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Mittwoch, 27. Juni 2012

75 Pause beim Loslassen


Er spürte, er musste noch mehr loslassen. Aber den ganzen Tag nur in flüchtiger Berührung mit Menschen, erst mit Begeisterten von Mannschaftsspielen, dann mit einem Zeitungsverkäufer und seinem Gegenspieler, fehlte Toni die zwischenmenschliche Nähe. Deshalb entschloss er sich, Mark und Heinrich aufzusuchen, bevor er sich einem neuen Erlebnis stellte.
Als er zum Bus zurückkam, verstaute er alle beweglichen Gegenstände und setzte sich hinters Steuer. Schon während er der burgähnlichen Anlage entlang geschritten war, hatte der Wind die Wolken über den Himmel getrieben. Dadurch wechselten die Lichtverhältnisse ständig. Die Stimmung war irgendwie unruhig. Er schaltete das Licht ein, für den Fall, dass er unter eine dunkle Wolke geraten sollte.
Ein Blick beim Fahren auf den leeren Beifahrersitz rief etwas ins Bewusstsein, das unterschwellig in ihm wirkte, seit Mili sich zurückgezogen hatte. Er hatte niemanden, der ihm Gesellschaft leistete, niemand, dessen Nähe er spürte. Er hatte, seit sie sich nicht mehr zeigte, keine intensive körperliche Berührung mehr erlebt. Zwar wusste er, dass Mili noch immer bei ihm war – sie hatte ihm ja weiter jede Nacht eine Geschichte erzählt - da lief auch noch sexuell etwas zwischen ihnen. Das spürte er, wenn er aufwachte, an seiner Gestimmtheit. Aber was beim Schlafen sich abspielte, zählte nicht am Tag. Nur was im Wachzustand erlebt wurde, ließ das Tagesbewusstsein gelten. Deshalb hatte er das Bedürfnis nach der Nähe zu einem Menschen, ein intensives Begehren, das einem Hungergefühl ähnlich kam.
Er hatte jetzt die Pforte des abgegrenzten Eschenbacher Industriegebiets erreicht und passierte sie. Während er durch die untere Siedlung, den Hang hoch und durch den inneren Bezirk oben zu ihrem Haus fuhr, beschäftigte ihn die Frage, wen er sich denn auf dem Nebensitz –
oder deutlicher gesagt – neben sich im Bett wünschen würde? Da war ihm sofort klar, eine andere Frau hatte neben Mili nicht Platz. Mili würde das nicht zulassen. Mit einem Mal stand ihm der Rahmen ihrer Geschichten viel deutlicher vor Augen. Sie hatte ihn in die Welt der Männer eingeführt, die ähnliche Erfahrungen machten wie er. Bodo, René, Mark, … sie waren auch nicht von der Pubertät an hombsch gewesen, sondern hatten erst nach und nach zum gleichen Geschlecht gefunden. René von Nathalie dazu verleitet, Frauenkleider zu tragen, Bodo von Anna mit dem Schlüssel beschenkt, Mark, den Heinrich nach der Zeit mit der Familie in diese neue Welt eingeführt hatte. In ihren Geschichten hatte sie ihm diese Menschen nahe gebracht. Und indem sie sich jetzt zurückzog, forderte sie ihn auf, sie zu treffen, um unter ihnen jemanden zu finden, mit dem er eine hombsche Beziehung eingehen konnte. Er war, als er den Wagen auf dem Parkplatz unter ihrem Haus abstellte, guter Dinge, dass er in dem Kreis, den Mili ihm mit ihren Geschichten geöffnet hatte, einen Geliebten finden werde.

