Das Bad im Grand Hotel


Als Kind war ich häufig mit meinen Eltern und Geschwistern in einem Grand Hotel im Bündner. Wir waren nicht im Hotel selber – das hätten sich meine einfachen Eltern nicht leisten können – sondern in dem großen, dazu gehörigen Bad, das öffentlich zugänglich war. Allerdings nicht ohne Gebühr. Meine Mutter hat mir später erzählt. Wir Kindern hätten uns da wie Fische im Wasser gefühlt. Deshalb habe mein Vater noch etwas härter gearbeitet, damit wir uns diesen Luxus leisten konnten.
Sie möchten vielleicht wissen, wie ich, Toni Saibel, Mili zum ersten Mal begegnet bin. Welcher Zufall uns zusammengeführt und mir zum Glück verholfen hat, ihr Sekretär zu sein – wenn man das ein Glück nennen will. - Ich weiß nicht mehr, welche Begegnung die erste war. Aber eine bleibt mir in besonderer Erinnerung, weil sie ihr Fischkleid trug. Davon möchte ich berichten.
An einer gewundenen Straße, durch ein Viertel in besonders schöner Hanglage, hatte ich in meinem Beruf als Reparateur von sanitären Anlagen in zwei Häusern zu tun. Die Reparaturarbeiten waren schneller abgeschlossen als gedacht. Ich fuhr die Straße weiter in Erwartung einer Wendeplatte, als ich plötzlich auf das Grand Hotel stieß, in dessen Bad wir uns als Kinder vergnügt hatten. Merkwürdig, es stand noch immer in alter Größe da, hatte aber seinen Glanz verloren. Es dauerte eine Weile bis ich bemerkte, woran es lag. Das Hotel war nicht mehr in Betrieb.
Ja, und was ist aus dem Bad geworden?, war meine bange Frage. Der Traum meiner Kindheit, der Ort, wo wir die schönsten Stunden verbracht hatten. Nur noch leere Becken und zerfallene Räume?
Der Zugang zum Bad war tiefer gelegen. Wir waren – so viel erinnerte ich mich – außen herum die Treppen hinab gestiegen. Drinnen hatte uns ein Badewärter von seiner Theke aus kritisch geprüft. Er hatte uns wohl für eine der Familien gehalten, die keine Badewanne hatten und deshalb das öffentliche Bad benutzten.
„Bitte gründlich duschen!“, sagte er jedesmal.
Ich erinnere mich, wie meine Mutter – die wohl arm, aber von feiner Art war – ihre Nase rümpfte und ihn mit verächtlichem Blick taxierte. Dann ging für uns der Zauber los. Eintauchen in die Wunderwelt des Wassers.
Und das alles sollte zerstört sein? Der Gedanke, dass es ja inzwischen viele neue Bäder gab, ja dass sie wie Pilze aus dem Boden schossen und sich gegenseitig an Superlativen übertrafen, war mir in dem Moment ein schlechter Trost. Ich wollte genau wieder dieses Bad, in dem ich als Kind alles um mich vergessen hatte. Eine Wehmut über die Vergänglichkeit beschlich mich. Es gibt nichts Bleibendes und wenn etwas besonders schön ist, dann ist es noch viel kurzlebiger als alles andere. Besser wäre ich heut schon tot als erst morgen, stieß ich seufzend hervor.

Durch die Tür wollte ich einen Blick auf die Wärtertheke werfen, wo der kritische Bündner gestanden hatte und uns betrachtete, als wenn wir Läuse hätten. Den Kopf gegen die Glastür pressend, bemerkte ich, dass sie nachgab. Tatsächlich, die äußere Tür war nicht verschlossen. Aber wahrscheinlich die innere. Nein, die zweite war nur eine Pendeltüre ohne Schloss. Ein Schauer durchlief mich. Unwillkürlich fing ich an tastend zu gehen, als beträte ich einen geheimen, verbotenen Raum. Anscheinend hatte der Sicherheitsbeauftragte beim letzten Kontrollgang geschlammt. Ich drehte den Kopf und lauschte, das gleiche Hallen, vom Wasser der vielen Becken seltsam weich. Genau wie damals, nur dass das Stimmengewirr, mit dem die Räume erfüllt gewesen waren, fehlte. Was für ein glücklicher Zufall. Ich brauchte also nicht warten, bis ein mutiger Investor diesem Hotel ein zweites – ein nostalgisches – Leben einzuhauchen versuchte, um das Bad meiner Kindheit wieder zu sehen. Noch ahnte ich nicht, dass ich bald öfters herkommen würde. Und am allerwenigsten sah ich den Grund voraus, der mich an diesem Ort halten sollte.
