Montag, 29. April 2013

154 II Angeblich die Bergwacht



Die Stimmen, die Tonke hörte, rührten von einer Wandergruppe her, die den Weg, den er gerade gegangen war, hoch kam. Er sah Erwachsene, Männer und Frauen, von Kindern begleitet. Ihren bunten Kleidern nach stammten sie nicht aus dem Dorf, sondern kamen von weiter her. Ihm fiel der Wagen ein. Vielleicht waren sie mit dem Auto gekommen, das er gehört hatte. Unten haltend, hatten sie, statt in der Wiese zu picknicken, sich auf eine Wanderung begeben.
Zwischen den Wandernden ging ein Tier. Tonkes Aufmerksamkeit wurde von den Wanderern auf dieses Tier gelenkt. Es wirkte groß und schwerfällig wie ein Rind, hielt aber seine Nüstern in steter Neugier am Boden. Diese eigentümliche Kopfhaltung verleitete ihn zu der Vermutung, dass es sich um einen Tapir handeln könnte. Wenn Menschen Giftschlangen und Krokodile hielten, warum dann nicht auch einen Tapir. Ein Tapir war wahrscheinlich nicht schwieriger zu halten als ein Rind. Trotz seiner Größe schien dieses Tier sehr beweglich zu sein. Er war unsicher, vielleicht war es doch ein riesiger Hund.
Tonke wartete und ging noch nicht durch das Loch.
Ein bisschen war ihm Angst vor dem großen unbekannten Tier, aber er war auch neugierig. Die Personen musterte er erst, als sie schon ziemlich nah waren. Männer, Frauen und Kinder. Da erkannte er, das Gesicht unter einer Deckelkappe, in halblangen Hosen, seinen Kontrahenten Alex. Tonke wurde unheimlich zu Mute. Das war ja der Freund, dem er vorwarf, diese Welt kreiert zu haben. Hatte Alex ihn hierher gelockt, um ihm die Hässlichkeit der Bergwelt zu beweisen? Ja, so musste es sein.
Statt zu lachen und versöhnlich auf den Gegenspieler, der ja immerhin sein Freund war, zuzugehen, Blieb Tonke im Schutz eines großen Felsbrockens. Er kam sich wirklich vor wie ein Hinterwäldler. Er hätte doch offen auf ihn zugehen und ihm gratulieren können. Es war Alex gelungen, ihn in seine Vorstellungswelt zu locken.
Aber alles, was er hervorbrachte, war die Frage. „Ist das Tier, das euch begleitet ein Tapir?“
„Aber nein“, sagte sein Kontrahent und grinste, „siehst du denn nicht, dass das ein Rind ist.“
In Wirklichkeit war es ein etwas überdimensionierter Hund. Tonke blieb weiter hinter dem Felsen. Er beobachtete das Tier, wie es überall umherging und schnüffelte. Es hielt mit treuen Augen die Verbindung zu den Mitgliedern der Gruppe, suchte aber auch Kontakt zu ihm. Das nahm ihm die letzte Scheu und er trat hinter dem Stein hervor.
Jetzt fing Alex laut an zu lachen. „Da ist ja ein Nackter“, rief er. „Habt ihr den schon gesehen“, rief er zu den andern. „Kinder schaut weg, der ist nackt.“
Tonke sah sich bloßgestellt. Er hatte versäumt sich anzuziehen. Er stand da, wie er aus dem Bett gestiegen war.
Die anderen Erwachsenen und die Kinder lachten eher verlegen. Ihnen schien die Situation nicht ganz geheuer zu sein. Alex dagegen fand Tonkes Blöße sehr erheiternd. Er freute sich außerordentlich, dass ihm sein Coup gelungen war. Er klopfte sich immer wieder auf seine halblange Hose und rief, „ein Nackter, ein Nackter.“
Ganz nackt war Tonke nicht. Immerhin trug er eine Boxer-Short. Von wegen die Kinder sollten wegschauen.
Das Gelächter von Alex nahm Tonke vollends gegen ihn ein.
Etwas abseits stellte er sich auf. Während die Gruppe im Gelände sich niederließ und die Kinder zwischen den Felsen spielten, baute sich zwischen den beiden Männern eine Kampfsituation auf. Wie zwei Böcke am Rande der Herde, so traten sie in einigem Abstand von der Gruppe gegeneinander an. Der Jüngere setzte voll auf Konfrontation, er kam hoch erhoben auf Tonke zu. Dieser erschrak und fühlte seine Kräfte schwinden. Ich bin zu alt, einer solchen Auseinandersetzung bin ich nicht mehr gewachsen, sagte er sich. Ein laues Gefühl im Magen schwächte ihn zusätzlich. Aber das lag daran, dass er versäumt hatte zu frühstücken. Er raffte sich auf und stand hin wie ein mit Hörnern bewehrter Widder. Die Shorts war genau die richtige Kleidung für den bevorstehenden Kampf.
Der Jüngere reagierte verblüfft und wurde zornig. Er versuchte ihn wegzustoßen. Aber Tonke, der sich in seiner Boxer-Shorts gut in Form fühlte, stieß ihn seinerseits und rief:
Bergwacht, das ist gut. Niemals würde die Bergwacht ein solches Bild der Bergwelt zeichnen. Das stammt von dir. Es ist das düstere Bild, das du dir von den Bergen machst. Warum bleibst du nicht in deiner Stadt. Niemand zwingt dich die Berge aufzusuchen.“
„Doch du“, konterte Alex, „indem du ständig von ihnen schwärmst und weiß was für Wunder von Oben und Unten erzählst.“
Tonke sah, dass sie wieder am immer gleichen Punkt ihrer Auseinandersetzung angelangt waren. Sie waren keinen Schritt weiter gekommen. Im Gegenteil, mit diesem gelungenen Streich hatte der Kontrahent einen Vorteil über ihn gewonnen. Wer würde denn von einem Nackten etwas annehmen. Er hatte die Hoffnung verloren, seinen Gegner überzeugen zu können. Deshalb machte er sich für den Rückzug bereit. Der Klügere weicht aus.
Als Alex, von seiner Frau gerufen, sich umdrehte, schlüpfte Tonke schnell ins Loch und ließ den Verstockten in seiner öden, selbsterzeugten Bergwelt zurück.