Mark öffnete die Tür, er bat ihn herein und drückte ihn an seine kräftige Brust.
„Wie geht’s?“, fragte Toni und schaute ihn prüfend an.
„Viel besser“, antwortete Mark. Er drehte seine Arme. „Das Taubheitsgefühl ist noch da, aber ansonsten habe ich kaum noch Probleme. Gelegentlicher Schwindel und eine Abwehr gegen alles, was mit Wasser zu tun hat.“
Wo Heinrich stecke, fragte Toni.
Er sei von der Arbeit direkt zu Freunden gegangen, die seinen Beistand brauchten , antwortete Mark und fragte, ob er ihm etwas zu essen anbieten dürfe. „Und ein Bier?“
Toni nickte. „Gerne.“
„Brot und was drauf?“
„Sehr gerne.“
Während sich Mark in die Küchennische begab, ging Toni durch die Stube zur Wand aus Glas. Er sah am Abendhimmel rötlich gefärbte Wolkenbahnen wie Landbänke im Meer des hellen Blaus treiben. Ihm schien, die Luft sei ruhiger geworden.
Mark deckte den Tisch mit Wurst, Käse und Brot. Er sagte, dass er sonst abends gerne geräucherten Fisch esse. Aber derzeit möge er nichts, was mit Wasser in Verbindung stehe. Er goss für sie beide ein Bier ein und sie stießen an. In der Küche klingelte der Eierkocher. „Ich habe sie hart gekocht, abends Frühstücksei passt nicht, finde ich.“ Salz und Mayonnaise standen dazu auf dem Tisch.
Während Toni sein Brot strich, erkundigte er sich nach Heinrichs Beruf und erfuhr, dass Heinrich Drucker war, in einem großen Druckereizentrum, das viele Zeitungen druckte. „Den Freunden, die er besucht, ist ein großes Missgeschick zugestoßen“, berichtete Mark. „Genauer gesagt, ihre Not hat eine Neuauflage bekommen.“
„Wie, was genau?“, wollte Toni wissen.
„Das Gericht hat ihnen vorgeworfen, sie hätten sich zusammengetan, um Steuern zu sparen. Der eine, der nach Meinung der Staatsanwaltschaft der eigentliche Nutznießer war, bekam eine Gefängnisstrafe aufgebrummt.“
„Ist ja nicht möglich“, rief Toni aus.
„Doch, das war vor sechs Jahren. Diese Tage wäre er freikommen, zu seinem Vierundsechzigsten…“
„Warum ‚wäre‘?“, unterbrach Toni.
„Der Staatsanwalt fand, das könnte Schule machen, wenn er jetzt noch eine schöne Alterszeit genoss. Deshalb haben sie seine Strafe nachträglich verlängert. Er muss jetzt bis siebzig, in Haft bleiben.“
„Unglaublich, wie man das Leben der Hombschen stört“, klagte Toni betroffen.
Mark klang erstaunlich optimistisch. „Heinrich wird’s hinkriegen, sie aufzumuntern“, fand er. „Er hat Erfahrung darin.“
„Wie meinst du?“, fragte Toni.
„ Wenn ich länger hier bin, beklage ich mich oft, dass ich mich wie in einem Gefängnis fühle.“
„Und wie reagiert er dann?“
„Er verwöhnt mich auf alle möglichen Weisen. Aber letzten Endes hilft mir doch nur, in den Transit zu steigen und für eine Weile auf Fahrt zu gehen.“
„Dann lass ich den Wagen wieder hier?“, tastete Toni ab.
„Nein, nein, nimm ihn mit. Noch fühle ich mich sehr glücklich bei Heinrich. Ich weiß gar nicht, ob mein Abenteuersinn nach dem letzten Erlebnis wieder erwachen wird. – Du kannst aber auch hier übernachten, wir haben zwei Gästezimmer zur Wahl.“
„Danke“, wehrte Toni ab und erklärte, er habe das Gefühl, sich noch von etwas weiterem trennen zu müssen. Toni erzählte Mark, von seinem Erlebnis mit dem Spielfeld, wie ihn die Plane gestört hatte und wie er auf dem Hügel jedes Interesse für dieses Spiel verloren habe.
Mark bekundete sein Einverständnis. Er habe ähnliche Erfahrungen gemacht.
Toni berichtete ihm auch von der Tatzenzeitung, einem Tagesjournal ohne die üblichen vier Ecken und von der labyrinthischen Anlage mit menschengroßen Karten, von der er vermute, dass sie die Gesellschaft versinnbildliche. - Da fiel ihm der Mann wieder ein, der die Skepsis gegen die Zeitungen verstärkt hatte. Er beschrieb ihn, kräftig, runde Visage, beinahe kahl, eine ruhige etwas tonlose Stimme…
„Oppermann“, sagte Mark.
„Siehste, dachte ich mir doch“, entfuhr es Toni.
„Oppermann ist mein Berater“, teilte Mark ihm mit. „Eine wichtige Person für mich. Ohne ihn wäre ich wahrscheinlich nicht auf Fahrt gegangen und säße hier in einem Gefängnis, ohne darum zu wissen. – Aber sag, woher kennst du ihn?“
Toni wurde verlegen. Er konnte ja nicht sagen, vom Bericht einer Frau im Fischkleid, die er im Bad eines stillgelegten Grand Hotels in einem Bündner Kurort kennengelernt hatte. Er flüchtete sich in eine allgemeine Bemerkung. „Oppermann ist eine wichtige Figur“, sagte er. „Ich glaube den kennen viele. Wenn du etwas loslassen willst, wird er dich gerne beraten.“
„So kenne ich ihn auch“, bestätigte Mark.
Toni stand auf. Er bedankte sich. Mark begleitete ihn zur Tür. „Übrigens“, sagte Mark, „wenn du Tanken musst oder sonst was brauchst, greife …“ Er beschrieb das Geheimfach, wo die Fahrtkasse versteckt war. Toni konnte nicht verbergen, wie gelegen ihm das kam.

Für diese Nacht brauchte Toni den Bus nur als Fahrzeug. Er hatte vor, bei jemandem um Unterkunft zu bitten. AS

Mittwoch, 20. Juni 2012

70 Fahrt nach Eschenbach

Als Toni aufwachte, war heller Tag. Er fand sich am Boden eines Wohnmobils. Die Seitenfenster waren verdunkelt, aber durch die Frontscheibe drang ungehindert das Tageslicht. Er drehte sich auf den Bauch und steckte den Kopf ins Kissen. Milis Erzählung hatte ihn verwirrt. Es war, als hätte sich ein Tag dazwischen geschoben, an der Seite Erduans. Die ungerechte Behandlung der Bolschoias durch den Prüfer Reinert hatte ihn aufgewühlt, nicht weniger der Umstand, dass dieser Prüfer krank war, schwer krank sogar. Danach war er zwar nochmal eingeschlafen, aber die Geschichte beschäftigte ihn noch immer.
Die Situation, in der er sich eigentlich befand, war nicht weniger aufregend. Er hörte den ruhigen Atemzug des Schlafenden und gelegentlich ein Stöhnen. Toni erinnerte sich, wie er am Abend die Parkplätze auf der andern Seite des Stadtteils abgesucht hatte. Auf dem ersten Parkplatz hatten zwei Wohnmobile gestanden, aber beide nicht von der Marke Ford, von der der Schlüssel stammte. Auf den nächsten beiden Plätzen gab es nur PKWs und Lieferwagen. Kurz vor dem Dunkelwerden fragte er einen jungen Mann, der gerade sein Auto abstellt hatte.
„Gibt es noch andere Parkplätze weiter draußen?“
Der Angesprochene sah ihn befremdet an und antwortete nicht.
Toni eilte weiter. Auf einem kleinen Parkplatz, der hinten von Büschen begrenzt war, stand ein Ford-Wohnmobil. Der spannende Augenblick, als er den Schlüssel ins Schloss steckte. Was, wenn es doch das falsche Fahrzeug war und er das richtige nicht finden würde? Dann müsste er mit Mark eine Nacht im Park verbringen. Würde er am folgenden Tag kräftig genug sein, um selber nach dem Wagen zu suchen? Noch während er sich alle Widrigkeiten überlegte, ertönte auf eine leichte Rechtsbewegung ein mehrfaches Schnurren der Zentralverriegelung. Das Fahrzeug war offen, es war das richtige.
Bis an zweihundert Meter konnte er an die Bank ranfahren, auf der Mark schlief. Der Liegende wirkte wie betäubt. Toni machte mehrere Versuche ihn aufzurichten, bis er soweit war, dass er mit seiner Unterstützung gehen konnte. Im Bus half er ihm aus den Kleidern. Mark war robust gebaut mit schweren Knochen. Ein anderer Mensch hätte so eine Strapaze vielleicht gar nicht ausgehalten. Mark legte sich hin und Toni deckte ihn zu. Er reichte ihm eine Flasche mit Sprudel, aus der er gierig trank. Dann ließ er sich wieder in seinen Betäubungszustand fallen. Toni fand eine Schaumstoffmatratze, die in den schmalen Gang passte. Bevor er sich schlafen legte, öffnete er die Tüte vom Mittag und verzehrte nach langer Verzögerung Brot, Sardinen und Tomaten. Erschöpft, aber sehr zufrieden legte er sich auf die dünne Matratze und schlief sofort ein.

