Sonntag, 26. August 2012

90 Ein Haus in Bünden


Wer war dieser Angeklagte gewesen, in diesem schrecklichen Gerichtsprozess?, fragte sich René immer wieder. Da er selber verfolgt worden war, ließ ihm die Sache keine Ruhe und er fing an zu recherchieren. Dabei fand er heraus, dass der Angeklagte selber ein Anwalt war und in Oberreinach eine Anwaltspraxis führte. Als er dort anrief, sagte eine Stimme auf Band. ‚Voranmeldung ist nicht möglich. Mit Wartezeiten ist zu rechnen. Bringen sie etwas Zeit mit‘. Von zeitweiliger Schließung des Büros wurde nichts gesagt. Daraus schloss René, dass die Meute im Gericht, dem Anwalt doch nichts hatte anhaben können.
Die Nacht vor dem Besuch beim Anwalt, verbrachte er bei Bekannten und schlief mit dem Freund und einigen anderen auf einer Pritsche im Obergeschoss. Erst am Morgen fiel ihm der ungewöhnliche Zuschnitt des Obergeschosses auf. In der Mitte war ein einziger großer Raum, der zugleich als Flur diente. Von diesem gingen, eingefasst von schönen Holzrahmen, in mehrere Richtungen Treppenstufen hoch. Aber diese wurden nicht als Treppenaufgänge genutzt, sondern dienten als Schlafräume. Über die Stufen gelangte man zu einer Pritsche, genau wie in dem Raum, in dem er geschlafen hatte. Er sah viele solche Aufgänge und in jedem hielten sich viele Kinder auf. Das veranlasste ihn, seinen Freund zu fragen. „Wie viele seid ihr denn?“
„Wir haben gerade einige Gäste“, bekam er zur Antwort. „Mit ihnen sind wir genau hundert.“
René war mehr als erstaunt. Da die Zahl achtzehn genannt wurde, mutmaßte er, dass sie so viele Kinder waren.
Auch die Mutter trat im großen Raum des Obergeschosses in Erscheinung. Sie machte einen sehr dynamischen und erfrischenden Eindruck. Sie schien nicht übermäßig belastet. 

Stufen führten zum Eingang des massiven Gebäudes hoch. Vor dem Zimmer des Anwalts traf er auf eine lange Schlange von Menschen. Daraus schloss René, dass er bei einer wichtigen Person vorsprach. Es hieß, dass der Anwalt von jedem Menschen, der sich an ihn wende, einen Akte vorliegen habe. René war einerseits begierig einen Menschen, der einen solch widerlichen Prozess unbeschadet überstanden hatte, näher kennenzulernen. Andererseits war er neugierig, ob der Anwalt von ihm auch eine Notiz verwalte.
Als nur noch zwei Personen vor ihm in der Schlange standen, konnte er den Anwalt an seinem Arbeitstisch sehen. Wie sein erster Eindruck im Gericht gewesen war, so sah er auch jetzt einen väterlichen Menschen vor sich. Ein schönes Gesicht mit nicht wenigen Falten und einer warmen Ausstrahlung.
Als René dran war, legte ihm der Anwalt ein Blatt vor, auf dem ein Gebäude abgebildet war. Das Haus stand in den Bergen.
Es gehört dem Jud, Dubist", bemerkte der Anwalt dazu.
Es war ein schönes, modernes Haus, ganz neu gebaut. Die linke vordere Seite hatte statt einer Ecke eine Rundung. Daran konnte René erkennen, dass es vom Baumeister persönlich gebaut worden sein musste. René begriff nicht, was es mit diesem Haus auf sich hatte. Die Zeit, die ihm zustand, war zu kurz, um viele Fragen zu stellen. Die nächsten drängten hinter ihm. Bevor der Anwalt sich der folgenden Person, einer älteren Dame, zuwandte, machte er ihn nochmal auf die Besonderheit des Namens aufmerksam. „Nicht Dubist, sondern Du-Bist, heißt der Bauherr“, betonte er.
René machte einen Schritt und die Alte rückte nach. Er sagte sich, dass er das Haus dieses Juden zumindest mal anschauen möchte. Deshalb wandte er sich nochmal an den Anwalt.
„Die Adresse. Können sie mir die Adresse nennen?“
Die Alte mit Klunkern im Ohr fühlte sich sichtlich gestört und warf ihm einen gehässigen Blick zu. Der väterliche Anwalt wies mit dem Stift auf eine Zeile unterhalb des Bildes. Dort stand. ‚Bünden, am Hang beim Zentrum‘. René bedankte sich.
Draußen setzte er sich auf die Stufen und nahm das Blatt, das ihm der Anwalt mitgegeben hatte, in näheren Augenschein. Wirklich, ein sehr schönes Haus, dachte er. Wie er jetzt den Namen des Bauherrn nicht nur hörte, sondern auch las, begriff er erst, was es mit diesem Namen auf sich hatte. „Du bist“ hieß der Bauherr. Da erst dämmerte ihm, warum das Bild dieses Hauses ausgerechnet in seiner Akte lag. MLF

