Dienstag, 16. Oktober 2012

114 Obama und seine Lieben trennen sich



Wendys neunzehntes virtuelles Abenteuer

In einiger Entfernung von der Siedlung erstreckte sich die Hyde-Fläche. Sie lag deutlich höher als die Ortschaft selber. Man erreichte sie über einen kurzen Aufstieg. Unmittelbar beim Hochkommen stand oben ein Gemeinschaftshaus, in dem er sich oft aufgehalten hatte. Dieses Mal bog er nicht zum Haus hin ab, sondern ging geradeaus weiter über die Fläche hin zur Grube, die er selber geschaffen hatte. Sein Sinn stand danach, sein Leben zu beenden. Für diesen Fall hatte er den Steilhang ausersehen, den er selber erzeugt, indem er die Grube ausgeschöpft hatte. Dorthin begab er sich zielstrebig.
Er war an diesem Morgen mit dem Satz, ‚Obama und seine Lieben trennen sich‘ aufgewacht. Erst hatte er gedacht, dass es eine Voraussage für die bevorstehenden Wahlen sei und hatte bedauert, dass dem sympathischen Präsidenten der Mixed People keine zweite Regierungszeit gegönnt war. Aber dann war ihm nach und nach bewusst geworden, dass mit Obama keinesfalls der farbige Präsident, sondern nur er selbst gemeint sein konnte. Er als Unverstandener, als Schwarzer, von allen geschmäht und gemieden. Er hatte diesen Moment schon länger kommen sehen. Nicht umsonst hatte er diesen vorspringenden Felsen als ein Sprungbrett gesehen. Die Felsen hatten ihm beim Schürfen ihm Weg gestanden. Sie umschlossen die ausgeschöpfte Grube und bildeten sozusagen das Negativ seines Lebenswerkes. Aus dieser Grube, die einst Teil der Hyde-Fläche gewesen war, hatte er alles Verwertbare herausgeholt und es in mühsamer Arbeit aufbereitet. Leider ohne Erfolg. Niemand hatte interessiert, was er in der Erde entdeckt hatte. Er hatte es trotzdem getan, hatte mehrere Räume mit Materialien gefüllt, Regale mit seinen Fundstücken vollgestellt und sie verstauben lassen. Sei’s drum, er hatte getan, was er vermochte. Mehr war nicht möglich gewesen. Die Grube war ausgeschöpft. Der Rest war nackter Stein. Für ihn, der konsequent von Hand gearbeitet hatte, nicht verwertbar. Diese Grube, deren Früchte er geerntet hatte, würde ihm nun einen letzten Dienst tun. Ein kurzer Flug und dann das Aus. Das habe ich mir redlich verdient, sagte er sich.
Schon am Tag davor, war er mit diesem Vorsatz gekommen. War aber spät dran gewesen. Er hatte geglaubt, die Wohnung ordentlich hinterlassen zu müssen. Hatte die Küche geputzt und das Bett gemacht. Den Boden gekehrt und den Müll weggebracht. Als Abschiedsbrief hatte er nur geschrieben. ‚Ich vollende mein Werk in der Grube‘. Bei alledem war es Nachmittag, schon früher Abend, geworden.
Als er über den kurzen Anstieg auf die Hyde-Ebene hochkam, war gerade die Zeit, zu der er sonst gerne ins Gemeinschaftshaus gegangen war. Er schaffte es nicht vorbeizustreben. Es zog ihn wie magnetisch dorthin – mein Gewohnheitsleib, dachte er. Letztlich war es gut so. Nach dem Abend dort, hielt ihn jetzt nichts mehr im Leben fest. Er hatte sich in den gemütlichen Raum mit den Bänken und den Kissen gesetzt, fast wie in einem großen Wohnzimmer. Da waren unter den Anwesenden einige bekannte Gesichter gewesen, aber niemand hatte sich ihm zugewandt. Irgendwann war Winkelried gekommen.
„Komm Wendy, lass uns eine Partie Ping Pong spielen“, hatte er ihn aufgemuntert.
Wendy hatte ihn befremdet angeschaut und erwidert. „Es geht auf den Abend zu. Meine Augen sind nicht mehr so scharf. Ich treffe den Ball nicht.“
Aber Winkelried ließ nicht locker. „Komm, stell dich nicht so an. Wir können ja Licht machen.“
Gezwungenermaßen folgte er ihm. Doch es wurde kein wirkliches Spiel. Wenn er traf, dann nur aus Zufall. Schließlich sah auch Winkelried, dass es für ihn zu spät war.