Er drehte sich. Wie spät mochte es sein? Er richtete sich auf. Mark lag mit dem Gesicht zur Wand und schien noch immer zu schlafen. Toni stand auf und schaute über die Sitze aufs Armaturenbrett, halb zehn. Da Mark sich nicht rührte, entschloss er sich, ein Stück zu fahren und in einem anderen Stadtteil zu halten, weg von Kleinengingen. Er suchte in den Schränken und fand trockene Hosen und Hemden. Für ihn viel zu groß, aber besser als in die nassen Kleider zu schlüpfen. Um die Schiebetür nicht zu öffnen, kletterte er zwischen den Sitzen vor und setzte sich hinters Steuer. Er startete den Motor und horchte. Mark reagierte nicht. Er verließ das Gelände mit den Büschen, bog in eine größere Straße ein, die in den südlichen Teil der Stadt führte. Auf dem großen Parkplatz eines Einkaufszentrums hielt er an. Dabei stellte er das Wohnmobil so, dass die Schiebetür zur Wiese zeigte. Im Eingangsbereich des Supermarktes war eine Bäckerei. Er kaufte ein halbes Brot. Sorgfältig schob er die seitliche Tür auf. Von den nassen Kleidern hing ein unangenehmer Geruch in der Luft. Erst jetzt schaute er auf die Kochecke. Der Gasherd stand offen. Es gab auch einen Kühlschrank. Aus den Schränken, die mit versenkten Druckverschlüssen zu öffnen waren, holte er eine Pfanne, füllte diese halbvoll mit Mineralwasser und entzündete das Gas. Beim Öffnen der Kaffedose verbreitete sich ein angenehmer Geruch. Er übergoss das Pulver und drückte den Stab mit dem Sieb nach unten. Als er zum Bett schaute, sah er, dass Mark sich aufgerichtet hatte. Er schien aber nicht ansprechbar. Toni klappte den Tisch um, aus dem Kühlschrank holte er alles was man für ein gutes Frühstück brauchte, Butter, Marmelade, Käse und Wurst. Er goss eine Tasse Kaffee ein und streckte sie Mark hin. Dieser nahm sie entgegen. Er reichte ihm auch einen Teller mit einem belegten Brot, aber den Teller legte er auf das Bett. Toni hatte richtig Hunger und schnitt sich eine Scheibe nach der anderen runter. Mark nahm gelegentlich einen Schluck Kaffee, das Brot rührte er nicht an. Er räusperte sich. Mit schwacher, fast nur gehauchter Stimme fragte er:
„Können Sie mich zu meinem Freund in Eschenbach fahren?“
„Gerne, erwiderte Toni und nach einer Pause. Wie geht’s denn? Soll ich Sie nicht lieber ins Krankenhaus fahren?“
Mark bewegte heftig den Kopf, womit er den Vorschlag von der ärztlichen Untersuchung ablehnte. Dann fuhr er sich mit der rechten Hand über die Unterseite des linken Arms und das gleiche mit dem rechten Arm. „Die Unterseiten der Arme sind taub. Aber da können die auch nichts ändern. Das wird sich wieder geben.“
„Wie lange warst du eigentlich im Kanal?“
Mark hob den Kopf. Er schien zu überlegen. „Ich weiß es nicht. Eher zwei Tage, als nur einer, vielleicht sogar drei. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit.“
Toni räumte den Tisch ab und verstaute alles, inklusive dem Brot, das Mark nicht gegessen hatte. Mark zog die trockenen Kleider an, blieb aber auf dem Bett liegen. Erst als sie nach Eschenbach kamen, richtete er sich auf und wies Toni den Weg zu einem umzäunten Gebiet. Sie fuhren durch ein Tor, durchquerten den unteren Bereich und stiegen dann zu einer Siedlung, die höher lag. An einer Straße mit neuen Häusern zeigte er auf ein Gebäude oberhalb der Straße. Toni parkte den Wagen auf der gepflasterten Fläche davor.

