Freitag, 5. Oktober 2012

107 Aufmarsch der Saurier - Tide



Wendys zwölftes Abenteuer

Noch bevor seine neue Reise begann, sah er zu Hause, wie sich seitlich vom Nachtischchen ein Antennenkabel aus der Wand schob. Als Wahlspruch für sein neues Abenteuer erklang:
Empfängnis bis auf den …“
‚…bis auf den‘ Grund, vervollständigte er den Satz in seinem Kopf.

Wendy befand sich nun in einem langgezogenen Raum. Die Luft war sehr dünn und durch die Fenster sah er aus Distanz nur Blau und Wolken. Das Gebäude musste sehr hoch gelegen sein. Der Raum bestand aus einer Aneinanderreihung von Flurstücken, alle mit Garderobe ausgerüstet. Im fielen festliche Kleider und schöne Pelzmäntel ins Auge. An diesen ganzen Raumabschnitten hing die Atmosphäre von gebildetem Bürgertum von Wohlergehen und Festlichkeit.
Dann tat sich plötzlich ein Raum auf, der im rechten Winkel zu den anderen stand und über den Abgrund hinausragte. Als erstes fiel Wendy auf, dass dieser Raum schlecht roch und verroht war, ganz im Gegensatz zu den vorigen. Dann sah er weiter draußen Frau Stiefel sitzen. Er ging auf sie zu und wollte sie begrüßen, wurde aber von einer merkwürdigen Erscheinung abgelenkt. Zu Füßen von Frau Stiefel tummelten sich kleine Saurier. Sie waren nicht größer als Spielzeugsaurier, aber sie waren echt, sie lebten. Wie hochbeinige Eidechsen mit Saurierkörpern sahen sie aus. Wendy spürte keine Angst, er war nur befremdet. Aber dann riefen diese Viecher ein anderes Wesen auf den Plan, das ihm wirklich Angst einflößte. Der Kopf dieses Untiers war der eines Marders, der Körper aber war breiter, wie der von einem Dachs. Das Tier war mindestens fünfmal so groß wie die Saurier, es war angriffslustig und sehr gefräßig. Es schien sich von den Sauriern zu ernähren, denn es packte immer mal wieder einen und verschlang ihn. Wendy sah in diesem Tier das eigentliche Übel. Er glaubte, die ganze Verheerung würde sich legen, wenn es ihm gelänge diesen dicken Marder auszulöschen. Er machte mehrere Versuche dem Tier auf den Nacken zu springen. Das müsste diesem das Genick brechen und die Gefahr wäre gebannt. Doch es gelang ihm nicht mal, in seine Nähe zu kommen. Er spürte, dass er dem Tier

nicht gewachsen war. Obwohl er viel größer war, konnte er nichts ausrichten. Rein energetisch ging es nicht.
Von diesem kurzen, konzentrierten Besuch in gebirgiger Höhe gelangte Wendy an einen Ort, an dem er mehrere Jahre seines Lebens verbrachte.