Wendy hatte noch einen Coin in der Tasche. Mit diesem hoffte er sich ein gutes Essen und ein Getränk zu ergattern. Als er zur Theke kam, lagen da zwei kleine Würste, die eine nur noch halb. Da ihn danach gelüstete, steckte er erst die halbe und dann die ganze in den Mund. Er überreichte dem Wirt den Coin. Dieser bedankte sich. Als Wendy fragte, was es zu essen gäbe, sah ihn der Wirt verwundert an und sagte, er hätte doch seine Mahlzeit schon gehabt.
„Wie, diese kleinen Würste, das ist doch nicht dein Ernst“, rief Wendy empört. Da drehte ihm der Wirt den Rücken zu und stellte sich stur.
Eine von den jungen Frauen kam zur Theke. Sie schaute sich um. Als sie bemerkte, dass er nicht bedient wurde, entfernte sie sich wieder.
Wendy war danach nicht zum Felsen gegangen. Nach so viel Misserfolg hatte ihm der Mut zum Sprung gefehlt.
Am Morgen dann der Spruch. ‚Obama und seine Lieben trennen sich‘. Dieser hatte im Antrieb gegeben und er war rechtzeitig losgegangen. Er lief, als er auf die Fläche hochkam, stur geradeaus, ohne das Gemeinschaftshaus auch nur eines Blickes zu würdigen.
Und nun stand er an seiner Grube, an seinem Lebenswerk. Nichts als Fels war geblieben. Allen Humus hatte er hinausbefördert und jedes Fitzelchen Fleisch, das er darin gefunden hatte, in Nahrung umgewandelt, die allerdings niemand als Nahrung erkannt hatte. Er hatte trotzdem durchgehalten, bis die Grube leer war. Jetzt lag da unten der blanke Fels und er stand oben auf dem am höchsten aufragenden Stein. Der hatte, bevor er seine Arbeit begann, höchstens ein Meter aus der Fläche geragt. Was für ein grandioses Gefühl in einem einzigen Sprung, die Distanz, die er im Laufe seines Arbeitslebens geschaffen hatte, zu überwinden.
Wendy wusste, dass man in so einem Augenblick nicht zögern durfte. Ein solcher Abschied bedurfte der Entschlusskraft und erforderte einen gewissen Stil, um zu einem glatten Ergebnis geführt zu werden. In diesem Fall der sichere Tod durch Zertrümmern des Hauptes. Aber gerade darin hegte er plötzlich Zweifel. Würden die wenigen Meter Höhenunterschied reichen, um ganz sicher seinen Lebensfaden durchzutrennen? Er war sich plötzlich nicht mehr so sicher. Seine Grube war halt nicht von schweren Raupenfahrzeugen ausgebeutet worden, sondern nur in Handarbeit. Eimer für Eimer hatte er sie ausgeschöpft. Es waren keine zwanzig, dreißig Meter, sondern höchstens fünf oder sechs. Was, wenn im Reflex doch seine Hände vorschnellten und er sich eine Lähmung oder eine Schädelfraktur einhandelte? Wollte er den Rest des Lebens anderen zur Last fallen? Menschen, die ihn, weil sie ihn nicht verstanden, als Müßiggänger und Tunichtgut verschrieen hatten? Nein, das wollte er entschieden nicht.
Ernüchtert trat er vom Felsen zurück und setzte sich ins Gras. Ich brauche einen sicheren Ausgang, sagte er sich. Umherschauend fiel ihm die Bahnstrecke ins Auge, die sich durch die tiefer liegende Landschaft zog. Da wusste er, das war die Lösung. Kurz und schmerzlos, Kopf und Füße abgetrennt. Sicherer ging es nicht. Er wusste auch schon wo es günstig war. In der Kurve, in der beidseitig Gebüsch stand. Da bestand keine Möglichkeit, dass der Führer des Triebwagens ihn rechtzeitig sehen würde. Aber er musste warten bis es dunkel war. Ein letztes Mal drehte er sich der Grube zu. Schade, sie war nicht tief genug. Dieser schönste Tod, den er sich selbst erarbeitet hatte, war ihm nicht vergönnt.
