“
René nickte betroffen. Deswegen hatte sie also die Luke geschlossen, damit kein Heu nach unten rieselte. Er spürte ein Stechen in der Brust. Dass doch alles so schwierig war. Doch dann gab er sich einen Stoß. Das liegt nur an deiner Feigheit, sagte er sich. Zieh einen Roch an und geh nach draußen, dann fühlst du dich gleich besser.
Das Auto war noch zu tanken. Er ging in den Eingang zurück. In der Ecke lehnten zwei Holmen mit vereinzelten Sprossen. Er klopfte mit dem einen Teil an den Lukendeckel. Dieser wurde von oben geöffnet.
„Ich geh tanken. Komm doch mit, damit du eine Weile rauskommst.“
„Und der Junge?“, fragte sie.
„Ich habe einen Kindersitz besorgt. Du kannst ihn mitnehmen.“
René steckte die beiden Leiterteile ineinander und stellte sich hinter die Leiter. Während sie mit dem Jungen hinunterstieg, presste er die beiden Holme gegeneinander. Dann ging er nach drinnen und zog sich statt der Hose einen Rock an. Sie befestigte so lange den Kindersessel auf dem Beifahrersitz. René setzte sich auf die Rückbank.
An der Tankstelle nahm René die Zapfpistole und öffnete den Deckel. Etwas stimmte nicht. Unter dem Deckel kam keine Öffnung, sondern ein Drehverschluss zum Vorschein. René war verwirrt. Was hatten die in der Werkstatt mit seinem Wagen gemacht?
„Ich muss mal rein, da stimmt was nicht“, rief er der Fahrerin zu. „Es fehlt die Öffnung für die Pistole.“
Mit einem unförmig großen, aber hilfsbereiten Angestellten an seiner Seite kehrte er zurück. Der Große warf einen Blick auf die Tanköffnung und sagte:
„Sie müssen Gas tanken – dort drüben.“
„Wie? Verstehe ich nicht“, entgegnete René,
Der Angestellte sah auf seine Kleidung. Einen Mann in Rock schien er noch nie gesehen zu haben. Entsprechend unwohl schien er sich zu fühlen. Er gab sich aber Mühe und sagte. „Sie haben einen Gastank, Sie müssen Gas tanken.“ Dann trottete er kopfschüttelnd davon.
Sie startete den Motor und fuhr den Wagen nach hinten zur Gassäule. Er drehte die beiden Ventilverschlüsse ineinander. Der Gaszähler fing an sich zu drehen. Warum an seinem Auto plötzlich ein anderer Tank war, begriff er nicht. Die Vermutung lag nahe, dass die Bündner ihre Hand im Spiel hatten. Seit die junge Bündner Frau bei ihm war, hatte er schon allerlei Ungewöhnliches erlebt. Als der Zähler stoppte, trennte er die Ventile und ging in den Shop zum Bezahlen. Er kaufte ihr eine Tüte mit scharfen mexikanischen Bohnen und dem Jungen eine Milchschnitte.
Zuhause ließ ihm die Überraschung, die er mit dem Wagen erlebt hatte, keine Ruhe. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass es besser war, auf die Bündner zuzugehen, als abzuwarten, bis sie aktiv wurden. Mit der Veränderung seines Kraftstoffes mussten sie etwas bezweckt haben. Er wünschte zu wissen, wieso.

Der kürzeste Weg vom Ärztehaus zum Bündner Sitz im Gebirge führte durch einen trockenen Flusslauf hoch. Das war ein schöner Weg. René mochte ihn sehr und verstand nicht, warum dieser so selten genutzt wurde. Das erste Stück war etwas steil, aber die Felsen waren blank gerundet, es war ein Vergnügen, sich darauf zu bewegen. Je länger er über die Steine ging, umso geschmeidiger wurde er.
Als er in den flacheren Abschnitt des Hochtals kam und in der Ferne schon das Gebäude der Bündner erahnen konnte, spürte er jemanden an seiner Seite. Er kannte dieses Gefühl und wartete, was sein Begleiter ihm sagen würde. Auf Grund der Luftveränderung war seine Sehleistung geschwächt. Er sprach aufs Geratewohl.
„Man hat an meinem Fahrzeug den Tank getauscht. Als ich die Pistole reinstecken wollte, fand ich ein Ventil. Können Sie mir sagen, warum dieser Eingriff vorgenommen wurde?“
Die Antwort kam nicht gleich. Es dauerte eine Weile bis er vom Begleiter zu hören bekam. „Man verdächtigt dich des Schnüffelns.“
„Des Schnüffelns von was?“, fragte René verblüfft.