In sein Zimmer zurückgekehrt lag das große Bild noch immer auf dem ungemachten Bett. Tonke schlug schnell die Seiten um und stopfte den Kalender in den Umschlag. Wie sein Kontrahent sich die Berge vorstellte, sollte ihm fortan egal sein. Er musste sich nur davor hüten, ihm jemals wieder von seinen Erfahrungen mit Oben und Unten zu berichten.
Den Pappkarton warf er neben den Papierkorb, der nicht groß genug war ihn zu fassen.
Er rieb sich den Schweiß von der Stirn, das war ein heikles Unterfangen gewesen. Ein solches Abenteuer schon am Morgen. Ein starkes Hungergefühl überkam ihn. Er zog sich ein T-Shirt über, schlüpfte in die Pantoffeln und ging nach unten. Endlich frühstücken. MLF

Samstag, 27. April 2013

154 I Angeblich die Bergwacht



Wie Tonke beim Blättern eines Kalenders sich unversehens in eine öde Gebirgswelt versetzt sah und dort mit einem Freund in Streit geriet.

Als Tonke nach einer struben Nacht um zehn Uhr erwachte, lag ein Pappumschlag auf seiner Decke. Wo kommt denn der jetzt her?, fragte er sich verwundert. Brix wird ihn bei der Tür aufgelesen und ihn mir hingelegt haben, bevor er zur Arbeit ging. Das war seine Erklärung.
Tonke ging zur Toilette und verschaffte seiner drückenden Blase Erleichterung. Danach öffnete er den großen, geheimnisvollen Umschlag. Was mochte bloß darin stecken?
Ein Kalender der Bergwacht. Jedenfalls stand da ‚Bergwacht‘ drauf. Er überflog die ersten Bilder und wunderte sich. Die waren ganz anders als die großartigen Bilder, wie er sie von den früheren Kalendern des Bergwacht-Vereins gewohnt war. Statt strahlenden Gipfeln, rauschenden Wasserfällen und lieblichen Tälern sah er abgelegene, raue Täler, bedrohliche Überhänge und verlassene Dörfer, „Chräche“, wie die Alpenländer die unwirtlichen Täler nennen. Er fand diese Bilder ganz und gar untypisch für Kalendermotive. Da beschlich ihn der Verdacht, dass ihm da jemand etwas unterjubeln wollte.
Er nahm nochmal den Umschlag in die Hand. Die Adresse war von Hand geschrieben. Das war doch die Handschrift seines Freundes, Alex, eines jungen Hauptstädters, mit dem er sich neulich gestritten hatte. Wegen was denn? Es wollte ihm nicht einfallen.
War das die Antwort des Freundes? Alex wusste, dass er, Tonke, die Berge liebte. Ja dass schon der Unterschied zwischen Oben und Unten für ihn große Bedeutung hatte. Wollte er ihm mit diesen düsteren Bildern einen Denkzettel verpassen? Tonke suchte im Umschlag nach einem Begleitbrief, fand aber keinen.
Er saß in seiner Boxer-Shorts auf dem Bettrand, legte den Kalender zur Seite und trank aus der Flasche das restliche Wasser, das von der Nacht noch übrig geblieben war. Tonke stand auf. Zeit fürs Frühstück.
Doch der Kalender ließ ihm keine Ruhe. Er nahm ihn nochmal in die Hand, schlug ein weiteres Blatt über die Oberkante mit der Ringbindung nach hinten und betrachtete das nächste Großbild. Er hatte ein besonders düsteres Foto vor sich. Von oben sah er in ein Tal hinab, in dem es kaum Grün gab. Er gewahrte nur Felsen und Geröll in grauen und braunen Schattierungen. Über einen Hang hinab sah Tonke in eine Welt, in der Leben kaum vorstellbar war. Und doch erspähte er unten Dächer und die Konturen einiger Häuser, die ein verwittertes Bergdorf bildeten. Was für ein erbärmliches Leben mochten die Bewohner dieser Häuser in ihrer kargen Welt wohl führen? Überrascht war Tonke von drei großen Gebäuden, oben am Hang, gegenüber. Die Gebäude machten einen herrschaftlichen Eindruck. Es musste eine Beziehung geben zwischen dem ärmlichen Ort unten und dem stattlichen Herrensitz oben. Trotz dieser schönen Häuser schauderte ihn bei der Vorstellung, in diesem Tal wohnen zu müssen.