Sie hatten kaum gehalten, als über die Steinstufen in einem frisch angelegten Garten ein Mann herabkam, mit rundem, rosigem Gesicht und deutlichem Bauchansatz.
„Wo ist Mark?“, fragte Heinrich, als Toni ihm die Hand entgegenstreckte.
„Mark ist hinten drin, er ist geschwächt“, erklärte Toni.
„Wieso, was ist passiert?“, fragte Heinrich besorgt.
„Man hat ihn in Kleinengingen gefesselt. Ich habe ihn zufällig gefunden.“
Die Gesichtsfarbe Heinrichs wechselte von rosa zu weiß. Als sie die Seitentür öffneten, saß Mark auf der Liege – völlig apathisch, zu keiner Regung fähig. Aber ein leichtes, irgendwie verlegenes Lächeln huschte über sein Gesicht und weckte die Hoffnung, dass er sich bald erholen würde. Sein Freund schien zu spüren, dass für drängende Fragen keine Zeit war. Er und Toni halfen Mark, die Stufen hochzusteigen.
Durch einen Eingangsraum mit Garderobe betraten sie ein geräumiges Wohnzimmer. Es wurde von einer Glaswand, die bis zum Boden ging, beleuchtet. Schöne frei kombinierte Holzschränke an den Wänden bestimmten den Raum. Eine moderne Sofaecke mit breiter Rückenpolstern und schrägen Seiten, lud zum Entspannen ein. Heinrich vertraute ihm Mark an und holte ein Betttuch, das er auf das gepflegte, gelblich weiße Sofa breitete. Er schien ein reinlicher Mensch zu sein. Sie führten Mark zur Sofaecke, wo dieser sich halb aufgerichtet ausstreckte. Da Mark noch immer nichts sagte, wandte sich Heinrich Toni zu.
„Wo haben Sie ihn denn gefunden? Wer hat ihn gefesselt?“
Toni entschloss sich, den Bericht etwas zu vereinfachen. „Außerhalb Kleinengingens. Ich wollte auf einer Parkbank vespern, als ich jemanden um Hilfe rufen hörte. Ich bin den Rufen gefolgt und habe ihn am Kanal an einen Baum gefesselt gefunden. – Wer ihn gefesselt hat, weiß ich nicht. Ich habe so meine Vermutungen, aber sicher bin ich nicht. Kleinengingen soll eine sehr effiziente Bürgerwehr haben. Ich vermute, dass er gegen eine ihrer Regeln verstoßen hat und geächtet wurde. – Sie wissen nicht, was er in Kleinengingen vorhatte?“
Heinrichs Gesicht zeigte eine Spur von Unmut. „Er teilt mir nie mit, wohin seine Fahrten ihn führen. Ich habe nicht mal gewusst, dass er nach Kleinengingen wollte.“ Er warf Mark einen verärgerten Blick zu.
Toni überlegte, dass es doch besser war, wenn Heinrich das mit dem Wasser wusste. „Ich hätte Ihnen gerne ein Detail erspart. Aber für den Fall, dass sich Marks Zustand nicht bessert und sie zu einem Arzt oder Psychologen müssen, sollten Sie folgendes wissen...“
Heinrich starrte ihn fragend an.
„…Man hat ihn im Kanal an die Wurzeln des Baumes gefesselt. Nur den Kopf haben sie raus ragen lassen.“
Heinrich verfiel für einen Moment in einen Zustand wie Mark. Seine Augen öffneten sich weit. Entgeistert drehte er sich Mark zu, dem nicht anzusehen war, ob er ihrem Gespräch gefolgt war. Dann wandte er sich wieder Toni zu.
„Haben Sie etwas gehört in der Stadt? Irgendein Hinweis auf eine Bestrafung?“
Toni zögerte. Er konnte ja nicht verraten, dass er Marks Erlebnis von Milis Bericht kannte, einer Frau im Fischkleid, die er im Bad eines stillgelegten Grand Hotels in einem Bündner Kurort kennengelernt hatte. Es schien ihm nicht wichtig, dass Heinrich von Marks Auftritt im Rathaus wusste. Alles was er zu wissen brauchte, hatte er ihm gesagt. „Tut mir leid, bemerkte er, da müssen Sie wohl warten, bis Mark seine Apathie überwindet. – Ich denke, es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Ruhe und Ihre Nähe werden ihm guttun.“
Mark legte den Schlüssel des Wohnmobils auf den Sofatisch und stand auf. „Fährt von hier in der Nähe ein Bus ins Zentrum von Eschenbach?“, fragte er.
Bevor Heinrich antworten konnte, richtete sich Mark vom Sofa auf, beugte sich vor und griff nach dem Schlüssel. Er streckte ihn Toni entgegen und sagte mit gehauchter Stimme. „Nimm den Bus mit. In den nächsten Tagen brauche ich ihn nicht.“
Toni schaute verwundert zu ihm und dann zu Heinrich. Dieser nickte. Er schien sogar erleichtert zu sein.
„Ja, nehmen Sie ihn mit“, sagte Heinrich.
Toni drückte Mark die Hand. Heinrich begleitete ihn zur Tür. Dort bot er ihm das Du an.
Er werde morgen oder übermorgen vorbeikommen, sagte Toni und stieg die Außenstufen hinab. AS

