Donnerstag, 18. Oktober 2012

115 Olivgrüner Teppich



Wendys zwanzigstes virtuelles Abenteuer

Parallel zu den Aufzeichnungen von seinen Abenteuern in der virtuellen Welt filzte Wendy einen Teppich. Es bedurfte dafür keiner zusätzlichen Anstrengungen, der Filz wuchs von selbst, so wie er mit den Beschreibungen vorankam. Deutliches Zeichen, dass die virtuelle Welt inzwischen auch in seinen vier Wänden angekommen war. Diese virtuelle Doppelnatur hatte den Vorteil, dass er seinem Freund Enzo gegenüber eine ausweichende Antwort hatte, wenn der ihn mal wieder mit der Frage bedrängte. „Was treibst du denn die ganze Zeit in deinem Arbeitszimmer? Man bekommt dich ja kaum noch zu Gesicht.“
„Ich arbeite an einem Teppich“, war dann Wendys Antwort.
Wenn Enzo aber sein Ergebnis sehen wollte, sagte er schlicht. „Es soll eine Überraschung werden.“
In den Tagen davor war Wendy mit seinen Aufzeichnungen wenig erfolgreich gewesen. Die Ängste, die ihm die Tiere Vishams eingejagt hatten und dann der Tag, an dem er das ‚Werde‘ ganz aus den Augen verloren hatte und nur noch das ‚Stirb‘ vor sich gesehen hatte, dadurch waren große Löcher in seinem Teppich entstanden. Er bemühte sich redlich, die Lücken zu schließen, aber sein Gedächtnis zeigte wenig Bereitschaft ihm dabei zu helfen. Die häufigen Versuche die Löcher auszubessern, führten dazu, dass das bisher recht ansehnliche Stück Filz zunehmend schmuddelig, ja schmutzig wurde.
Enzo, dem die neue Leidenschaft seines Freundes ein Dorn im Auge war, erzwang sich den Eintritt in Wendys Arbeitszimmer. Dieser war gerade bemüht eines der Löcher zu stopfen, als sein Freund zu ihm trat.
Enzo traute seinen Augen nicht, als er seinen Geliebten über einen verformten und im düsteren Licht abgegriffen und schmutzig wirkenden Filz gebeugt sah. Er rief aus.
„Was, mit so einem hässlichen Ding mühst du dich ab?“
Er hatte sich weiß was vorgestellt und jetzt sah etwas Unförmiges, von einer Farbe, die ihm zuwider war. Wegen so etwas wollte er nicht auf die gemeinsame Zeit mit seinem Freund verzichten.
Wendy war gekränkt und versuchte seine Arbeit in das richtige Licht zu rücken. „Ich habe nur noch ein paar Löcher zu schließen. Dann wirst du sehen, dass sich die Mühe gelohnt hat.
Aber Enzo war anderer Ansicht und er schonte seien Freund nicht. „Das Ding ist altmodisch. Die Farbe ist abstoßend. Es ist als Ganzes hässlich, rief er ohne Gnade.
„Das wird schon noch“, versuchte Wendy ihn zu überzeugen.
Doch Enzo blieb hart. Er sagte. „Entweder, du schmeißt das Ding weg, oder wir sind getrennte Leute. Dann kannst du ja sehen, wo du unterkommst.“
Wendy betrachtete seine Arbeit, aufgrund der harten Worte seines Freundes, jetzt auch kritisch. Er musste eingestehen, dass die Farbe stumpf wirkte. Aber auf diese hatte er keinen Einfluss. Die Pole in der virtuellen Welt waren nicht schwarz und weiß, sondern schwarz und olivgrün – so viel hatte er inzwischen gelernt. Schwarz hieß verborgen, olivgrün hieß sichtbar. Da er die Aufzeichnungen ganz im Verborgenen hielt, war der Teppich ins Gegenteil geraten, olivgrün. Und wenn er daran dachte, dass dies das Ergebnis seines ganzen Fleißes war, so war er wirklich enttäuscht.
Enzo sagte kurz und trocken. „Schmeiß es weg.“ Er drohte sogar, dass er ihm die Freundschaft aufkündige, wenn er das Ding nicht sofort aus dem Haus schaffe.
Wendy hatte nicht wirklich Angst um ihre Beziehung. Er wusste, dass Enzo gerne drohte und es dann doch nicht so ernst meinte. Aber er sah in diesem Moment die viele harte Arbeit und musste seinem Freund Recht geben, das Ergebnis war wirklich unansehnlich. Da gab er dem Drängen des Freundes nach und entschloss sich dieser mühseligen Arbeit zu entledigen. Dabei dachte er nicht, dass das unliebsame Folgen haben könnte. Er rollte den Filzteppich ein, trug ihn das enge Treppenhaus hinunter und steckte ihn draußen in die Restmülltonne zu den anderen stinkenden, vergammelnden und nicht mehr verwertbaren Abfällen.
Enzo fand, das gälte es zu feiern und öffnete eine Flasche Sekt. Sie feierten im Schlafzimmer auf dem Doppelbett. Wendy fühlte sich von einer großen Last befreit. Er war verliebt in Enzo, der ihm zu dieser Erleichterung verholfen hatte. Der sonnte sich in seinem Erfolg, zog sich aus und ließ sich von Wendy verwöhnen. Bis um Mitternacht feierten sie Reunion. Dann drehte sich Enzo, der am nächsten Morgen zur Arbeit musste, um und schlief sofort ein.
Wendy ging, wenn sein Freund schlief, gewöhnlich runter ins Arbeitszimmer und legte sich dort auf die Isomatte in den großen Schrank und deckte sich mit seiner Daunenjacke zu. So zeigte er seine Bereitschaft mit Muse zu arbeiten, die an seinen Aufzeichnungen über die virtuelle Welt interessiert war. Danach schlüpfte er zu Enzo ins Bett hoch. Unter der Woche, damit er nicht gestört wurde, wenn Enzo in der Küche hantierte. Am Wochenende, um beim Aufwachen bei ihm zu sein. Sie wird ja sehen, dass mir heute Nacht nicht nach Arbeiten ist, dachte er. Aber er konnte nicht einschlafen. Also ging er doch nach unten und legte sich in den Schrank. Sofort schlief er ein. Muse weckte ihn. Er suchte nach dem Text, bis ihm die Sache mit dem Teppich einfiel. Es gelang ihm, Muse in ein Gespräch über die virtuelle Welt zu verwickeln. Sie bemerkte nicht, dass die Texte fehlten. Wenigstens glaubte er, das aus ihrem Verhalten lesen zu können. Das Gegenteil war der Fall. Ihr fiel gleich auf, dass er nur redete, statt zu arbeiten. Sie spürte, dass er mit seinen Gefühlen bei Enzo war. Vielleicht roch sie sogar, dass sie zusammen gewesen waren, obwohl er sich dazwischen gewaschen hatte. In einer Pause wies sie auf sein Lager im Schrank und sagte.
„Das ist doch keine Art zu schlafen. Ich rate dir, besorge dir eine eigene Matratze.“
Um Fünf beendeten sie die Arbeit und er ging wie gewöhnlich zu Enzo ins Zimmer hoch. Mit Freude stellte er fest, dass Muse ihm folgte. Das erotisierte ihn sehr, wenn sie zusätzlich mit im Bett lag. Allerdings nahm sie einen anderen Platz ein. Sie legte sich mit dem Kopf an die Seite, den Körper quer zu ihren Füßen. Schade, aber egal, dachte Wendy und schlief ruhig ein. MLF

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