Er lebte und arbeitete mit Seminaristen zusammen in einem großen Raum. Es ging um nichts Geringeres, als den Impuls einer neuen Pädagogik. Die Überwindung der Klassenvorrechte in der Schule wurde angestrebt. Das Ziel war eine freie Bildung für alle Menschen. Sie waren Frauen und Männer gemischt. Ein schönes Gemeinschaftsgefühl verband sie, während sie über mehrere Jahre sich einer anspruchsvollen und herausfordernden Beschäftigung hingaben. Wendy war ganz erfüllt von dieser Gruppe und dem gemeinsamen Schaffen. Zusätzlich zu diesem einen Raum gab es noch Gartenhäuser auf einem nicht weit entfernten Grundstück. An den Abenden oder an freien Tagen gingen sie dorthin, um frische Luft zu schnappen und um sich zu zerstreuen. Die schönsten Gespräche fanden dort statt.
Wendy spielte in der Gruppe eine immer wichtigere Rolle. Mit seinem Ansatz, die Erziehung an der Entwicklung des Kindes auszurichten, gelang es ihm die Pädagogik auf einen neuen Level zu heben. Weg von der Paukerei und den Zwängen zur gesellschaftlichen Reproduktion. Sein Engagement führte dazu, dass die anderen sich immer mehr an ihn wandten. Er erhielt so viel Achtung, dass er sich zuweilen wie vergoldet vorkam. Vor allem wenn Bea zu ihm kam. Er spürte, dass sie von seinen Fähigkeiten geradezu überwältigt war. Aber langsam stellte er fest, dass er überfordert war. Ständig wurde er gefragt, ständig kam jemand und beanspruchte seine Aufmerksamkeit. In einer solchen Dichte zu leben, war ihm auf Dauer nicht möglich.
Irgendwann war Wendy aufgefallen, dass die Schlaf- und Arbeitsflächen nicht aus Bett, Tisch und Stühlen bestanden, sondern Kirchenbänke waren. Er hatte seinen Platz inzwischen in der vordersten Bank. Bea war vom Chor her zu ihm getreten. Auf ihr Lob hin antwortete er.
„Ja, ich habe eine gute Zeit gehabt. Aber ich spüre, sie geht jetzt vorüber. Eine andere oder ein anderer ist jetzt dran.“
Bea war nicht enttäuscht, sie wirkte eher erleichtert. Er sah es ihr direkt an. Als hätte sie gefürchtet, er könnte überheblich werden.

Dann trat große Unruhe auf. Es war Beat Amwald, der vom Chor her um Hilfe rief.
„Die Gartenhäuser sind eingestürzt“, rief er in den Seminarraum.
Mit einigen andern folgte ihm Wendy durch den höher gelegenen Chor nach draußen. Sie eilten Beat hinterher zum Garten.
Tatsächlich lagen die Hütten alle am Boden, zusammengeklappt wie Kartenhäuser. Beat gelang es über einen raffinierten Mechanismus, der aus einem schwarzen Hebel bestand, der durch den halben Garten reichte, einen Teil der Hütten wieder aufzurichten. Aber sobald er den Hebel losließ, fielen sie wieder hin. Da half nur noch direktes Handanlegen.
Wendy kletterte auf eine Stange, um das Haus, das ganz aus Stoff bestand, mit einem Seil zu fixieren, während die anderen es aufrecht hielten. Bea, über dessen Sportlichkeit er sich wunderte, kletterte mit ihm hoch. Während er die Beine fest um die Stange schlang, versuchte er mit den freien Händen das Dach der Hütte in einem Punkt zu verankern. In dieser schwierigen Lage verwickelte sie ihn in ein Gespräch.
Du hast von den Sauriern gesprochen“, sagte sie.
Wendy begriff nicht gleich, was sie meinte, bis ihm das Erlebnis im Gebirgshaus wieder einfiel. Er musste ihr davon berichtet haben.
Da er nicht reagierte, fuhr sie fort.
Bei uns heißt das tide.“ (Das regelmäßige Heben und Senken des Meeres, insbesondere an den Küsten)
In dem Moment hörte er Geschütze in der Ferne. Weit entfernt sah er Armee-Einheiten, die sich den Weg durch die Landschaft bahnten. Der Bereich, in dem sie agierten war von grellem Licht, das durch Gewitterwolken brach, erhellt. Obwohl die Truppen weit entfernt waren, konnte er deutlich sehen, welche Verwüstung sie anrichteten. Er ließ das Seil noch nicht los und überlegte fiebernd, wie die Gemeinschaft sich schützen könnte und was für Fluchtmöglichkeiten es gab. Doch dann ertönte am Hang, direkt bei ihnen, das grässliche Knirschen von Raupenfahrzeugen. Als er seinen Blick aufrichtete, sah er vom Hügel hinter dem Garten herab eine Panzerkolonne rollen, eingehüllt von einer großen Staubwolke und begleitet von schwer bewaffneten Fußsoldaten. Jetzt erst ließ er das Seil fallen. Von seinem erhöhten Aussichtspunkt aus sah er, mit welcher Freude an der Zerstörung die Soldaten vorrückten.
Als sie in den Seminarraum zurückkamen, lagen Zettel auf dem Tisch. Es waren die Einberufungen für die Männer. MLF

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