Freitag, 17. August 2012

89 Zwei Greife


Die Nacht in einem Fraßgang
Die Nacht verbrachte er in einem Motel, dessen Schlafeinheiten wie Fraßgänge eines Borkenkäfers vom Weg, der zugleich ein Flur war, abgingen. Sie lagen deutlich tiefer, so dass er hinabsteigen musste. Die Brutstätte bestand aus einem zweigeteilten Raum und einem Bad. Das Ganze sah so neu aus, dass er meinte, er sei der erste, der diese Schlafstätte nutzte. Doch ein Junge war schon da. Ob er ihn störte? Es machte den Eindruck, denn er verließ augenblicklich den Raum. Tommy nahm eine der Decken und stellte sich oben auf den Weg. In den hinteren Räumen sah er mehrere Frauen beieinander. Nicht wenige von ihnen winkten mit großer Armbewegung. Es bestand also durchaus der Wunsch, zu ihm unter die Decke zu schlüpfen.
Als er danach mit einer von ihnen den Raum bezog, kehrte auch der Junge zurück. Er zeigte sich jetzt nicht mehr so abwehrend, sondern verhielt sich wie ihr gemeinsames Kind. Nur als Tommy ihn im Bad nach seinem Namen fragte, benahm er sich komisch. Er nannte einen zweiteiligen Namen mit Punkt dazwischen. Etwas wie „hero.dot“.
Tommy lachte verlegen. „Ist das dein Spiele-Namen?“, fragte er. Der Junge wird viel am Computer hängen, dachte er, er identifiziert sich mit einer seiner selbst gewählten Rollen. Kein Wunder, wenn er an einem so ungewöhnlichen Ort wohnt.
„Ich bin Tommy“, sagte Tommy, um ihn zu mehr Vertraulichkeit zu animieren. Aber es kam nichts weiter von ihm. Tommy bemerkte, dass die Frau sich amüsierte. Auf ihren runden Wangen bildeten sich Grübchen. Er kam sich ziemlich unbeholfen vor.

Nach einer Nacht an einem solchen Ort, was würde sich da tags darauf ereignen? Es folgte tatsächlich ein Tag, an dem er mehr erlebte, als sonst in einem Monat.