Montag, 18. Juni 2012

68 Befreiung aus dem Wasser

Als Toni das Haus verließ, fühlte er sich hungrig. Er lief stadteinwärts und schaute sich nach einem Imbiss oder einem Laden um. Jasmus hatte ihn eingeladen, bei Ruben vorbeizugehen, aber aus einem Grund, der ihm selber nicht klar war, hatte er abgesagt. Hatte jedoch Interesse für später bekundet. Er würde sich melden. Tatsächlich hatte er das Gefühl, an diesem Tag noch etwas leisten zu müssen, obgleich er nicht wusste, was ihm bevorstand. Jasmus war auch beschäftigt. Der Fall mit dem abgebrannten Karree von Häusern war sicher nicht leicht zu lösen. Er beneidete ihn nicht um diese Aufgabe. Die Spurensicherung nach einem Brand war besonders schwierig. Er würde auf die Redebereitschaft der Geschädigten angewiesen sein. Ob die mitmachten, war fraglich. Toni kam an eine Wurstbude. Die roch aber wenig vertrauenswürdig. Also ging er weiter. Wie weit der Künstler Jasmus dabei mit seinen Grabungen behilflich sein würde, konnte Toni nicht abschätzen. Es war ihm nicht möglich einen Zusammenhang zwischen einem aktuellen Vorfall wie einem Großbrand und einer Substanz im Boden herzustellen. Der Boden bestand doch aus Ablagerungen, jüngeren wie Humus und Älteren wie Gesteine und Fossilien. Fleisch im Boden? Das war ihm neu. Er schüttelte den Kopf, diese Künstler lebten wirklich in einer anderen Welt.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah er einen Supermarkt. Ob es der war, den Jasmus besucht hatte, bevor er zur Veranstaltung mit den Muschelbäumchen gegangen war? Toni trat ein. Er nahm eine Dose Sardinen aus dem Regal, zwei Brötchen aus dem Bäckerkorb und von der Gemüseauslage zwei Tomaten und zahlte an der Kasse. Mit der Tüte in der Hand schlenderte er durch die Straße, auf der Suche nach einem ruhigen Platz. Er gelangte in einen Stadtteil, dessen Sträßchen sehr eng waren. Er fühlte sich wie im Urlaub, in einer idyllischen Stadt, die sich über die Jahrhunderte nicht verändert hatte. Zum Hinsitzen waren ihm die Straßen an den Kanälen aber zu unruhig. Auf einem Querweg gelangte er nach draußen und nahm schließlich Platz auf einer Parkbank, die etwas abseits vom Weg hinter Büschen stand. Die Sonne sandte ihm ein paar Strahlen und er blinzelte ihr zu. Dicht daneben machte sich eine dunkle Wolke breit, von der er nicht wusste, wann sie ihn von seinem Sitz im Freien vertreiben würde. Toni brach eines der Brötchen in zwei Hälften und zog die Kartonumhüllung von der Sardinendose ab, als er eine unfreundliche, finstere Stimme hörte.
„Von mir aus können Sie ewig hier angebunden bleiben!“
Als Antwort glaubte er ein Stöhnen zu hören. Er sah, dass eine Person auf dem Weg hinter den Büschen weiterlief, aber nur eine. Wo war die andere Person, deren Stimme er undeutlich vernommen hatte? Er steckte Brot und Dose nochmal in die Tüte und ging vor zum Weg. Den älteren Mann, der bei ihm vorbeigegangen war, sah er in der Ferne verschwinden, aber keine zweite Person. Man versteht nicht alles, sagte er sich und setzte sich wieder auf die Bank. Wie er nach der Dose griff, hörte er eine Schar Kinder plaudernd und schreiend näher kommen. Er schenkte ihnen keine Beachtung, bis er wieder die gleiche gepresste Stimme hörte.
„Kommt, helft mir!“
Als Antwort rannten die Kinder davon. Toni stand sofort auf und ging auf den Weg. Er konnte aber niemanden sehen. Gewiss war der Betreffende noch in der Nähe. Vielleicht ein Mann, vor dem die Eltern ihre Kinder warnten. Sie sagten nicht, das ist ein Pädophiler, der versucht euch zu begrapschen und auszuziehen, sondern, der will euch wehtun, nehmt euch vor ihm in Acht.
„Hallo, ist da jemand?“, rief Toni.
Da hörte er die schwache Stimme wieder, sah aber niemanden. Er ging einige Schritte in Richtung der Laute und rief. „Hallo, wo sind Sie?“
„Hier bin ich, hier!“, antwortete eine männliche Stimme leise.
Noch ein Schritt und Toni sah ein ganz unglaubliches Bild. Neben dem Weg war ein Kanal, am Ufer stand ein großer Baum und hinter diesem Baum im Wasser sah er einen Kopf – nichts als einen Kopf. Wie ein Stromschlag traf es ihn. Die Geschichte von Mili kam ihm im selben Moment in Erinnerung, ‚Die Räte im Glasschrank‘. Konnte es sein, dass er den Mann vor sich hatte, den vier Männer der Bürgerwehr Kleinengingens in einem Kanal außerhalb an die Wurzeln eines Baumes gefesselt hatten? Aber in der Geschichte war Mark doch ganz optimistisch gewesen. Er hatte geglaubt, sich selber befreien zu können. Wenn er es tatsächlich war, dann hatte er sich geirrt. Toni sah ein kräftiges, gebräuntes, aber blasses Gesicht, krause Haare, die mal sehr dunkel gewesen sein mussten, jetzt aber von silbernen Haaren durchwirkt und aufgehellt waren. Toni brachte kein