Wendys einundzwanzigstes virtuelles
Abenteuer
Als Wendy am nächsten Morgen die Aufzeichnungen nicht fand, ging
er kleinmütig runter zur Mülltonne. Er lehnte sich draußen an die Tür und
schaute, ob nicht jemand gerade vorbeiging und beobachtete, wie er etwas aus
dem Restmüll holte. Bei der Tonne stehend hielt er ein zweites Mal inne und
schaute zu den umliegenden Fenstern hoch. Kein Gesicht, kein Vorhang, der sich
bewegte. Er hob den Deckel und zog mit Schwung das gerollte Paket heraus. In
der Waschküche befreite er den Teppich von den Spuren des Mülls. Im Tageslicht
erschien ihm der Wollstoff als sehr kostbar und die Farbe wirkte auf ihn wie
ein tiefgründiges, geheimnisvolles Wasser. Mit einem Frottiertuch rubbelte er die
Feuchtigkeit weg und trug den Stoff in sein Zimmer hoch. Als er ihn ausrollte, durchströmte
ihn ein Glücksgefühl und es fiel ihm augenblicklich ein, wo der Text steckte. Er
hatte ihn auf den Schrank geschoben. Wendy stand auf den Stuhl und spürte erleichtert
die Blätter. Eines war sicher, dass er von jetzt an sein Arbeitszimmer immer
abschließen würde.
In der folgenden Nacht – er lag noch im Arbeitszimmer auf der
Isomatte – hörte er jemanden reden oben und vernahm dann ein Poltern im
Treppenhaus. Er glaubte, es sei Enzo, der sauer war, dass er sich davongemacht
hatte und erwartete, dass er gleich an seiner Tür rütteln würde. Doch das
Poltern setzte sich fort auf der Treppe nach unten. Da musste jemand etwas
Schweres abwärts schleppen. Dann wurde die Haustüre geöffnet. Da raffte sich
Wendy auf und stieg, noch immer schlaftrunken, zu Enzo hoch.
Enzo lag auf einer einfachen Matratze. Die Doppelmatratze war
weg. Er brummte etwas wie. „Das ist ja das letzte, dass die mitten in der Nacht
kommen.“ Aber er schien schon wieder zu schlafen. Jemand hatte die breite
Matratze geholt.
Wendy überlegte auf Hochtouren. Von wem hatten sie die doppelte
Matratze erhalten? Wer könnte sie wieder geholt haben? Da fiel es ihm ein, wie
Anna Fischer, einige Wochen nach der Übergabe der Schlüssel, ihn angerufen
hatte, sie hätten eine nicht ganz neue, aber qualitativ sehr hochwertige
Doppelmatratze zu verschenken. Es konnte nur einer von Fischers sein, der sie
geholt hatte. Das Ding war so schwer, dass er es die Treppe hatte runterrutschen
lassen. Das war das Geräusch, das Wendy gehört hatte. Wahrscheinlich war es Annas
Bruder. Er wollte ihn wenigstens kurz sprechen. Vielleicht brauchten sie sie ja
nur für kurz. Wendy rannte die Treppen hinunter und wäre schier hingefallen,
weil er noch schlafentrunken war. Als er an die Tür kam, hörte er drüben auf
dem Platz ein Fahrzeug, ein Dieselmotor, wohl ein Transporter. Er rannte vor
zum Platz. Vielleicht wendete der von Fischers ja noch. Aber der Platz war
leer. Und er war verwandelt.
Der Platz war von alten Gebäuden aus gelbbraunen Steinen umfasst. Mittelalterlich
mutete die Stadt an. Gegenüber wölbte sich die Mauer einer Kirche oder eines
Klosters wie ein ungeheures Bollwerk. Es war kalt. Wendy steckte im Schlafanzug.
Mit nackten Füßen stand er auf dem kalten Pflaster. Ein eisiger Wind trieb
Eisnadeln über den Platz und in den Weg zu ihrem Haus, das ebenso alt war wie
die anderen. Bis dahin hatte Wendy geglaubt, dass Fischers die Matratze
überraschend gebraucht hatten, für Asylsuchende etwa, die in Not steckten. Doch
langsam wurde ihm bewusst, woher dieser eisige Wind kam. Obwohl die virtuelle
Welt sich gerne hinter Rätseln versteckte, lag sie oftmals nah bei der
Wahrheit. Ihm wurde jetzt klar, wer hinter dieser nächtlichen Aktion stand. Die
ewig Mittelalterlichen hatten Fischers unter Druck gesetzt, hatten von ihnen
verlangt, Wendy und Enzo die Doppelmatratze wieder zu entziehen. Da waren sie
bei ihm aber an den Falschen geraten. Kämpferischer Mut erwachte in ihm. Er
hielt den Kopf schräg und schüttelte die Faust. Wie ein Held aus einem
Bergmann-Film schrie er gegen den eisigen Wind an. Ihr werdet uns nicht
kleinkriegen, Ihr Ewiggestrigen. MLF
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