Von seinem Augpunkt aus führte ein gepflasterter Weg abwärts. Dieser war beidseitig von Steinmäuerchen eingefasst. Tonke bemerkte, dass sich, mit dem Blick der Straße folgend, sein Augpunkt veränderte. Sein Sichtfeld erweiterte sich, er gewahrte weiter vorgehend neue Dinge. Mit jeder Bewegung sah er mehr. Ohne Zweifel handelte es sich um ein holographisches Bild. Unversehens steckte er ganz in dieser Gebirgswelt drin.
Er ging abwärts über die großen, flachen Steine des Weges. Auch wenn an Vegetation nicht viel zu bewundern war, so atmete er doch die befreiende Luft der Höhe. Ein sachter Wind strich ihm durch die Haare. Aber der Schauer blieb.
Gegenüber, ziemlich auf der gleichen Höhe, sah er die drei stattlichen Bauten jetzt in Real. Für diese abgelegene Gegend wirkten sie ungewöhnlich großzügig. Besonders überraschten ihn die runden Formen, die sowohl die Dächer, als auch die Außenmauern bestimmten. Er musste an das Haus der Pi-Menschen denken, bei denen er im Ort am Meer Unterkunft gefunden hatte. Das war zwar nur ein kleines Haus gewesen, aber die runden Formen waren bestimmend gewesen. Über den Fenstern waren die Balken gewölbt gewesen und sogar das Bett, in dem er geschlafen hatte, war von einem ovalen Brett umspielt gewesen. Sein Blick hing unverwandt an den drei Bauten, während er mit nackten Füßen abwärts über die Steinplatten ging.
Da fiel ihm ein Streitgespräch mit Alex ein. Gerade neulich hatten sie sich gezankt. Tonke hatte ihm berichtet, dass etwas, das er in der Höhe erlebt hatte, sich unten fortgesetzt hatte. Oben hatte sich angekündigt, was ihm dann unten widerfuhr.
Alex hatte dagegen heftig protestiert. Als wollte ihm Tonke einen Bären aufbinden. Oder als würde diese Aussage ihn zu etwas zwingen, das ihm von Grund auf zuwider lief. Genau genommen hatte Tonke schon oftmals diese Beobachtung widergegeben und jedesmal hatte Alex mit heftigen Worten gekontert.
Tonke hatte es erwähnt, weil er es überraschend fand, dass er in einem Gebäude in der Höhe etwas voraussah, das ihm dann tagsüber unten in entsprechender Form zustieß.
„Das ist vielleicht bei euch Dörflern so, aber gewiss nicht bei uns in der Stadt“, hatte der Kontrahent bissig bemerkt. Alex wohnte in der Nesenbachstadt und führte dort ein kultiviertes Leben, mit viel Abwechslung, vielerlei Engagement und einem weitläufigen Freundeskreis. Gemessen an ihm kam sich Tonke tatsächlich wie ein Asket und Einsiedler vor. Obwohl er ja auch in einer Stadt wohnte, wenn auch in einer deutlich kleineren. Und mit Brix zusammen lebend war er auch nicht allein.
Jetzt aber schritt er mit bloßen Füßen dieses öde Gebirgstal hinab, wie er düsterer noch keines gesehen hatte. Tonke hätte auf die Provokation schweigen sollen  Aber im Eifer hatte er nicht an sich gehalten. Während er weiter abwärts ging, wurde der Streit wieder lebendig.  
