Wendys zwölftes Abenteuer
Noch bevor seine neue Reise begann, sah er zu Hause, wie sich
seitlich vom Nachtischchen ein Antennenkabel aus der Wand schob. Als Wahlspruch
für sein neues Abenteuer erklang:
„Empfängnis bis auf den …“
‚…bis auf den‘ Grund, vervollständigte er den Satz in seinem Kopf.
Wendy befand sich nun in einem langgezogenen Raum. Die Luft war
sehr dünn und durch die Fenster sah er aus Distanz nur Blau und Wolken. Das
Gebäude musste sehr hoch gelegen sein. Der Raum bestand aus einer Aneinanderreihung
von Flurstücken, alle mit Garderobe ausgerüstet. Im fielen festliche Kleider
und schöne Pelzmäntel ins Auge. An diesen ganzen Raumabschnitten hing die
Atmosphäre von gebildetem Bürgertum von Wohlergehen und Festlichkeit.
Dann tat sich plötzlich ein Raum auf, der im rechten Winkel zu
den anderen stand und über den Abgrund hinausragte. Als erstes fiel Wendy auf,
dass dieser Raum schlecht roch und verroht war, ganz im Gegensatz zu den
vorigen. Dann sah er weiter draußen Frau Stiefel sitzen. Er ging auf sie zu und
wollte sie begrüßen, wurde aber von einer merkwürdigen Erscheinung abgelenkt.
Zu Füßen von Frau Stiefel tummelten sich kleine Saurier. Sie waren nicht größer
als Spielzeugsaurier, aber sie waren echt, sie lebten. Wie hochbeinige
Eidechsen mit Saurierkörpern sahen sie aus. Wendy spürte keine Angst, er war
nur befremdet. Aber dann riefen diese Viecher ein anderes Wesen auf den Plan,
das ihm wirklich Angst einflößte. Der Kopf dieses Untiers war der eines Marders,
der Körper aber war breiter, wie der von einem Dachs. Das Tier war mindestens
fünfmal so groß wie die Saurier, es war angriffslustig und sehr gefräßig. Es
schien sich von den Sauriern zu ernähren, denn es packte immer mal wieder einen
und verschlang ihn. Wendy sah in diesem Tier das eigentliche Übel. Er glaubte,
die ganze Verheerung würde sich legen, wenn es ihm gelänge diesen dicken Marder
auszulöschen. Er machte mehrere Versuche dem Tier auf den Nacken zu springen.
Das müsste diesem das Genick brechen und die Gefahr wäre gebannt. Doch es
gelang ihm nicht mal, in seine Nähe zu kommen. Er spürte, dass er dem Tier
nicht gewachsen war. Obwohl er viel größer war, konnte er nichts
ausrichten. Rein energetisch ging es nicht.
Von diesem kurzen, konzentrierten Besuch in gebirgiger Höhe
gelangte Wendy an einen Ort, an dem er mehrere Jahre seines Lebens verbrachte.
Er lebte und arbeitete mit Seminaristen zusammen in einem großen
Raum. Es ging um nichts Geringeres, als den Impuls einer neuen Pädagogik. Die
Überwindung der Klassenvorrechte in der Schule wurde angestrebt. Das Ziel war
eine freie Bildung für alle Menschen. Sie waren Frauen und Männer gemischt. Ein
schönes Gemeinschaftsgefühl verband sie, während sie über mehrere Jahre sich einer
anspruchsvollen und herausfordernden Beschäftigung hingaben. Wendy war ganz
erfüllt von dieser Gruppe und dem gemeinsamen Schaffen. Zusätzlich zu diesem
einen Raum gab es noch Gartenhäuser auf einem nicht weit entfernten Grundstück.
An den Abenden oder an freien Tagen gingen sie dorthin, um frische Luft zu
schnappen und um sich zu zerstreuen. Die schönsten Gespräche fanden dort statt.