Dem Becken, das wir als Kinder benutzt hatten, wandte ich mich als erstes zu. Glasklares Wasser, reiner als es damals gewesen war, als wir und andere Bälger uns darin getummelt hatten. An keiner Stelle tiefer als ein Meter, so dass schon ein Kindergärtner darin stehen konnte. Daneben ein Becken für Kleinkinder. Auch dieses mit sauberem Wasser gefüllt. Ich versuchte mich zu erinnern, wo sich wohl die Eltern aufgehalten hatten. Das war ein Stock höher gewesen.
Ohne einen Laut zu erzeugen, schlich ich die Treppe hoch. Ich glaubte ein Geräusch zu hören, wie von jemandem, der sich im Wasser bewegte. Würde man mich ansprechen, hatte ich ja die Begründung, das schönste Bad meiner Kindheit. Hochkommend stieß ich auf ein weitläufiges Becken, das sich mit mehreren Windungen durch den offenen Raum und um den Treppengang herum zog, dabei Buchten bildete. Aus dem größten Teil ragte in der Mitte ein schön gerundeter Stein heraus. Erstaunlich war, in welch hervorragenden Zustand sich das Bad befand. Vielleicht wurde es doch noch von der Gemeinde genutzt und nur das Hotel war geschlossen. Ob sich meine Eltern hier aufgehalten hatten oder in einem Raum weiter hinten? Ich ging durch die Tür einer Trennwand aus dunklem Nadelholz. In diesem Raum befand sich ein kleines Becken in der Mitte und drum herum Liegestühle ebenfalls aus Lärchenholz, denen allerdings die Polster fehlten. Ich legte mich trotzdem auf eine der Liegen, streckte die Arme nach oben und legte die Hände unter den Kopf. An die Decke hochschauend wurde mir bewusst, wie sehr ich mich verändert hatte. Als Kind hatte ich es kaum erwarten können, mich auszuziehen und ins Wasser zu springen. Jetzt genoss ich zwar diese schönen Räume, aber ich spürte keinerlei Verlangen ins Wasser zu steigen. Wasser war zu einem Medium geworden, mit dem ich täglich zu kämpfen hatte. Damit es nicht aus den Leitungen drängte, nicht mit seinem Kalk die Armaturen zerstörte und so weiter. Mich ihm einfach so hinzugeben wie als Kind, davor scheute ich zurück. Wahrscheinlich bildete ich damit nicht mal eine Ausnahme, dachte ich. Vielleicht war das die normale Haltung eines Erwachsenen, eines in den Beruf eingespannten Menschen. Und erst wenn diese Phase vorbei war, fand man wieder die Muße, sich dem Wasser anzuvertrauen. Dieses Mal mit Vorzug dem heißen Wasser eines Thermalbads, auf dessen Oberfläche man sich treiben ließ. Von diesen Gedanken wurde ich aufgeschreckt durch ein Geräusch unmittelbar neben mir in dem kleinen Becken. Luftblasen hatten sich gebildet. Und wie ich mich aufrichtete, glaubte ich tief unten im Wasser einen Wirbel zu sehen. Das war ein weiterer Beweis, dass das Bad noch genutzt wurde. Wenn sogar die Düsen noch in Betrieb waren. Minimal, um die Frische des Wassers zu gewährleisten. Als ich jedoch zur Treppe vorging, hörte ich ein Geräusch, das nicht von einer Wasserdüse herrühren konnte. Das Wasser war völlig ruhig. Trotzdem war ich neugierig, ob sich da nicht jemand aufhielt. Ich setzte mich an den Rand einer der Buchten und wartete. Vielleicht hatte sich eines der Kinder der gegenwärtigen Besitzer einen Schlüssel erschlichen und in fahrlässiger Weise offen gelassen. Wenn dem so war, brauchte ich nur zu warten. Die Person würde sich gewiss zeigen.

Am Rand der schön gestalteten Ausbuchtung sitzend schaute ich geduldig auf das Wasser. Plötzlich fiel mir eine Wasserbewegung auf, die sich rund um den Stein in der Mitte zog. Da schwamm jemand, der lange die Luft anhalten konnte. Was ich durch das klare Wasser sah, hielt ich erst für eine Täuschung. Etwas Schillerndes, eine Flosse. Ein Fisch? Wenn ja, was für einer? Nein, das war sicher eine Verkleidung. Jemand hatte sich statt Taucherflossen ein Nixenkostüm angezogen. Anscheinend schwamm der oder die Betreffende nicht zum ersten Mal damit. Erstaunlich war vor allem, die Ausdauer, mit der die Person den Atem anhalten konnte. Plötzlich sah ich über dem weich gerundeten Fels in der Mitte einen Kopf erscheinen. Eine Frau oder ein Mann? Das war meine erste Frage. Das war keineswegs eindeutig. Die Bewegungen des Kopfs waren ähnlich wie bei einer Robbe, wenn sie an Land ging. Also hatte die Person ihr Kostüm noch an. Das bot mir eine Gelegenheit ein Gespräch zu beginnen.