Er konnte jetzt sehen, dass jemand neben ihm ging. Die Antwort lautete. „Der Rat vermutet eine Kohlenmonoxid-Sucht bei dir.“
„Wie kommen die denn da drauf?“, fragte er verärgert und schüttelte den Kopf. „Kohlenmonoxid schnüffeln, ich wüsste nicht mal, wie man das anstellt.“
„Ist das Gastanken von Nachteil?“, fragte der Begleiter.
René überlegte. Ihm fiel kein Argument dagegen ein. Außer, dass das Parken mit Gastank in manchen Tiefgaragen untersagt war. Mit Gas zu fahren war sogar günstiger. „Nein, eigentlich nicht, es ist eher ein Vorteil“, gab er zu.
Ohne sich zu verabschieden verschwand der Begleiter.
René näherte sich nun dem Gebäude, das er als Sitz der Bündner kannte. Von weitem war es kaum von den Felsen zu unterscheiden gewesen. In der Nähe, bewunderte er die kühne Verbindung von Stein und Glas. Der Bau wirkte archaisch und futuristisch zugleich. In Analogie zu den Bauten des Künstlers Hundertwasser hätte man es Hundertsteine nennen können, weil es in den Felsen lag oder Hundertlüfte, weil es so exponiert war. Beim Gebäude angekommen setzte er sich draußen auf die Stufen. Er wünschte, dass einer von den Bündnern zu ihm kam und er nicht vor den Rat treten musste. Die Vorstellung mit mehreren von ihnen konfrontiert zu werden, stimmte ihn ziemlich verlegen.
Nach einer Weile trat tatsächlich einer von ihnen zu ihm. Er reichte ihm ein Glas Wasser und setzte sich zu ihm auf die Stufe. René schlürfte das kalte Wasser und fühlte sich sofort erfrischt. Das Gebirgswasser schmeckte hervorragend. Der Mann sah nicht anders aus, als sonst ein hagerer Bergler. Aber René wusste, dass er es mit einem ungewöhnlichen Menschen zu tun hatte. Bevor er die Frage nach dem Tank nochmal stellen konnte, sagte der Bündner.
 „Eine von uns befindet sich bei dir. Sie steckt in einer finsteren Kammer über dem Eingang. Das gefällt uns nicht.“
René war überrascht. Sie kannten also das Provisorium. Damit hatte er nicht gerechnet. Er wollte sagen, dass ihm diese Notlösung auch nicht gefalle. Aber bevor er die richtigen Worte fand, fuhr der Bündner fort.
„Stell dir vor, du würdest in unserem Gebäude hier übernachten und wir würden dich wie eine Fledermaus in eine der Nischen hängen“, sagte er. „Das wäre eine vergleichbare Behandlung.“
René fand den Vergleich ziemlich komisch und musste ein Lachen unterdrücken. Aber er wusste, dass der Vorwurf ernst war. Deshalb begründete er seine Entschuldigung mit einer allgemeinen Beobachtung. „Die Menschen halten es mit ihren Gewohnheiten wie mit den universellen Rechten. Wer gegen sie verstößt, wird bestraft. Wenn ein Mann sich als Frau kleidet, wird er geächtet.“
„Hast du’s denn überhaupt probiert?“, hakte der Bündner nach. „Ich meine außerhalb des geschützten Rahmens der Schule? Du lebst doch in einer freien Gesellschaft.“
„Zwei Schritte außerhalb, auf dem Spielplatz, war’s schon ein Spießrutenlaufen“, sagte René.
„Ach ja, die Kinder, die sind der ehrlichste Spiegel der Gesellschaft“, bemerkte der Bündner.
„Lasst mir etwas Zeit“, bat René. „Wenn ich nicht vorsichtig bin, werde ich das Gegenteil erreichen, von dem, was Sie wünschen. Man wird mich ausgrenzen und mit mir die Bündnerin.“
Der Bergler lächelte ihm aufmunternd zu. Er sagte nichts weiter. Der Auftrag war klar.
René trank das restliche Wasser und stand auf. Er tue, was möglich sei, sagte er.
Er solle sie von ihnen grüßen, bat ihn der Bündner zum Abschied.
René nickte und begab sich auf den Heimweg. Abwärts ging es noch leichter. Er fühlte sich wie frisches Wasser, das über Steine springt. MLF