„Dann kennst du die Degerhöhe nicht“, hatte Tonke herausfordernd gesagt. „Übernachte mal auf der Degerhöhe und gehe dann runter in die Stadt. Du wirst dich wundern, was sich da für Zusammenhänge auftun.“
Da war Alex richtig sauer geworden und hatte ihn einen Spintisierer und Verrückten geschimpft. Die Degerhöhe sei ein ganz gewöhnliches Wohngebiet, das nur zufällig etwas höher liege als das Zentrum.
Tonke war sehr ernüchtert gewesen, weil er einmal mehr erfuhr, dass es ihm nicht möglich war, seine besonderen Erlebnisse jemandem mitzuteilen.
Der Anblick der drei herrschaftlichen Bauten am Hang gegenüber stimmte ihn misstrauisch. Ihre Größe und Stattlichkeit wollte gar nicht zu dieser kargen, düsteren Welt passen. In Tonke reifte zunehmend die Überzeugung, dass sein Freund diese öde Gebirgswelt kreiert habe, um Tonkes Auffassung von den Bergen in Frage zu stellen. Die drei Bauten waren ihrer Erscheinung nach in die Nähe von Zwingburgen gerückt, die eine Talschaft knechteten. Wenn dem so war, hatte Alex ihn tüchtig missverstanden. Es ging nicht um eine Regentschaft, um einen Zwang, der von oben nach unten ausgeübt wurde, sondern um den Augpunkt, der Blick von oben, der einem eine Art prototypische Schau gab, von dem was einem im Alltag erwartete.
Er war sich jetzt ziemlich sicher, dass sein Kontrahent diese Landschaft geschaffen hatte, um seine Sicht des Zusammenspiels von Oben und Unten zu diskreditieren. Diese verzerrte Sicht bereitete Tonke großen Kummer.
Er war einige hundert Meter hinab gegangen, als ihn seine nackten Füße und seine unzureichende Kleidung innehalten ließen. Vielleicht sollte ich doch erst frühstücken und mich passend anziehen, bevor ich weiter diese düstere Gebirgswelt erforsche, sagte er sich und hielt an. Zwischen den Steinen wuchsen kräftige, widerstandsfähige Pflanzen und blühten auch. Wenn auch nicht so üppig wie die Tulpen und Magnolien in den städtischen Gärten. Er lehnte sich an einen Stein und entfernte die spitzen Krallen einer Distel aus seiner linken Fußsohle. Während er sich ausruhte, hörte er ein Motorengeräusch von einem Auto. Er schaute sich um, sah aber keinen Wagen.
Als er bergan zurückging, hört er den Wagen von neuem. Aber wieder sah er kein Auto. Es musste in der Nähe eine andere Straße geben, die für ihn nicht zu sehen war. Dem gleichmäßigen Geräusch des Wagens nach, war es eine Straße mit geringer Steigung. Ein Motor, der eine steile und überdies grob gepflasterte Straße bewältigen musste, wie die, auf der Tonke ging, würde sich ganz anders anhören. Anscheinend führte eine glatte Straße von der Stadt in dieses düstere Tal. Sie mochten in einer Parkbucht halten, ihren Campingtisch in die angrenzende Wiese stellen und die mitgebrachten Toastbrote verzehren. Möglicherweise würden sie die Schuhe ausziehen und die Füße in das Wasser eines plätschernden Gebirgsbaches halten, um sie, die Kälte des Wassers gewahr werdend, erschrocken zurückzuziehen.
Das Geräusch des Wagens erklang nicht wieder. Vielleicht hatte der Wagen wirklich gehalten oder er war in einem Tunnel verschwunden.
Oben, bei dem Loch angekommen, durch das er in die Landschaft geschlüpft war, hörte er Stimmen von unten.

