Freitag, 19. Oktober 2012

116 Fischers holen Doppelmatratze



Wendys einundzwanzigstes virtuelles Abenteuer

Als Wendy am nächsten Morgen die Aufzeichnungen nicht fand, ging er kleinmütig runter zur Mülltonne. Er lehnte sich draußen an die Tür und schaute, ob nicht jemand gerade vorbeiging und beobachtete, wie er etwas aus dem Restmüll holte. Bei der Tonne stehend hielt er ein zweites Mal inne und schaute zu den umliegenden Fenstern hoch. Kein Gesicht, kein Vorhang, der sich bewegte. Er hob den Deckel und zog mit Schwung das gerollte Paket heraus. In der Waschküche befreite er den Teppich von den Spuren des Mülls. Im Tageslicht erschien ihm der Wollstoff als sehr kostbar und die Farbe wirkte auf ihn wie ein tiefgründiges, geheimnisvolles Wasser. Mit einem Frottiertuch rubbelte er die Feuchtigkeit weg und trug den Stoff in sein Zimmer hoch. Als er ihn ausrollte, durchströmte ihn ein Glücksgefühl und es fiel ihm augenblicklich ein, wo der Text steckte. Er hatte ihn auf den Schrank geschoben. Wendy stand auf den Stuhl und spürte erleichtert die Blätter. Eines war sicher, dass er von jetzt an sein Arbeitszimmer immer abschließen würde.
In der folgenden Nacht – er lag noch im Arbeitszimmer auf der Isomatte – hörte er jemanden reden oben und vernahm dann ein Poltern im Treppenhaus. Er glaubte, es sei Enzo, der sauer war, dass er sich davongemacht hatte und erwartete, dass er gleich an seiner Tür rütteln würde. Doch das Poltern setzte sich fort auf der Treppe nach unten. Da musste jemand etwas Schweres abwärts schleppen. Dann wurde die Haustüre geöffnet. Da raffte sich Wendy auf und stieg, noch immer schlaftrunken, zu Enzo hoch.
Enzo lag auf einer einfachen Matratze. Die Doppelmatratze war weg. Er brummte etwas wie. „Das ist ja das letzte, dass die mitten in der Nacht kommen.“ Aber er schien schon wieder zu schlafen. Jemand hatte die breite Matratze geholt.
Wendy überlegte auf Hochtouren. Von wem hatten sie die doppelte Matratze erhalten? Wer könnte sie wieder geholt haben? Da fiel es ihm ein, wie Anna Fischer, einige Wochen nach der Übergabe der Schlüssel, ihn angerufen hatte, sie hätten eine nicht ganz neue, aber qualitativ sehr hochwertige Doppelmatratze zu verschenken. Es konnte nur einer von Fischers sein, der sie geholt hatte. Das Ding war so schwer, dass er es die Treppe hatte runterrutschen lassen. Das war das Geräusch, das Wendy gehört hatte. Wahrscheinlich war es Annas Bruder. Er wollte ihn wenigstens kurz sprechen. Vielleicht brauchten sie sie ja nur für kurz. Wendy rannte die Treppen hinunter und wäre schier hingefallen, weil er noch schlafentrunken war. Als er an die Tür kam, hörte er drüben auf dem Platz ein Fahrzeug, ein Dieselmotor, wohl ein Transporter. Er rannte vor zum Platz. Vielleicht wendete der von Fischers ja noch. Aber der Platz war leer. Und er war verwandelt.
Der Platz war von alten Gebäuden aus  gelbbraunen Steinen umfasst. Mittelalterlich mutete die Stadt an. Gegenüber wölbte sich die Mauer einer Kirche oder eines Klosters wie ein ungeheures Bollwerk. Es war kalt. Wendy steckte im Schlafanzug. Mit nackten Füßen stand er auf dem kalten Pflaster. Ein eisiger Wind trieb Eisnadeln über den Platz und in den Weg zu ihrem Haus, das ebenso alt war wie die anderen. Bis dahin hatte Wendy geglaubt, dass Fischers die Matratze überraschend gebraucht hatten, für Asylsuchende etwa, die in Not steckten. Doch langsam wurde ihm bewusst, woher dieser eisige Wind kam. Obwohl die virtuelle Welt sich gerne hinter Rätseln versteckte, lag sie oftmals nah bei der Wahrheit. Ihm wurde jetzt klar, wer hinter dieser nächtlichen Aktion stand. Die ewig Mittelalterlichen hatten Fischers unter Druck gesetzt, hatten von ihnen verlangt, Wendy und Enzo die Doppelmatratze wieder zu entziehen. Da waren sie bei ihm aber an den Falschen geraten. Kämpferischer Mut erwachte in ihm. Er hielt den Kopf schräg und schüttelte die Faust. Wie ein Held aus einem Bergmann-Film schrie er gegen den eisigen Wind an. Ihr werdet uns nicht kleinkriegen, Ihr Ewiggestrigen. MLF

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