Wort hervor. Er kniete nieder. Da erkannte er, dass dies kein Verrückter war, sondern dass seine ausgestreckten Arme festgebunden waren. Bei näherem Hinschauen sah er Lederschnüre, womit ihn jemand an einer kräftigen Wurzel festgebunden hatte. Die Anzeichen bestätigten, dass es sich tatsächlich um jenen mutigen Fahrenden handelte, der früher die verborgene Siedlung im Wald aufgespürt hatte. Da er nicht wusste, wie er den Gefesselten ansprechen sollte, wandte er sich dem Band am rechten Handgelenk zu. Die Lederschnüre waren so gut verknotet, dass sie von Hand nicht zu lösen waren. Er wollte nach einem scharfen Stein schauen, aber der Gebundene versuchte ihm etwas mitzuteilen. „Tasche“, stieß er mit schwacher Stimme hervor und bewegte den Kopf nach unten.
„Haben Sie ein Messer in der Tasche?“, fragte Toni.
Er nickte.
Toni schaute sich um, ob es eine andere Lösung gab. Aber ihm fiel nichts ein. Wohl oder übel ließ er sich ins Wasser gleiten. Mit Mühe konnte er stehen, so dass gerade sein Kopf aus dem Wasser ragte. Er tastete die Taschen ab. Tatsächlich steckte in der rechten Hosentasche ein harter Gegenstand von der Form eines Taschenmessers. Er legte die Hand flach an die Taille und schob seine Finger Stück für Stück in die gespannte Tasche. Es gelang ihm das Messer an einem Schlüsselbund vorbei herauszuholen. In dem Moment hörte er Stimmen. Durch den Gefangenen ging ein Zucken. Toni presste seinen Kopf nah an die Böschung. Wenn jemand ihn sah, würden sie gewiss die Bürgerwehr allarmieren. Den Stimmen nach war es ein älteres Paar. Sie schienen nichts von ihnen wahrzunehmen. Ohne dass sich ihr Redefluss veränderte, gingen sie vorbei. Kaum dass sie weg waren, machte er sich an die Arbeit. Es war ein rotes Offiziersmesser mit einem silbernen Kreuz. Mit der großen Klinge durchtrennte er mit wenigen Bewegungen das Leder. Der Arm sank kraftlos ins Wasser. Der Gefangene schien jetzt, kurz vor der Befreiung, alle Kraft zu verlieren. Wenn er ihn losband, würde er ins Wasser fallen und womöglich ertrinken. Deshalb nahm er den befreiten Arm und legte sich diesen von hinten über die rechte Schulter.
„Halte dich an mir fest!“, drängte er den Erschöpften. Erst als dieser sich an seinen Rücken lehnte und er auf der Schulter Druck spürte, streckte er die linke Hand aus und durchtrennte die anderen Lederschnüre. Der linke Arm fiel nach unten.
„Wir müssen raus, bevor neue Leute kommen“, sagte er nach hinten. Er horchte und schaute sich um. So weit er sehen konnte, war der Moment günstig. Er drehte sich mit dem Erschöpften der Wiese zu, legte dessen Arme aufs Gras. Bückte sich unter ihm weg und drückte ihn gegen die Böschung. Dann ging er runter ins Wasser, umschloss die Oberschenkel mit den Armen und schob ihn langsam nach oben. Toni gab das eine Bein frei und setzte dessen Fuß auf eine Wurzel. Dann schob er an seinem Gesäß. Sobald der Erschöpfte mit dem Oberkörper auf dem Trockenen war, kletterte er selber hoch. Der Erschöpfte lag regungslos auf der Wiese. Toni schaute sich unruhig um. Wenn jetzt jemand kommt, sind wir verloren, fürchtete er.
„Kannst du ein paar Schritte gehen oder soll ich dich ziehen?“, fragte er leise.
Langsam richtete sich der Mann auf und drehte sich gegen den Baum, so dass er den Oberkörper anlehnen konnte. Sein Blick war in die Ferne gerichtet wie bei einem Nachtwandler. Toni ging in die Knie, legte jetzt dessen linken Arm über seine Schulter und wartete bis der Erschöpfte langsam mit ihm hochging. Sie schafften die zwanzig Meter bis zur Parkbank hinter den Büschen. Kaum hatte er den Erschöpften auf die Parkbank gelegt, schlief dieser schon. Toni nahm das Handgelenk und suchte nach dem Puls. Seine Angst wich, als er ein deutliches Pochen spürte. Er setzte sich und atmete tief durch. Ein Blick nach oben, zeigte ihm, dass die dunkle Wolke verschwunden war. Da fiel ihm der Schlüssel ein. Er griff in die Tasche und holte einen Autoschlüssel mit zwei weiteren Schlüsseln am Ring heraus. Toni hegte keine Zweifel mehr, dass es sich um Mark handelte. Irgendwo musste er ein Fahrzeug abgestellt haben. Vom Chef beauftragt war er nach Kleinengingen gefahren. Wenn die Geschichte Milis stimmte, war er von Eschenbach her gekommen und hatte das Wohnmobil auf einem Parkplatz an der Einfallstraße abgestellt. Dieses Fahrzeug ist zu finden. Eine andere Chance haben wir nicht, sagte er sich. Er richtete Mark auf, um ihm seinen Entschluss mitzuteilen. Er hielt ihm den Schlüssel vors Gesicht.
„Ich hole dein Wohnmobil. Bleib hier, entferne dich nicht!“ Der Erschöpfte nickte und sank sofort wieder zurück.
„Ich komme bald, warte hier!“, schärfte ihm Toni nochmal ein. Dann hastete er los, zur anderen Seite des Stadtteils. AS