Dienstag, 23. April 2013

141 II Rote und blaue Stoffpuppe



Hinten an der Wand, auf der anderen Seite des Raumes, sah Tonke zwei schöne Puppen. Die eine war rot, die andere blau. Sie waren gut zwei Spannen hoch. Er ging näher auf sie zu. Sie standen in einem Nest aus Holzwolle. Der Kern der Puppen schien aus Stroh zu sein. Obwohl die Köpfe gegen die Wand gelehnt waren, schienen sie lebendig zu sein. Es ging etwas Magisches von ihnen aus.
Der Astorianer schien sich über sein Interesse zu freuen und folgte ihm.
Tonke drehte sich ihm zu. „Es ist erstaunlich, wie lebendig sie wirkten“, äußerte er.
Sie entsprächen den polaren Gemütskräften, erklärte der Astorianer und bot ihm ein Couple davon an. „Sie können gern ein Paar davon haben. Voraussetzung ist, dass Sie ihnen ein Nest schaffen. Sie kommen dann von selber zu Ihnen.“
„Von selber?“, fragte Tonke verdutzt.
Ja, aber es bedürfe der stetigen Aufmerksamkeit und eines unbeugsamen Willens, erklärte der Astorianer mit hellwachem Ausdruck. Um diesen zu trainieren, müsse man ein halbes Jahr lang täglich einen Euro überweisen, sagte er.
„Warum nicht auf ein Mal?“, entfuhr dem ahnungslosen Tonke.
Der Mann mit der ernsten Stirn erklärte, es sei wichtig, dass von ihm jeden Tag etwas zu den Puppen flösse. Dann würden die Puppen zu ihm kommen.
Da die Zahlung jeden Tag und immer zur gleichen Zeit zu erfolgen hatte, auch samstags und sonntags, kam nur ein Konto bei einer Astoria-Bank in Frage. Weil nur diese eine solche Zahlungsweise unterstützten. Tonke glaubte, es handle sich um eine Verkaufsmasche und war verstimmt. Da ihn aber die Puppen fesselten, unterzeichnete er notgedrungen den Vertrag.
Der Astorianer stellte ihm in Aussicht, dass die Puppen schon vor Ablauf der Frist sich ab und zu bei ihm zeigen würden.

Als sich die Puppen nach bald einem halben Jahr noch immer nicht zeigten, wurde Tonke misstrauisch. Er wollte sich beschweren und hatte schon das Telefon in der Hand. Da fiel ihm das Nest ein. Er hatte den Nestbau vergessen.
Ein Nest zu bauen, in dem Zimmer, in dem er die Nacht verbrachte, stellte sich als schwieriger heraus, als er gedacht hätte. Es wurde ihm mal wieder bewusst, in welch beengten Verhältnissen er schlief. Er teilte das Schlafzimmer mit einer Familie. Die Eltern, drei Kinder und auf einem Feldbett er selber. Es blieb gar kein Platz für das doch ansehnliche Nest. Einzig an der Fußseite des jüngsten Kindes war eine Stelle frei.
Tonke hatte sich etwas grüne Wolle für den Boden des Nestes und Holzwolle für die Nestbegrenzung besorgt.
Er wartete bis die anderen schliefen und begann dann, im Lichtschein seiner Taschenlampe, zu Füßen des Kleinkindes das Nest auszulegen.
Die anderen erwachten nach und nach. Erst die beiden halbwüchsigen Kinder, dann die Eltern. Sie waren sofort neugierig, auf das, was er da anlegte.
Als er ihnen von den beiden Puppen berichtete, einer roten und einer blauen, waren sie alle begeistert und überschütteten ihn mit guten Ratschlägen.
 „Mach es doch noch etwas größer.“ „Der Rand ist nicht gleichmäßig.“ „Hier ist zu wenig.“ etc. Die vielen Bemerkungen erschwerten seine Arbeit. Von wegen husch, husch mal ein Nest formen. Das Kleinkind wachte auch auf und fing an zu schreien. Jetzt wurde an der Stelle des Nestes auch noch die Wand weggeschoben, die sich als Schiebetüre herausstellte.
Aber durch die Öffnung sah Tonke nicht in ein anderes Zimmer, sondern in die klaffende Leere eines Luftraums. Erst jetzt wurde er gewahr, dass sie sich nachts durch einen Luftraum bewegten und sich folglich in einem Flugkörper befanden. Damit erklärte sich auch die Enge im Schlafzimmer.
Die beiden Halbwüchsigen näherten sich der offenen Tür. Plötzlich warfen sie sich grölend in den Luftraum hinaus. Tonke, der ihnen nachschaute, passte einen Moment nicht auf und rutschte dabei unfreiwillig nach draußen. Er kriegte das Gestänge von etwas wie einem Sonnensegel zu fassen und hielt sich krampfhaft daran fest. Zwar spürte er, dass er auch fliegen konnte, aber was war, wenn es ihn vom Flugkörper wegtrieb. Wie sollte er je zu diesem zurückfinden? Er hangelte sich an dem Gestänge entlang in den Raum zurück.
Die Jugendlichen hatten es gar nicht eilig zurückzukehren. Erst als die Eltern drohten, die Tür zu schließen, kamen sie murrend zurück.
Aufgrund dieses Vorfalls erschien es Tonke wie eine Spielerei, diesen Puppen aus Stroh so viel Aufmerksamkeit zu schenken. Dadurch verlor das Nest seine Bedeutung, noch bevor es ganz fertig gestellt worden war.

An einem der folgenden Morgen berichtete Tonke seiner Mentorin, im Besprechungszimmer neben der Pforte, was er in jener Nacht und ein halbes Jahr davor erlebt hatte. Er fing an mit der großen Ausgrabungsstätte und dem vielen Gold, das zum Mangel an gewöhnlichen Pflastersteinen geführt habe. Dann beschrieb er die Puppen, wie er in seinem engen Schlafzimmer ein Nest für diese hatte anlegen wollen. Dann sei die Tür aufgegangen. Erst da habe er bemerkt, dass sie durch den Raum flogen.
Die Mentorin zog eine Schnute wie eine Gans. In garstigem Ton forderte sie, er solle das rapportieren und umgehend zwanzig Kopien an das Astoria-Zentrum in der Hauptstadt senden. MLF

Montag, 22. April 2013

141 I Rote und blaue Stoffpuppe



Wie es auf einer Ausgrabungsstätte vor lauter Gold zum Mangel an Pflastersteinen kam.

Wie Tonke für zwei Puppen ein Nest baute und dabei entdeckte, dass sie nachts durch den Luftraum flogen.



An der Größe gemessen war die Ausgrabungsstätte durchaus mit der Akropolis zu vergleichen. Aber das Gelände war nicht so steil wie der Tempelberg Athens. Es handelte sich um eine der weniger bekannten, antiken Tempelstätten. Die Grabungsarbeiten standen unter dem Patronat der Astoria-Bewegung. Diese Gemeinschaft fand großes Interesse an den vergessenen Zentren. Sie nannten diese Tempel Mysterienstätten, aufgrund des geheimen Wissens, das dort gehütet worden war.
Das Gelände war übersät mit Mauerresten und Säulenstumpen. Manche Tempelgebäude waren rekonstruiert worden. Einige Plätze und Wege sollten noch gepflastert werden. Dabei tat sich ein unerwarteter Engpass auf. Gewisse Teile gab es im Überfluss, andere dagegen, die dringend benötigt wurden, fehlten. So gab es einen großen Haufen mit goldenen Pflastersteinen. Aber es waren kaum noch granitene da. Die meisten der reichen Sponsoren hatten zur Auflage gemacht, dass ihr Geld ausschließlich in Goldgegenstände investiert würde. Als Bewunderer, der in den Tempelschulen gelehrten Weisheit und Hellsichtigkeit, hielten sie nur dieses kostbarste aller Edelmetalle für angemessen. Dabei hatten sie ihre Geldbörsen nicht geschont.
Auf der Ausgrabungsstätte fehlten aber die granitenen Pflastersteine. Man konnte vielleicht den Boden eines Tempelraumes mit Gold pflastern oder da und dort zum Schmuck einen goldenen Stein einsetzen. Aber unmöglich konnte man einen öffentlichen Platz mit goldenen Pflastersteinen auslegen. Niemand würde eine solche Rekonstruktion noch ernst nehmen.
Auch die arabischen Händler, die auf der Baustelle sich aufhielten, klagten über den Mangel an Granitsteinen. Tonke nahm die Arbeit auf sich, den ganzen Haufen durchzusehen. In mühsamer Arbeit setzte er den ganzen Berg von Pflastersteinen um. Er fand gerade noch zwei Stücke aus Granit darunter. Davon war das eine gebrochen. Also waren es genau genommen nur anderthalb. Damit lohnte es sich wohl kaum an die Arbeit zu gehen. Er ging deshalb zu den Verantwortlichen.
Bei der Grabungsstätte handelte es sich – wie gesagt - um ein Projekt der Astorianer. Wie die Wissenschaftler, so hielten auch die Mitglieder dieser Bewegung die Gedankenkraft des Menschen für dessen vorrangigste Begabung. Sie glaubten aber, dass der Verstand durch verborgenes Wissen, wie es in den antiken Einweihungsstätten gelehrt worden war, bereichert werden müsse. Sie setzten sich deshalb mehr als die öffentlichen Institute für die Rekonstruktion besonderer Tempel ein, die sie Mysterienstätten nannten.

Er fand sich in einem einfachen, kühlen Raum mit altertümlichen Möbeln. Der leitende Astorianer war ein freundlicher, älterer Mann mit einer ernsten Stirn und dichten, noch immer mehrheitlich dunklen Haaren. Sein Gesicht wirkte ungewöhnlich wach, fast transparent. Ein Ausdruck, der Tonke an Astorianern schon oft bemerkt hatte. Vielleicht ist ein solches Gesicht gemeint, wenn man von einem durchgeistigten Menschen spricht, sagte er sich.
 Tonke nahm auf einem der sonderbar geformten Stühle Platz und begann nach ein paar Worten über die drückende Hitze draußen sein Problem zu schildern. „Es gilt jetzt die Plätze und die Wege zu pflastern, auf denen die Menschen damals gegangen sind. Unsere Spender haben uns reichlich mit Pflastersteinen versorgt, aber sie sind alle aus Gold. Wir können doch nicht einen Weg, über den früher die Ochsenkarren gerollt sind, mit Gold auslegen.“ Er hielt kurz inne, um seine Mitteilung wirken zu lassen. Dann schlug er vor, man möge einen Teil des Goldes dazu verwenden, um ausreichend granitene Pflastersteine zu kaufen.
Auf diesen letzten Satz reagierte der Astorianer bestürzt. „Oh, nein, bitte nicht“, bat er fast flehentlich. „Wenn das die Spender erfahren.“ Er versprach dafür zu sorgen, dass sie schon am folgenden Tag einen Lastwagen voll gewöhnlicher Pflastersteine kriegen würden. Die goldenen Steine solle Tonke aufheben. Es gebe ja noch viele weitere Mysterienstätten zu entdecken, bei denen das Gold dann gewiss Verwendung fände.
Tonke war beruhigt. Er stand auf und wollte sich gerade verabschieden, da wurde er auf etwas aufmerksam.