Die Greife
Bess, die Schwärmerin, die ihm bei der Hochzeit so bittere Vorwürfe gemacht hatte, würde diesen Monat Geburtstag feiern. Tommy dachte daran, wie kalt es üblicherweise in ihrer Küche war. Und er fragte sich, was man dagegen unternehmen könnte. Dieses Problem zu besprechen, fuhr er auf die Hochfläche, wo er mit Bess gemeinsame Freunde hatte.
Er traf sie im Hof vor ihrem Haus.
„Hallo Maren, hallo Reichhold“, begrüßte er sie.
Nachdem sie ein paar Neuigkeiten ausgetauscht hatten, kam er auf sein Anliegen zu sprechen.  
„Habt ihr daran gedacht, dass Bess diesen Monat Geburtstag hat?“
Die beiden sahen ihn verwundert an. Reichhold antwortete. „Ach so, ja, aber das ist doch noch eine Weile hin.“
„Trotzdem mache ich mir Gedanken“, sagte Tommy. „Erinnert ihr euch, wie kalt es die letzten Jahre bei ihr war?“
„Hm, fandest du?“, fragte Reichhold. Er schien sich nicht zu erinnern.
„Doch, schrecklich kalt“, beharrte Tommy. „Deshalb wollte ich euch fragen, ob ihr nicht von eurem Brennholz etwas abgeben könntet und sie bittet an dem betreffenden Morgen tüchtig einzuheizen oder schon ein paar Tage davor?
Reichhold und Maren sahen sich verblüfft an. Erst zeigten sie sich skeptisch, wie immer, wenn jemand an ihrem Reichtum nagen wollte. Aber schließlich stimmten sie doch zu.
„Wenn du meinst“, sagte Maren und Reichhold fügte hinzu. „Wir wollen sehen, was sich machen lässt.“
Ob er schon gefrühstückt habe, fragte Maren daraufhin.
Tommy schüttelte den Kopf.
Er solle sich zu ihnen setzen, forderte sie ihn auf. Sie seien auch etwas spät dran.
In dem Moment stakste ganz nah bei ihnen ein prächtiger Greif-Vogel hin und her. So groß wie ein kleiner Mensch, mit prächtigem Federkleid. Unter dem Vordach stehend betrachteten sie das außerordentliche Tier. Dass er sich so nah bei ihnen aufhielt, war ungewöhnlich. Vom Nacken herab über den Rücken fielen senkrechte Federn. Sie waren zu einem Umhang verbunden, der das halbe Federkleid bedeckte. Jede der Federn hatte drei bis vier verschiedene Farbsegmente, die mit den Farben der nebenliegenden Federn abwechselten, wodurch eine Farbenfülle entstand, wie sie Tommy noch selten gesehen hatte.
„Schau, der fliegt nicht weg“, sagte Maren und rannte auf den Vogel zu. Der hüpfte einige Schritte vor und flog tatsächlich nicht auf. Da erst sah Tommy dahinter einen zweiten, noch größeren Greif-Vogel mit einem Federkleid, das aussah, als hätte er sich wertvolle Decken aus Federn übergeworfen. Der Saum von jeder von diesen war mit einer strahlend weißen Bordüre verziert, wie kostbare Seidenspitzen.
Tommy erkannte sofort den Zusammenhang. Der bunte Vogel durfte nicht fliegen, solange der mit den weißen Bordüren nicht aufflog.
„Lass ihn“, sagte er zu Maren. „Er kann nicht, solange der vordere nicht fliegt. Es ist ihm nicht erlaubt.“
Leicht brüskiert drehte sich Maren um. „Kommt, wir gehen frühstücken, sagte sie und ging nach drinnen voran. Reichhold folgte ihr.
Tommy wurde von einer Entdeckung zurückgehalten. Unter dem Federkleid des Vogels dahinter sah er menschliche Beine. Die Federn verbargen eindeutig eine menschliche Gestalt. So ungewöhnlich fand er das nicht. Er hatte schon anderswo Menschen gesehen, die sich in einen Greif verwandelt hatten und es war auch nicht das erste Mal, dass er unter einem großen Vogel einen Menschen wahrnahm. Darum schien ihm auch vernünftig, als eine Stimme laut und deutlich sagte:
„Der hintere muss den vorderen zum Fliegen animieren.“
Während dem Frühstück mit den beiden beschloss er Bess aufzusuchen. Sie hatte ja immerhin einen Sohn von ihm. Nachdem er gut gegessen und reichlich Kaffee getrunken hatte, verabschiedete er sich von dem gastfreundlichen Paar. Er legte ihnen nochmal nahe, das mit dem Brennholz nicht zu vergessen.