Wendy spielte in der Gruppe eine immer wichtigere Rolle. Mit
seinem Ansatz, die Erziehung an der Entwicklung des Kindes auszurichten, gelang
es ihm die Pädagogik auf einen neuen Level zu heben. Weg von der Paukerei und
den Zwängen zur gesellschaftlichen Reproduktion. Sein Engagement führte dazu,
dass die anderen sich immer mehr an ihn wandten. Er erhielt so viel Achtung,
dass er sich zuweilen wie vergoldet vorkam. Vor allem wenn Bea zu ihm kam. Er
spürte, dass sie von seinen Fähigkeiten geradezu überwältigt war. Aber langsam
stellte er fest, dass er überfordert war. Ständig wurde er gefragt, ständig kam
jemand und beanspruchte seine Aufmerksamkeit. In einer solchen Dichte zu leben,
war ihm auf Dauer nicht möglich.
Irgendwann war Wendy aufgefallen, dass die Schlaf- und
Arbeitsflächen nicht aus Bett, Tisch und Stühlen bestanden, sondern
Kirchenbänke waren. Er hatte seinen Platz inzwischen in der vordersten Bank. Bea
war vom Chor her zu ihm getreten. Auf ihr Lob hin antwortete er.
„Ja, ich habe eine gute Zeit gehabt. Aber ich spüre, sie geht
jetzt vorüber. Eine andere oder ein anderer ist jetzt dran.“
Bea war nicht enttäuscht, sie wirkte eher erleichtert. Er sah es
ihr direkt an. Als hätte sie gefürchtet, er könnte überheblich werden.
Dann trat große Unruhe auf. Es war Beat Amwald, der vom Chor her
um Hilfe rief.
„Die Gartenhäuser sind eingestürzt“, rief er in den Seminarraum.
Mit einigen andern folgte ihm Wendy durch den höher gelegenen
Chor nach draußen. Sie eilten Beat hinterher zum Garten.
Tatsächlich lagen die Hütten alle am Boden, zusammengeklappt wie
Kartenhäuser. Beat gelang es über einen raffinierten Mechanismus, der aus einem
schwarzen Hebel bestand, der durch den halben Garten reichte, einen Teil der
Hütten wieder aufzurichten. Aber sobald er den Hebel losließ, fielen sie wieder
hin. Da half nur noch direktes Handanlegen.
Wendy kletterte auf eine Stange, um das Haus, das ganz aus Stoff bestand,
mit einem Seil zu fixieren, während die anderen es aufrecht hielten. Bea, über
dessen Sportlichkeit er sich wunderte, kletterte mit ihm hoch. Während er die
Beine fest um die Stange schlang, versuchte er mit den freien Händen das Dach
der Hütte in einem Punkt zu verankern. In dieser schwierigen Lage verwickelte sie
ihn in ein Gespräch.
„Du hast von den Sauriern
gesprochen“, sagte sie.
Wendy begriff nicht gleich, was sie meinte, bis ihm das Erlebnis
im Gebirgshaus wieder einfiel. Er musste ihr davon berichtet haben.
Da er nicht reagierte, fuhr sie fort.
„Bei uns heißt das tide.“
(Das regelmäßige Heben und Senken des Meeres, insbesondere an den Küsten)
In dem Moment hörte er Geschütze in der Ferne. Weit entfernt sah
er Armee-Einheiten, die sich den Weg durch die Landschaft bahnten. Der Bereich,
in dem sie agierten war von grellem Licht, das durch Gewitterwolken brach,
erhellt. Obwohl die Truppen weit entfernt waren, konnte er deutlich sehen,
welche Verwüstung sie anrichteten. Er ließ das Seil noch nicht los und
überlegte fiebernd, wie die Gemeinschaft sich schützen könnte und was für
Fluchtmöglichkeiten es gab. Doch dann ertönte am Hang, direkt bei ihnen, das
grässliche Knirschen von Raupenfahrzeugen. Als er seinen Blick aufrichtete, sah
er vom Hügel hinter dem Garten herab eine Panzerkolonne rollen, eingehüllt von
einer großen Staubwolke und begleitet von schwer bewaffneten Fußsoldaten. Jetzt
erst ließ er das Seil fallen. Von seinem erhöhten Aussichtspunkt aus sah er,
mit welcher Freude an der Zerstörung die Soldaten vorrückten.
Als sie in den Seminarraum zurückkamen, lagen Zettel auf dem
Tisch. Es waren die Einberufungen für die Männer. MLF
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