Dienstag, 12. Juni 2012

65 Die Räte im Glasschrank

Auf der Sitzbank im Eschenbacher Schwimmbad ruhten sie sich von ihren Runden aus. Da erteilte ihm der Chef einen neuen Auftrag.
„Schau mal in Kleinengingen vorbei. Die Wasserkanäle sind dort so schmal, dass sie – sollte wieder ein Winter wie in den Dreißigern und Vierzigern des vorigen Jahrhunderts kommen – einfrieren werden. Sieh dich um, was du tun kannst. Aber sei vorsichtig, der letzte, den ich hingeschickt habe, hat sich an den scharfen Kanten dieser Stadt verletzt.“ Nach einer Weile sagte er nochmal. „Nimm dich in Acht. Sie haben eine gut funktionierende Bürgerwehr. Wenn sie dich erkennen, bist du schneller wieder draußen, als du reingekommen bist.“
Mark wunderte sich, als er ins Städtchen kam, es war noch viel kleinflächiger, als er vermutet hatte. Im Innenbereich waren die Wege so eng, dass kaum zwei Menschen aneinander vorbeigehen konnten. Würde mich nicht wundern, wenn die Kanäle einfrören, sagte er sich. Wegen der Warnung des Chefs, versuchte er zielstrebig zum zentralen Gebäude der Stadt zu gelangen. Bei den gleichförmigen Gebäudereihen ein ziemliches Unterfangen. Aber schließlich stand er vor dem Rathaus – ein Gebäude, modern a la Disney, eine neue Variante des Zuckerbäckerstils. Er trat ein, stieg in den ersten Stock. Am Sekretariat legte die Frau ihren Finger auf die Lippen. „Die Herren sind in Beratung.“
„Ich werde erwartet“, flüsterte er zurück. Ihrem zweifelnden Blick schenkte er keine Beachtung und schritt auf die Tür zu, öffnete sie und trat ein. Mitten im Raum stand ein großer gläserner Schrank. Die Wände, die Türe, die Böden, alles aus Glas. Auf dem mittleren Boden standen zwischen zehn und zwanzig Räte und debattierten.
Sie schienen sein Eintreten nicht erwartet zu haben. Erst als er vor dem Schrank stand, entdeckten ihn welche. Man sah sich an und starrte auf ihn. Mark war klar, er musste schnell handeln. Wenn sie erkannten, wo er herkam, wäre er verloren. Er hatte schon die Schwachstelle erkannt. Wenn es ihm gelang einen der Bodenträger zu lösen, konnte er womöglich den Glasboden zum Kippen bringen. Er ging zur linken Ecke, stellte sich darunter und stemmt seine Schulter mit aller Kraft gegen das Glas. Der Bodenträger löste sich, er zog daran, ließ ihn fallen und sprang zurück.
Die Räte, neugierig, was er getan hatte, kamen nach vorne … dadurch neigte sich der Glasfläche und sie purzelten alle übereinander wie Schildbürger zu Boden.
Von dem Donnern aufgeschreckt kamen die Sekretärin, der Hausmeister und noch zwei weitere Personen angerannt. Mark stellte sich vor die feste Türhälfte. Als sie hineinrannten, schlüpfte er nach draußen. Er hörte einen der Räte rufen: „Haltet ihn!“ Aber kurz darauf hatte er das Gebäude schon verlassen.
Dass ihm der Streich so gut gelungen war, machte ihn übermütig. Statt fluchtartig Kleinengingen zu verlassen, setzte er sich auf eine Parkbank im Außenbereich und wartete ab, wie die Einwohner reagieren würden. Er konnte sich durchaus vorstellen, dass Bürger die Abschaffung des Glasschranks forderten.
Aber eines hatte er vergessen. Die Warnung des Chefs vor der Bürgerwehr. Zwei Stunden nach seinem Blitzstreich umzingelten ihn am frühen Nachmittag plötzlich vier kräftige Burschen. Er wehrte sich nicht. Sie schleppten ihn noch weiter aus der Stadt hinaus zu einem der äußeren Kanäle. Dort banden sie ihn mit Lederriemen an das Wurzelwerk eines Baumes, der im Wasser stand. Nur sein Kopf ragte heraus. Dann verschwanden sie. Trotz dieser misslichen Lage wirkte in ihm noch die Freude über den gelungenen Streich.
Langsam jedoch wurde ihm seine Lage bewusst. Im Randbereich des Ortes, wo kein Mensch vorbeikam. In einem Kanal, der nicht gut roch. Ob der Chef ihn suchen werde? Dessen war er sich nicht so sicher. Er zog an den Wurzeln, zu prüfen, wie weit sie sich dehnen ließen. Wenn er mit dem Kopf zu den Riemen käme, könnte er sie durchbeißen. Er musste allerdings den Kopf unter Wasser stecken, um die Zähne ins Leder schlagen zu können. Aber er war guter Dinge, dass ihm das früher oder später gelingen würde. MLF

Dienstag, 29. Mai 2012

57 Das Eschenbacher Schwimmbad


Toni mochte die lauten Schwimmbäder nicht, in denen sich die Massen tummelten und ihm vom Geschrei die Ohren schmerzten. Deshalb war er glücklich, als er im Wald ein ruhiges Bad entdeckte, in dem sich nur wenige Menschen ergötzten.
Als Mili nachts zu ihm kam, schwärmte er von diesem Bad. Endlich habe er einen Ort gefunden, an dem er sich wohl fühle. Fortan werde er sich nur noch dort erholen. Mili äußerte sich nicht. Sie gab sich in seine Arme und sie vereinigten sich. Aber aus der Geschichte, die er anschließend zu hören bekam, schloss er, dass sie seine Begeisterung für das abgelegene Bad nicht teilte. AS