„Im Wasser ideal, aber an Land nicht sehr praktisch, diese Ausrüstung, nicht wahr?“, sagte ich, mit möglichst gedämpfter Stimme, aber laut genug, dass sie mich hören würde, auch wenn sie noch Wasser in den Ohren hatte. Meine Stimme hallte in dem großen Raum wider.
„Dort im Regal gibt es Anzüge, mit zwei Flossen auch, sagte der oder die Verkleidete.“ Es klang wie eine Aufmunterung. Tatsächlich war weiter hinten ein offenes Regal und ich glaubte in den Fächern etwas schimmern sehen. Die bloße Vorstellung mich in so eine Kostüm zwängen zu müssen, auch wenn es zweiteilig war, ließ mich erschauern. Die Stimme war so unentschieden zwischen Mann und Frau wie ihr Gesicht. Ich entschied mich sie als Frau anzusprechen.
„Ach wissen Sie, ich wollte hier nur mal vorbeischauen, weil dies als Kind mein liebster Ort gewesen war. Aber jetzt habe ich wenig Zeit“, redete ich mich raus.
Mir schien, ein Stöhnen ginge durch den Raum, ein hörbares Zeichen der Enttäuschung, das sich ihrer Brust entrang. Schnell versuchte ich einen neuen Kurs einzuschlagen, denn ich war interessiert, etwas von dieser eigenwilligen Person zu erfahren. „Wenn Sie nicht verlangen, dass ich ins Wasser steige, leiste ihn Ihnen gerne etwas Gesellschaft“, sagte ich. „Bin heute überraschend früh mit meiner Arbeit fertig geworden.“
Es mochte auf fünf zugehen. Die Sonne schien bereits horizontal durch die großen Fenster und überzog die weißen Wände mit einem orangenen Schimmer. Die Lärchentäfelung glänzte rotbraun.
„Was?“, fragte sie verkürzt. Der Umstand, dass ich nicht ins Wasser zu steigen bereit war, schien sie ratlos zu machen.
„Du könntest mir eine Geschichte erzählen“, sagte ich, um sie zu necken. Der Schwenk zum Du, war mir versehentlich unterlaufen.
Da glitt sie nach hinten von ihrem Felsen herab, schwamm dieses Mal an der Oberfläche durch das Becken. Alle Achtung, dieses Kostüm war wirkungsvoller als jede Taucherflosse. Sie brauste umher und glitt schließlich auf den sanft aus dem Wasser aufsteigenden Boden der Bucht neben mir. Der untere Teil des Körpers blieb im Wasser. Mit dem oberen lehnte sie sich an den Rand. Ihre Nähe machte einen gewaltigen Eindruck auf mich. Ich war erregt, ja erotisiert. Es war nicht eindeutig zu sehen, ob sie eine Frau, oder doch ein Mann war, mit etwas ausgeprägter Brust. Da mir nichts anderes einfiel, stellte ich mich vor.
„Ich bin Toni, Toni Saibel, Reparateur von sanitären Anlagen in dieser Region.“ Ich hielt inne, weil es sich so schrecklich nüchtern anhörte.
Aber ihr schien’s zu gefallen. Sie wälzte ihre drallen Körper am Bassinstrand. Als sie wieder ruhig lag, sagte sie: „Und ich heiße Mili Lula. Manchmal nennen mich meine Freunde Mili Lula Fischschwanz, weil ich mich so gerne im Wasser tummle.“ Sie fuhr fort, dass ein gewisser Toni die Bilder, die sie ihm mitteile, niederschreibe und in einer Tseidung veröffentliche.
„Das hast du jetzt aber gerade erfunden“, fiel ich ihr ins Wort. „Das gilt nicht.“
Sie hörte mir überhaupt nicht zu, sondern drängte mich, wiederzukommen und etwas zum Schreiben mitzubringen. Dabei sah sie mich an, halb lockend, halb strafend, dass ich nicht nein zu sagen wagte. Obwohl ich ein seltsames Gefühl empfand, mich auf etwas einzulassen, das kein Kinderspiel sein würde. Wie sehr dieses Versprechen mein Leben verändern würde, konnte ich nicht voraussehen. Ich überlegte. Der frühest mögliche Termin war der Freitagnachmittag. Da hatte ich morgens im Paralleltal zu tun. Am Nachmittag war frei.
„Wie wär’s mit Freitag, am Nachmittag?“
Sie nickte, ließ sich ins Wasser gleiten und war verschwunden.
Ein so sonderbares Gefühl hatte ich in meinem Leben noch nie gehabt. Doch, ein mal. Als ich als Junge einer als Krokodil verkleideten Person begegnete. Mit dieser Mili war es aber ganz anders. Ein Unterschied wie zwischen Himmel und Hölle oder sagen wir zwischen Fegefeuer und Hölle. Ich war sehr gespannt, Geschichten aus ihrer Welt zu erfahren. Wurde dann alles etwas mehr, als ich erwartet hatte. AS