Tommy fuhr zum Laden, um ein kleines Geschenk für den Jungen zu kaufen. Überraschenderweise traf er sie draußen auf dem Parkplatz an. Bess hatte das Söhnchen dabei. Der hatte sich total verändert. Durch die Haare sah man seine spezielle Kopfform nicht mehr und weil sie kraus waren und der Kopf rund und das Gesicht gebräunt, wirkte er fast negroid. Tommy begrüßte ihn durch die offene Wagentür. Aber der Junge wies seine Hand weg und taxierte ihn abwertend.
„Er mag keine Jacketts“, sagte Bess. „Du bist viel zu vornehm gekleidet.“
„Geht ihr jetzt nach Hause?“, fragte er.  „Darf ich auf einen Sprung vorbeikommen?“
Sie antwortete nicht gleich. Nach kurzem Überlegen sagte sie. „Um fünf kommt Beat von der Bank. Komm lieber dann. Du hast doch versprochen für uns zu arbeiten.“
Ihm war ihr Vorschlag gar nicht unpassend, denn er hatte noch einen Termin am frühen Nachmittag.
Es sei ihm recht so, sagte er. Er hoffe, er werde pünktlich sein.
Er winkte dem Jungen. Aber dieser behielt seine Abwehrhaltung bei.
Wenn er für sie arbeiten würde, brauchte er ja kein Geschenk, sagte er sich. Statt in den Laden zu gehen, fuhr er gleich nach Hause.

Ich vermute, sie ist Polin
Am Nachmittag fand in der Landeshauptstadt ein Kongress statt. In dessen Rahmen war ein Treffen mit Leuten verabredet, die eine engere Zusammenarbeit mit der Firma, in der er arbeitete, anstrebten. Tommy war beauftragt, die Interessierten zu treffen. In einem der weitläufigen Flure des Kongresszentrums traf er auf die Delegation. Sie bestand aus zwei Frauen. Mit der einen hatte er schon telefoniert, er erkannte sie sogleich an der Stimme. Sie hieß Yvette und war eine fesche Frau mit blonden Haaren. Sie stellte ihm ihre Kollegin vor, Marya, eine Dunkelhaarige, zurückhaltender als Ivette, aber nicht weniger ansprechend. Für Yvette war die Zusammenarbeit schon besprochene Sache. Sie kamen überein, dass sie nacheinander in der Firma mitarbeiten würden. Die erste würde gleich mit ihm in seine Stadt fahren. Tommy war etwas überrascht. Wenn er das gewusst hätte, wäre er mit Verabredungen zurückhaltender gewesen. Er hatte sich mit Enzo am Bahnhof verabredet und vor allem hätte er nicht noch einen Besuch bei Bess vereinbart. Sie gingen an die Theke und bestellten Kaffee. Tommy seilte sich kurz ab und rief seinen Chef an.
Ja, er habe die Delegation getroffen, es seien zwei Frauen „und denken Sie, die eine kommt gleich mit mir mit.“
„Ist doch gut so“, fand der Chef, „so wollen wir’s doch.“
Tommy wandte ein, dass er am Abend verabredet sei.
Er solle sie in die Firma bringen. Er werde sich um sie kümmern, sagte der Chef und fügte hinzu. „Aber schauen Sie, dass Sie sich in der nächsten Tagen Zeit für sie freihalten.“
Tommy zögerte, bevor er versprach, sich um sie zu bemühen.
Die Frauen gingen noch zu ihrem Wagen. Tommy lief voraus zum Bahnhof, wo er mit Enzo verabredet war. Sie warteten am Gleis auf die neue Kollegin. Er schickte Enzo nach drinnen, um Plätze zu reservieren. Selber wartete er auf Ivette. Aber wer kam, war die dunkle Marya. Sie folgte ihm in den Wagen und setzte sich auf den Platz, den Enzo für ihn reserviert hatte.
Enzo, der am Fenster stand, starrte sie entgeistert an. Tommy bemerkte seine Verlegenheit und neckte ihn.
„Ich finde, sie macht sich sehr gut neben dir.“
Auf dem Kongress war Englisch gesprochen worden. Es konnte aber gut sein, dass Marya Deutsch verstand. Trotzdem konnte er sich eine Bemerkung nicht verkneifen.
„Man könnte sie für eine Italienerin halten“, sagte er zu Enzo, „aber ich vermute, sie ist Polin.“

Fürs Studium ‚Horgone‘
Mit einer halben Stunde Verspätung traf Tommy beim Haus von Bess zwischen Urach ein. Marya hatte er in die Firma gebracht. Als er sie dem Chef vorgestellt hatte, war ihm an dessen Gesichtsausdruck nochmal bewusst geworden, was für eine frappierend schöne Frau sie war. Etwas abgehetzt betrat er das stattliche Haus, in dem Bess mit ihrem Mann und dem Söhnchen wohnte. Beat, der ein gut verdienender Bankier war, hatte vorgeschlagen, Tommy solle für sie etwas tun, damit sich seine wirtschaftliche Situation verbesserte.
Bei der Garderobe hing ein Schlauch. Tommy fing gleich an, das Glas der Tür, das leicht fleckig war, zu bespritzen und abzureiben. Beat schien dies für die falsche Arbeit zu halten.
„So ist das aber nicht gedacht“, sagte er und nahm ihm den Schlauch und den Lappen aus der Hand.
Er führte Tommy in das großzügige Wohnzimmer, in dessen Mitte ein Ungetüm von einem Drehspielzeug aufgestellt war, von der Art wie man sie auf Spielplätzen findet. Das Söhnchen saß gelangweilt daneben. Die Mutter stand auf, begrüßte Tommy und setzte sich wieder an die Wand, von wo aus sie das Kind im Auge behielt.
Dieses Mal freute sich der Junge und lachte ihn an. Sein Gesicht hatte sich deutlich geändert. Er wirkte jetzt viel geformter.
„Du musst dich mit dem Jungen beschäftigen, ihm etwas erzählen“, sagte Beat und Bess nickte.
Zum Studium braucht man Horgone“, sagte er.
„Was sind Horgone“, fragte Tommy verwundert. Er ahnte zwar, dass sie von ihm eine Art Früherziehung erwarteten, aber unter Horgonen konnte er sich nichts vorstellen.
„Aber du weißt, was Hormone sind?“, fragte Bess.
„Ich denke schon“, gab er zur Antwort. „Diese Wirkstoffe, die Drüsen ans Blut abgeben, zu vielseitiger Stimulation.“
„Siehst du“, antwortete sie. „Das Gleiche braucht auch der Geist. Er braucht auch Wirkstoffe, das sind die Horgone.“
Tommy setzte sich in einigem Abstand von diesem schrecklichen Drehteil hin und bat den Jungen, sich zu ihm zu setzen.
„Ich will dir etwas erzählen“, sagte er. „Sollen wir von den kleinen Dingen zu den Großen kommen oder lieber von den Großen zu den Kleinen?“
„Von den Großen zu den Kleinen“, antwortete der Junge prompt.
„Also, dann will ich dir etwas von der Welt, die man nicht sieht, erzählen, denn von der, die wir sehen, wirst du in der Schule noch genug erfahren.“ … MLF

Donnerstag, 16. August 2012

88 Das Gericht

Er fand sich in einem großen Gebäude in einem Flur, von dem breite Treppen nach oben und nach unten in andere Bereiche führten. Die dicken Mauern weckten in ihm das beklemmende Gefühl, in eine Burg geraten zu sein, in der alle Räume wie Kerker anmuteten. René schaute in den großen Raum darunter und sah, wie über Einzelne vor einer großen Menschenmenge Gericht gehalten wurde und wie man über sie herzog. Offensichtlich war er in ein Gerichtsgebäude geraten. Er stieg die Stufen hinab und blieb über der Menge, die gebannt einem Prozess folgte, stehen. Mindestens die Hälfte der Anwesenden schienen Presseleute zu sein. Gegenüber, an der Wand, saß der Angeklagte auf der Bank. Renés erster Eindruck war der von einem älteren, väterlichen Mann. Es schien ihm, dass er Reife und Güte ausstrahlte. Er sah einen Menschen dort sitzen, dem man sich in einer schwierigen Situation anvertrauen würde, von dem man Rat und Beistand erwartete. Das pure Gegenteil von einem Verbrecher. Aber unter den Angriffen schien sich sein Gesicht zu verändern. Irgendwie erinnerte ihn der Angeklagte nun an Rainman (gespielt von Dustin Hofmann), ein Mensch mit vielen Macken, aber mit herausragender Begabung und unfähig einem anderen Menschen Böses anzutun. Blätter wurden herumgereicht. Die Anwesenden zerrissen sich den Mund darüber. „So eine Schweinerei“, „ist ja scheußlich“, „so einer gehört weggesperrt“, hörte René rufen. Er wurde neugierig. Als eines der Blätter in seine Nähe kam, drängte er sich durch die Leute und ergriff es. Um es im Gedränge anschauen zu können, musste er es nach oben halten. Abgebildet war der Arsch – vermutlich der des Angeklagten - und zwar mit weit geöffnetem Arschloch. Das war es, was die Anwesenden so schockierend fanden. Sein erster Gedanke war, da habe ich ja Glück, dass ich mich auf dieser Seite befinde und nicht dort auf der Anklagebank sitze.
Doch dann stieg eine Wut in ihm hoch. Was sind das für Sitten, einen Angeklagten auf solche Art zu demütigen. Er drängte durch die Menge und riss alle Blätter, derer er habhaft werden konnte, an sich. Sie zeigten alle das gleiche Bild. Dann hob er das Bündel hoch und zerriss es demonstrativ über seinem Kopf und setzte diese Performance fort, bis er lauter Schnipsel in den Händen hielt. Diese warf er hoch in die Luft und ließ die Fetzen wie Schneeflocken auf die Menge niederschneien.
Alle Blicke richteten sich auf ihn. Die Journalisten waren verwirrt und riefen sich hektische Sätze zu.  Pepi fiel ihm auf, sein Jugendfreund, Ritter des alternativen, rebellischen Zeitgeists und Mitarbeiter von Renés geliebter Tatzen-Zeitung. René spürte, dass etwas im Gange war. Er hörte einzelne gellende Schreie. Erst nur vereinzelt, hier und dort, dann mehrere zusammen. Noch war er sich keiner Gefahr bewusst. Vor Menschen, die den Regeln der Rudeltiere folgten, fürchtete er sich nicht. Doch als sich eine Gruppe auf ihn zubewegte und die gellenden Schreie anschwollen, spürte er doch die Gefahr. Noch glaubte er, ein lauter Schrei von ihm würde sie vertreiben. Doch dann kamen ihm Zweifel. Bin ich denn überhaupt ein Wolf?, fragte er sich. Wird ein Heulen von mir, sie zum Kuschen bringen? Probeweise versuchte er einen Schrei. Doch nicht mal ein Laut entrang sich seiner Kehle. Er fühlte sich vielmehr äußerst sanft. Die Männer, die auf ihn eindrangen, fand er hübsch und er versuchte, während er die Stufen nach oben auswich, mit ihnen zu flirten. Doch dazu waren diese nicht aufgelegt. Sie stießen ihn vielmehr und zerrten an seinen Kleidern. Eine Reporterin griff ihm ins Haar und riss ihm ein ganzes Büschel Haare aus. Er spürte Stiche am ganzen Körper, während er durch den Gang zurückwich, durch den er gekommen war. Einer schlug ihn mit der Kamera. Auf der Schwelle gab ihm jemand einen Tritt. Er fiel, strauchelte und landete schließlich flach auf dem Kies. Die Türe wurde zugezogen. Um ihn wurde es still.
Er war nicht ohnmächtig. Aber er war so frustriert, dass er sich nicht erheben konnte. An den Armen, unter dem Hemd, überall schmerzte ihn, von den Piksern, die man ihm bereitet hatte. Schließlich zwang ihn der harte Untergrund, sich aufzurichten. Neben den Beulen waren es vor allem die Stiche, die ihn schmerzten. Im Tageslicht sah er an diesen Stellen blaue und schwarze Punkte und Striche. Anscheinend hatten die Angreifer und Angreiferinnen die nächst greifbaren Werkzeuge – ihre Kugelschreiber – gepackt und ihn damit traktiert. Für René, der so viel für seine reine Haut tat, war es entsetzlich, sich so entstellt zu sehen. Als er sich zuhause vor dem Spiegel sah, hätte er am liebsten geheult. Denen mache ich den Prozess, sagte er sich und holte die Kamera, um Beweismittel zu schaffen. Doch bei dem Gedanken, dass er zwanzig Journalisten wegen Verletzung seiner Haut anzeigen sollte, kam er sich doch etwas komisch vor. Zudem mochte er sich, so hässlich wie er aussah, nicht ablichten. Er zog es vor sich in die Badewanne zu legen. Nach einer Stunde, während der er mit Seife und Schwamm sich rot gerieben hatte und das Wasser schon kalt war, fühlte er sich endlich wieder rein. MLF

Dienstag, 14. August 2012

87 Tanzgruppe der Freundin


Getrieben von einer starken Sehnsucht nach seiner Freundin führte ihn an einem sonnigen Tag eine vage Vermutung auf die Jurahöhe. Und tatsächlich, als er eine Weile durch einen vielgestaltigen Teil der Hochfläche gegangen war, stieß er zwischen weißen Felsen auf eine Gruppe fröhlicher, junger Menschen, die auf einer blumenreichen Wiese, weitab von jeder Siedlung, Tänze übten. Tommy freute sich, Bianca, die Mutter und ihren Kreis noch genau so jung und munter anzutreffen, wie er sie kennengelernt hatte. Er setzte sich ins Gras und schaute ihrem munteren Treiben zu, bei dem die Mutter in ihrer klaren, entschiedenen Art den Ton angab.
In einer Pause sonderten er und Bianca sich von den andern ab und gingen zu einem abgeschirmten Fleck zwischen den Felsen. Ungeniert folgte sie seinem Beispiel und legte sich nackt in die Sonne. Ihr schöner, weißer Körper verleitete ihn, sie zu berühren. Als er sie übermütig drehen wollte, tat es plötzlich einen Schlag. Erschrocken wich er zurück. In ihrem Körper musste sich ein Vakuum gebildet und beim Drehen gelöst haben – mit lautem Knall. Über ihren Rumpf strich sogar eine dünne Rauchfahne.
Der Schreck ernüchterte ihn. Plötzlich war das Gefühl, dass sie ihn begehrte und sie sich im Freien lieben könnten, verflogen. Als er sie küssen wollte, wehrte sie ab. Er spürte, wie die Eifersucht sie ihm entfremdet hatte. Ohne dass sie ein Wort sagte, sah er sich mit ihren Bedürfnissen konfrontiert. Klar, sie wollte im Leben nicht alleine dastehen. Sie wünschte sich einen Partner, nicht nur einen Bettgesellen.
„Ich habe ja nicht mal deine Adresse“, warf sie ihm vor.
Tommy griff nach seiner Tasche, holte Stift und Zettel hervor und schrieb Straße und Ort in leserlicher Schrift nieder. Er ahnte schon, was sie ihm schreiben würde. Und schmerzlich sah er voraus, dass er ihr würde klaren Wein einschenken müssen. MLF