Der Wald war für ihn eine große Entdeckung. Er verbrachte mehr Zeit im Wald als in der Stadt. Um die Firma, in der er früher gearbeitet hatte, machte er einen großen Bogen. Aber ab und zu kam er doch nach Eschenbach. Dabei hatte er auch ein oder zweimal den Chef getroffen. Mark hatte mit seinem Wohnmobil bei der Bank gehalten und vom Automaten Geld geholt. Als er zurückkam, hielt ein großes, glänzendes Gefährt neben seinem ziemlich verstaubten Wohnmobil. Der Chef stieg aus und trat wie zufällig zu ihm.
„Es ist gar nicht leicht die richtigen Leute zu finden“, sagte er. „Eine verwaiste Stelle mit jemandem Patentem zu besetzen, grenzt heute an ein Kunststück.“
Mark bezog diese Bemerkung nicht auf sich und nickte verständnisvoll. Der Chef einer großen Firma hat vielfache Sorgen und es tut ihm gut, wenn er sich erleichtern kann. Er fragte Mark nicht, wann er wiederkomme. Aber in der Stimme klang doch ein leiser Vorwurf: Wann hört diese Herumreiserei endlich auf?
Als Mark wieder mal in Eschenbach Halt machte, zog es ihn auch hier in den Wald. Er stellte sein Wohnmobil in der Ortsmitte auf einen Parkplatz, der sich als hinreichend sicher erwiesen hatte und ging auf direktem Weg durch den Ort in den angrenzenden Wald. Sofort fühlte er sich wohl im Halbdunkel unter den hohen Stämmen und atmete befreit den angenehmen, feuchten Geruch von Moos und Blättern ein. Er stieg zu einer etwas erhöhten Stelle und entdeckte dort von den Bäumen überwachsene Mauern – die Ruinen einer einstigen Burg. Nur die Stümpfe der Mauern waren noch erhalten und ragten irgendwie traurig hervor, bedrückt vom Moder, der sie verdeckte und den Myriaden kleiner Viecher, die unermüdlich an ihrem endgültigen Zerfall arbeiteten. Mark war gekommen, um sich im Wald zu erholen. Doch da stieß er auf eine Pyramide, die sich hinter der Ruine in den Bäumen erhob. Die Pyramide empfand er als Angebot. Er konnte sich im Wald aufhalten und gleichzeitig eine Pyramide ersteigen. Eine bessere Verbindung konnte er sich gar nicht denken. Als er sich anschickte, die erste Stufe der Pyramide zu erringen, stand plötzlich sein Chef neben ihm.
„Mensch, Mark, hier steckst du also“, entrang er sich schnaufend wie eine unter Druck stehende Maschine.
Mark war so überrascht, dass ihm kein Grußwort gelang. Die geballte Spannung eines Leitenden in schwieriger Position, traf ihn.
„Ich bitte dich dringend, komm!“
Ohne dass der Chef es explizit formulierte, fragte er damit, ob er die Arbeit annehmen würde. Er hatte ihm ein Angebot zu einem höheren Preis gemacht und ihm Bedenkzeit gegeben. Wenn er ihm jetzt gefolgt war, so hieß das, dass er dringend benötigt wurde. Als Antwort setzte Mark sich auf einen liegenden Stamm und begann sich die Schuhe anzuziehen, die er auf dem weichen Waldboden ausgezogen hatte. Der eine Schuh hatte einen sehr langen Bändel. Weil der Chef so unruhig war, wickelte Mark diesen flüchtig um den Schaft und verknotete ihn. Dann stand er auf und folgte seinem Arbeitgeber. Dieser eilte voraus und legte die Strecke, die Mark vorher in Stunden gegangen war, in wenigen Minuten zurück.
Als sie aus dem Wald traten, hielt der Chef inne und gab Order, was als erstes zu geschehen hatte. „Wir gehen jetzt zusammen ins Schwimmbad, wir drei!“, ließ er verlauten.
Das Eschenbacher Schwimmbad, fügte Mark in Gedanken hinzu. Um die sonst triviale Aussage für sich selbst ins richtige Licht zu rücken. In einer Stadt, die in ihrem Wappen den Weltenbaum Yggdrasil stehen hatte und das Wasser, das durch die Stadt floss auf die Quelle unter eben diesem Baum zurückführte, war ein Aufenthalt im Schwimmbad nicht ein bloßes Freizeitvergnügen. Mark kamen Zweifel, ob er bei dieser Arbeit wirklich bestehen würde. Dazu brauchte man eine dicke Haut. Im strammen Schritt gingen sie vom Waldrand zum Schwimmbad. Da der Weg eng war, ging Mark voraus.
„Wenn euch meine Empfindlichkeit nicht stört“, rief er warnend nach hinten.
Der Chef antwortete nicht. Wahrscheinlich hatte er andere Sorgen. Mark war gespannt auf den dritten im Bunde. Ob es einer der Kollegen war, die er von früher kannte oder jemand Neues?
Vor dem Schwimmbad stand eine große Gruppe von Eschenbachern. Sie trugen alle dicke Öljacken oder waren im Begriff welche anzuziehen. Ein weiteres Merkmal dieser Stadt, die Lieblingskleidung ihrer Bewohner waren die Gummimäntel oder Pelerinen, um sich gegen Einflüsse von außen zu schützen. Die Gummimäntel, die sie trugen, schienen Mark besonders tauglich. Er liebäugelte damit, sich bei dieser Gelegenheit mit einem einzudecken. Entschied sich aber dagegen. Er hatte ja schon welche und außerdem trug er sie ungern. Er glaubte nämlich im Umgekehrten, dass man das, was von außen kam, auf sich wirken lassen musste, auch wenn es unangenehm war.
Vor dem Eingang des Schwimmbads stand MaLu.
„Nanu, du hier?“, rief er aus und wollte sie herzlich begrüßen. Aber die Stimmung, die von ihr ausging, ließ ihn innehalten.
„Wo ist dein Wettermantel?“, fragte sie nüchtern, obwohl sie selber keinen trug. 
„Ich mag diese Dinger nicht“, gab Mark offen zu. Seine Stimme klang resigniert, weil sie ihn so frostig empfing.
Du hast keine Ahnung, um was es geht“, fuhr sie ihn an.
Er stand da wie ein begossener Pudel. Das mit der Öljacke konnte nicht der alleinige Grund sein. Hatte sie ihn nicht auch schon mal zurechtgewiesen, weil er sich vom Alkohol angeheitert einen Regenmantel angezogen hatte? Es musste noch einen anderen Grund geben, weshalb sie ihm gram war. Das konnte nur der Wald sein. Dass er sich im Wald aufgehalten hatte. Langsam dämmerte ihm, wer der dritte im Bund war. Nicht jener Ingenieur, den er geglaubt hatte, sondern sie, MaLu selbst, die auf unerklärliche Weise immer mit ihm in Verbindung stand. Was auch erklärte, warum der Chef ihn im Wald hatte finden können. MLF