Wendy stieg von der höheren Ebene hinab und ging dem Hang entlang, das Bahngleis in Sichtweite. Die Sonne warf bei den zerstreuten Büschen schon lange Schatten. Als er nahe an die Kurve der Bahnlinie kam, begab er sich in den lichten Kieferwald oberhalb und machte es sich auf dem mit Nadeln besäten Moos bequem. Jetzt bedauerte er, dass er so früh losgegangen war. Bis es dunkel genug war, würden noch mindestens drei Stunden verstreichen. Kein gutes Gefühl, in Erwartung des Todes noch Stunden ausharren zu müssen. Aber er tröstete sich mit dem Gedanken, dass er niemandem ausgeliefert war, die seinen Tod verzögern könnte. Er hatte es selber in der Hand. Der Waldboden war am Nachmittag von der Sonne beschienen worden und noch schön warm. Befriedigt von der Gewissheit einer sicheren Lösung schlief er sogar kurz ein. Er sah im Traum einen glatzköpfigen Mann aus einer fremden Zeit in einem langen Kleid. An seiner Seite standen Bewaffnete. Aber auch junge Männer, mit kurzen Röcken bekleidet, die versuchten sich zu ihm zu gesellen. Aber Waffenträger vertrieben sie wieder. Dann sah er jemanden kommen mit einem Becher in der Hand… Er hatte sich im Schlaf gedreht und war mit seinem Gesicht auf einem Kieferzapfen zu liegen gekommen. Er schrak auf, sein Traumbild zerriss. Er musste sich erst orientieren, wo er war und warum er auf dem Waldboden lag. Da fiel ihm sein Vorhaben wieder ein. Doch plötzlich hatte er Bedenken.
Gerade neulich hatte ihm ein Freund erzählt, wie er nachts aus dem Zug evakuiert worden war. Weil sich jemand vor den Zug gelegt hatte. Der Triebwagenführer hatte unter Schock gestanden und konnte nicht mehr weiter fahren. Weswegen die Fahrgäste von einem örtlichen Busunternehmen weiter befördert werden mussten. Da meldete sich sein Gewissen. Will ich einem redlichen Lokomotivführer sowas antun? Darf ich so in das Schicksal eines anderen eingreifen?, fragte er sich. Nein, das durfte er nicht.
Wendy spürte Ärger in sich aufkeimen. Soll mir denn auf jedem Ausgang etwas in den Weg gelegt werden?, schimpfte er laut. Jedenfalls, das mit dem Gleis ging nicht. Da kam ihm der rettende Gedanke – Gift. Die persönlichste Art des Todes, wie er fand. Wenigstens dieser eine Weg blieb ihm noch offen. An die Möglichkeit durch Gift sich zu verabschieden, hatte er schon auch immer gedacht. Aber ein gewisses, schwer zu erklärendes Widerstreben gegen alle Chemie, hatte ihn bisher davon abgehalten, diesen Weg ernsthaft in Betracht zu ziehen.
Wendy stand auf und klopfte sich die Nadeln von den Kleidern. Er schaute auf die Uhr, halb sechs. Bis er in der Siedlung war, würde die Apotheke schon zu sein. Und am Nachtschalter konnte er unmöglich eine solche Substanz verlangen. Das wäre viel zu auffällig. Also musste er zwangsläufig den Vollzug auf morgen verschieben, was ihm nicht gefiel.
Welches Präparat geeignet war, musste er sich erst noch kundig machen. Überdies musste er eine Begründung finden. Mein Hund hat sich verletzt und kann nicht mehr aufstehen. Oder, ich habe Mäuse als Haustiere. Sie haben sich hundertfach vermehrt. Leicht würde es nicht sein, die Apothekerin dazu zu bringen, eine wirksame Dosis rauszurücken.
Als er an den Rand der Siedlung kam, fiel ihm sein Traum wieder ein. Jetzt war ihm plötzlich klar, wer dieser Alte in dem seltsamen Kleid nur gewesen sein konnte – Sokrates. Ach Sokrates, was für ein glücklicher Mensch, brach es aus Wendy heraus. Du musstest dir dein Gift nicht selber mischen. Es wurde dir gereicht. Und du warst auch nicht gezwungen, dich zu verstecken. Deine Anhänger konnten dir zuschauen.
Gemessen an einem solchen Tod kam Wendy sein geplanter sehr kläglich vor. Vielleicht ist es doch nicht der richtige Moment, sagte er sich. Es wirkt alles so verzwungen. Eine gewisse Größe, sollte schon sein. Plötzlich sah er ein, dass jetzt doch nicht der richtige Zeitpunkt war. Obama und seine Lieben trennen sich doch nicht, klang ihm im Ohr. Nach zweimal sich Umentscheiden war er der Sache überdrüssig geworden.
Aber dass Gift, als der verlässlichste Weg erschien, wollte er sich für die Zukunft merken. Allerdings musste er dazu noch eine Vorkehrung treffen. Er musste für sein Begräbnis testamentarisch die Verbrennung fordern. Nicht dass ein Tier, das in der Erde wühlte, sich an ihm vergiften könnte. Er hatte diese Tiere, die kunstvolle Höhlen bauten, immer bewundert und sie um die Geborgenheit darin beneidet. Die Möglichkeit, dass er einem von ihnen Schaden zufügte, musste ausgeschlossen werden. MLF

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen