Mittwoch, 15. Januar 2014

183 Das Waldschulheim oder Warum man sich zum Träumen hinlegt




Das Waldschulheim liegt in einem Wald, der uns rätselhaft bleibt, obwohl wir ihn häufig begehen. Dieser besondere Wald gilt als dunkel und undurchdringlich und nicht zu unrecht besteht die Angst, dass man sich darin verlieren könne. Man nennt diesen Wald auch Märchenwald. Grund genug für manche Menschen seine Existenz überhaupt zu bezweifeln. Wenn wir die Geschichte vom Waldschulheim anhören, werden wir den Eindruck bekommen, dass die Zweifler im Unrecht sind. Es scheint ihn doch zu geben, diesen großen Wald, man kennt ihn nur nicht so gut, weil wir meistens die Augen schließen, wenn die ersten Schatten seiner hohen Tannen auf uns fallen.

Unbemerkt von den Nachbarn begab sich eine Familie täglich in den großen Wald. Sie verfolgten dort seit langem ein ehrgeiziges Projekt. Zwischen den uralten Bäumen hatten sie Wasserflächen mit ganz besonderen Eigenschaften entdeckt. Um diese zu studieren, hatten sie in der Nähe eine Hütte errichtet und diese im Laufe der Jahre mit viel Sorgfalt zu einer Schule ausgebaut. Das Schwierigste an diesem Projekt war gewesen, einen verlässlichen Pfad zu dieser Lichtung hin zu bahnen. Man muss nämlich wissen, dass die herkömmlichen Wege des ‚Märchenwalds‘ wie ein Flusslauf mäandern und sich in ständiger Veränderung befinden. Die drei Familienmitglieder aber begradigten mit großer Hartnäckigkeit nach und nach ihren Pfad und kämpften für seinen Erhalt. Nur so konnten sie sicher zu ihrer Arbeit in der Lichtung gelangen.

Otis, seine Frau Luise und ihre Tochter Marylin schlugen den Pfad in den großen Wald ein. Kaum auf dem Weg, wurden sie von einer Stille umfangen, als seien sie vom Schlaf in Watte gehüllt. Der Vorausgehende hatte die schnell wachsenden Äste abzubrechen, die ihnen stets von Neuem den Zugang zu verwehren drohten. Mann und Frau wechselten sich bei dieser schweißtreibenden Arbeit ab. Die Tochter brauchte trotzdem länger. Sie hatte noch nicht so kräftige Beine und zudem hing sie gerne ihren Gedanken nach. Wenn sie so weit abgefallen war, dass die Eltern sie nicht mehr sehen konnten, hielten sie inne, bis Marylin aufgeholt hatte, um sie zu mehr Eile zu ermuntern. Mit viel Kraft stiegen sie den stetig ansteigenden Pfad bergan, bis sie bei einem Felsen den höchsten Punkt ihres Weges erreichten. Von den Strapazen erschöpft, lehnten sich die Eltern an den großen Stein und pickten sich, während sie verschnauften, gegenseitig die Kletten aus den Haaren. Die Tochter ging zwei Schritte weiter und hockte sich auf die oberste der Stufen, die sie selbst angelegt hatten, um die abgründige Stelle dahinter Stufe um Stufe überwinden zu können. An dieser Stelle war der Wald etwas lichter und gab den Blick frei hinunter auf einen mäandernden Weg, der zur Lichtung führte. Auf diesem
kam ihnen ein alter Mann mit Pferd und Fuhrwerk entgegen. Er ging in geduckter Haltung neben dem Pferd her. Der Wagen war schwer beladen mit Holzplatten. So wie es aussah, machte der Alte ein griesgrämiges Gesicht. Die drei rafften sich auf und gingen ausgeruht leichten Fußes die Stufen hinab. Diese waren aus senkrecht stehenden Holzstämmen gebildet, die Otis und seine Frau auf einer Seite konkav geformt hatten, damit sie sich aneinander fügten. Als die drei von ihrem Pfad auf den kurvenreichen Waldweg kamen, war das Fuhrwerk schon hinter der nächsten Biegung zwischen den Bäumen verschwunden. Das war ihnen, bei der schlechten Laune, die sie dem Alten schon von weitem angesehen hatten, gerade recht. Einige Schritte weiter tat sich unten die Lichtung auf, mit dem langgezogenen, filigranen Holzhaus, das sie erbaut und als Seminarraum eingerichtet hatten.
Sie gingen aber nicht zur Lichtung hinunter, sondern stiegen nach links auf eine erhöhte Fläche, welche wie auch die Lichtung von ihnen gerodet worden war. Die erhöhte Stelle war von wildwachsendem Gras überwuchert. Dazwischen glänzten geheimnisvoll mehrere Wasserflächen, jede von der Größe einer stattlichen Regenlache. Einem inneren Antrieb folgend ging Otis auf eine der Wasserflächen zu und legte sich ins üppige Gras daneben. Dabei legte er sich mit dem Kopf nah an den Rand, den Blick aufs Wasser gerichtet. Derweil setzten sich Frau und Tochter ins Gras und ruhten sich von der Wanderung aus.



Kaum hatte Otis sich im Gras etwas zurechtgerückt, den Arm angewinkelt und den Kopf in die Hand gelegt, da geriet das Wasser vor ihm in Bewegung, es wallte hoch auf und spielte ihm eine spannende Szene vor. Er blickte auf eine Spielfläche. Die Anlage ähnelte einer mehrteiligen Kegelbahn mit Gaststätte. Von seiner Position aus lagen ihm die Bahnen am nächsten und die Theke stand dahinter. Er sah diese Anlage also genau in umgekehrter Richtung, als wie sie die Besucher für gewöhnlich sehen. Links von der Theke saßen auf den Zuschauer-Stufen einzelne Schüler. Unversehens war Otis ins Geschehen involviert. Er bewegte sich in der Spielfläche, die aus einem glatten, sattgrünen Rasen bestand. Dieser war mittels Talg in zwölf gleiche Streifen unterteilt. Auf diese Bahnen waren die Spielsteine gelegt, wie sie im Spiel davor gewürfelt worden waren. Die Aufgabe von Otis bestand darin, die Steine einzusammeln und sie den wartenden Schülern zu überreichen. Er sammelte einen Teil der Steine, ging damit zu den Jugendlichen und gab sie denen, die auf der ersten Stufe saßen. Die Steine verwandelten sich bei der Übergabe in Mangold-Pflanzen. Dieser Vorgang überraschte ihn selber. Er machte nicht früher halt, als bis die Spielfläche komplett geräumt war und auch der letzte Schüler sein Mangold dankend entgegen genommen hatte.



Sobald sich das Wasser gelegt hatte, erhob sich Otis und ging nach unten ins Waldschulheim. Dort hielt er das Erlebte im einzigen Sessel des Hauses sorgfältig fest. Frau und Tochter folgten ihm leise, damit er die spannende Szene nicht verlöre. Da es im Wald feucht war, machte Otis seine Aufzeichnungen auf Buchentafeln, wie man es vor wenigen hundert Jahren noch gemacht hatte, bis das Papier den Weg in diese Region gefunden hatte. Sobald Otis den letzten Satz geschrieben hatte, rief er Luise. Sie setzte sich zu ihm in den bequemen Sessel. Otis schmiegte sich an sie und rekelte sich in ihren Armen. Nach einiger Zeit raffte er sich wieder auf, um sich an die nächste Wasserlache zu legen. Luise sah ihm draußen nach, bis er rechts oben auf der erhöhten Fläche nicht mehr zu sehen war.




Sie wollte sich als Lehrerin jetzt ihrer gewohnten Tätigkeit zuwenden und einige der Buchentafeln aus dem Glasschrank holen, sie studieren und vergleichen. Aber noch ehe sie sich zur Tür gedreht hatte, sah sie eine Person den Weg herab kommen, in der sie ihre Buchhalterin erkannte. Die Stirn der Lehrerin kräuselte sich. Luise hielt die Buchhalterin zwar für eine freundliche, besorgte Person, ohne deren Hilfe sie ihr Waldschulheim längst hätten aufgeben müssen, aber wenn sie den weiten Weg bis zum Waldschulheim gelaufen kam, hatte das wohl keinen erfreulichen Grund. Das ganze Projekt des Waldschulheims lag in der Schwebe, nur dank dieser Frau hatten sie überhaupt so lange durchhalten können.

Es war denn auch tatsächlich kein erfreuliches Gespräch. Die Verwalterin klagte über die aussichtslose Lage und zeigte keine Hoffnung mehr für den Fortbestand des Projekts. Schließlich wandte sie sich um und ging mit gesenktem Kopf schnellen Schrittes zurück, als fürchtete sie in diesem undurchdringlichen Wald eingeschlossen zu werden. Sie wollte dort keinen Augenblick länger verweilen.

Als die Buchhalterin zwischen den Bäumen verschwunden war, schüttelte Luise vehement den Kopf, so als handelte es sich um Schnaken, die man auf diese Art vertreiben könne.

„Wo ist eigentlich dein Vater?“, rief sie zur Tochter nach drinnen.

Marylin war bei ihrer Lieblingsbeschäftigung. Vornüber gebeugt zeichnete sie an einem der Tische Cartoons. Sie richtete sich auf und schaute die Mutter fragend an.

„Schau doch mal nach, dein Vater ist gewiss eingeschlafen“, forderte die Mutter sie auf.

Hin und wieder schlief Otis am Wasserrand ein und konnte die Szenen des Wassers nicht aufzeichnen.

„Ja, gleich“, rief Marylin gedehnt. Sie hielt ihre Zeichnung nochmals vor sich hin und betrachtete sie aus der Distanz. Da und dort radierte sie überflüssige Striche weg und schaute sie erneut an. Halbwegs zufrieden verstaute sie ihren Zeichenblock unter dem Tisch und erhob sich.



Otis wachte von den Rufen seiner Tochter auf. „Wo bleibst du? Wir warten schon!“ feixte sie von unten, vom Weg her.

Müde von der Wanderung war er tatsächlich vom Schlaf übermannt worden. Folglich konnte er sich dieses Mal an keine Szene erinnern. Spurlos waren die Wallungen aber trotzdem nicht an ihm vorüber gegangen. Während er geschlafen hatte, waren doch seine Gefühle wach geblieben und hatten Anteil an den mal gefälligen, mal dramatischen Bewegungen des Wassers genommen. Nur eine leise Ahnung dessen, was in diesem raffinierten Theater gespielt worden war, blieb ihm erhalten. Aufzeichnen würde er dieses Mal nichts können. Daran ließ sich nichts mehr ändern. Er raffte sich auf und folgte der Tochter zur Schule.

In der Zwischenzeit hatte sich die Lehrerin von dem Konflikt mit der Buchhalterin soweit erholt, dass sie mit der Besprechung des Wassertheaters beginnen konnten. Ihr Mann holte von drinnen die neuste Aufzeichnung und gesellte sich draußen zu ihnen. Die Tochter hielt Abstand zu den beiden. Auf ihrem Gesicht zeigte sich ein eher skeptischer Ausdruck. Otis begann mit der Erzählung seines jüngsten Erlebnisses an der Wasserfläche. Seine Frau hörte gebannt zu und vergaß dabei, was die Buchhalterin ihr geklagt hatte.

„Ich sehe vor mir Spielbahnen wie in einem Bowlingcenter, aber aus umgekehrter Richtung“, berichtete er. „Eine große, breite Fläche, in zwölf Bahnen unterteilt. Dahinter sind Stufen zum Sitzen und rechts davon geht es zur Theke hoch. Ich stehe selber in der Spielfläche, die aus einem glatten Rasen besteht. Die zwölf Bahnen sind mit weißem Talg markiert. In den Bahnen liegen, als Ergebnis eines Würfelspiels, die Steine verteilt.“

Wie er nun berichtete, dass sich die Steine beim Überreichen an die Schüler in Mangold verwandelt hatten, rief die Tochter gereizt:

„Was fängt denn ein Schüler mit diesem Gemüse an?“

Die Mutter als Lehrerin ermahnte sie: „Hör genau hin, englisch ‚man‘ und ‚Gold‘, begreifst du nicht, diese Steine stellen etwas sehr Wertvolles dar.“

Stirnrunzelnd zog die Tochter ihre Jacke enger, sie fror von innen heraus. Die Erklärung ihrer Mutter hatte sie nicht befriedigt. Ihr war kalt.

Um sie aufzumuntern, fragte Luise, was sie gerade gezeichnet habe. Marylin ging nach drinnen und kam mit ihrem Zeichenblock zurück. Dabei sah sie die Eltern herausfordernd an. Auf dem Blatt waren zwei ungleiche Tiere akribisch gezeichnet, ein Frosch und eine Zikade. Der Frosch lag auf dem Rücken. Das Übergewicht seines mit Buchentafeln gefüllten Rucksacks hatte ihn nach hinten gerissen. Die Zikade stand lässig daneben und schüttelte den Kopf. In der Sprechblase darüber war zu lesen: „Ich habe dich ja gewarnt, man kann sich auch zu viel aufladen.“ 




Die Eltern sahen sich halb belustigt, halb bekümmert an, handelte es sich hierbei doch um eines der Erlebnisse bei den Wasserflächen, das Otis vor wenigen Tagen berichtet hatte. Mit Vorliebe griff die Halbwüchsige wenig schmeichelhafte Ereignisse auf und verwandelte diese in Cartoons.

Otis und Luise entschieden sich, das jüngste Erlebnis unter dem Titel ‚Mangold-Spiel‘ aufzubewahren. Daraufhin nahm die Lehrerin die Buchentafel und verstaute sie in den Schrank zu den vielen andern, welche sie für den Unterricht im Waldschulheim zu verwenden beabsichtigte. Die, welche sie nicht verlangte, steckte Otis in die Nebenräume, die von den vielen, als weniger wichtig geltenden Buchentafeln, überquollen. Der Alte, der sich des Waldschulheimes annahm, spannte deshalb gelegentlich sein Pferd vor den Karren, holte die Tafeln aus den Nebenräumen und packte sie auf den Wagen. Er fuhr sie auf dem mäandernden Weg in den Wald – wie an diesem Morgen geschehen. Weder die Lehrerin noch ihr Mann wussten wohin er sie brachte.



Trotz der scheinbar ausweglosen Lage ließen die drei sich nicht entmutigen. Wider Erwarten fand die Buchhalterin doch noch einen Weg. Schon bald weckten die kostbaren Tafeln aus dem Schrank des Waldschulheims großes Interesse und fanden begeisterten Anklang. So verging Tag um Tag und wenn sie nicht gestorben sind, dann agieren sie noch heute im Märchenwald. MLF mit Illustrationen von Hans-Christian Rost