Donnerstag, 4. Oktober 2012

106 Versteinerter Schwamm



Wendys elftes virtuelles Abenteuer

Auf seiner elften Reise in die virtuelle Welt, landete Wendy wieder in einem Pflegeheim. Nach seinem unrühmlichen Abgang vom Rainer Altenheim dachte Wendy nicht, dass man ihn noch mal in einem solchen einsetzen würde. Aber es wäre gar nicht anders möglich gewesen, dass es gab nur dieses Heim. Es war so riesig, dass es alles umfasste. Wendy erinnerte sich, dass er einmal in einer müßigen Stunde über die Fortentwicklung der Lebensweise des Menschen sinniert hatte. Dabei war ein riesiger Gebäudekomplex von seinem inneren Auge erschienen, der die ganze Erde umspannte. Jetzt war er in einem solchen gelandet. Dass es sich dabei um ein Heim für bedürftige Menschen handelte, hatte er damals allerdings nicht vorausgesehen.
Da es nur dieses Pflegeheim gab, mussten auch alle arbeitsfähigen Menschen in diesem arbeiten, also auch er. Es war noch die Zeit der Frühschicht, aber bis zur Ablösung dauerte es nicht mehr lange. Da Wendy bis dahin sich noch nicht eingesetzt hatte, war ihm klar, dass ihm die Spätschicht zufiel. Das Problem war nur, dass er nicht wusste, wo und wann genau. Die Frauen und Männer, die jetzt im Einsatz waren, waren alle von der Frühschicht. Wie sollten sie über die Spätschicht Bescheid wissen. Wendy wagte es dennoch zu fragen.
Er wandte sich einer Gruppe von Männern zu, die über eine Galerie in diesen Bereich gekommen waren. Sie standen etwas erhöht und er stieg zu ihnen hoch und schickte sich an zu fragen. Die drei waren untereinander in einen Konflikt verstrickt. Ausgerechnet der sympathische Mann in der Mitte, der Wendy auf Anhieb gefallen hatte, wurde von den beiden anderen mit schweren Vorwürfen attackiert. Von seiner Frage getrieben, hatte Wendy nicht gleich zugehört und wusste folglich nicht, worum es in dieser Auseinandersetzung ging. Er hörte nur immer wieder, ‚einen eigenen Weg gehen‘, ‚sich nicht an die Gewohnheiten halten‘, ‚meinen was Besseres zu sein‘ und ähnliche Vorwürfe ließen sie auf den ihm so besonders erscheinenden Menschen niederregnen. Dieser wehrte sich nicht wirklich. Der kriegt ganz schön Fett weg, dachte Wendy. Am Schluss schaute der Gemaßregelte zu ihm hoch und sah ihn vorwurfsvoll an. Sein Blick sagte, reicht es nicht, dass diese auf mich eindreschen, musst du auch noch Zeuge sein?

Die Frage nach seinem Einsatz war noch nicht gelöst, da wurde er in einen anderen Bereich versetzt. Zu diesem Pflegeheim schien auch eine Theaterbühne zu gehören. Ihre Ausmaße zeigten sich ähnlich allumfassend. Wendy wurde Zeuge eines Spektakels, wie er sie von Eröffnungsveranstaltungen bei Olympiaden kannte. Jeder Spieler war nur ein farbiger Punkt oder Teil einer farbigen Fläche in einer gewaltigen Choreografie.
Auf der Bühne des Pflegheims wurde ein Oper aufgeführt (oder ein Tanzspiel, denn er hörte niemanden singen) Die Mitspielenden trugen Kleider samt einem Hütchen mit viereckigem Deckel, alles in der gleichen Farbe. Die nächsten bewegten sich als Schlange über die Bühne und formten schließlich eine schön geschwungene Linie, die unweit von ihm endete. Wendy vermutete aufgrund der hellroten Farbe, dass es sich bei dieser Linie um den Längsschnitt eines Blütenblattes handelte. Dem Kameraauge hoch üben würde sich wahrscheinlich der Schnitt durch eine Blüte zeigen. Ein Blütenblatt war vollendet, es galt ein nächstes anzufangen. Wendy war hin und her gerissen, ob er mitmachen solle. Aber dann bedachte er, wie er gekleidet war und in welcher Verfassung er sich befand und er entschied sich dagegen. Nein, als Blüte passte er nicht und sei’s nur ein winziger Bestandteil. Seine Tochter und ihre Freundin hatten sich in leuchteten Farben verkleidet. Da er nicht mitmachte, wirkten sie ziemlich verloren in ihren Kleidern. Er zuckte mit der Schulter und verließ den Theaterraum.

Immerhin löste sich nun die Frage nach seinem Einsatz. Er befand sich an einem neuen Ort bei einer Arbeit, die ihn erfüllte. Der große, leicht geneigte Raum befand sich im Obergeschoss. Die schräge Wand links und die untere waren verglast, wodurch der Raum von Licht durchströmt wurde. Dieser lichte Raum beherbergte eine Bibliothek, bzw. ein Archiv. Es war ein besonderes Archiv, das lauter Traumaufzeichnungen bewahrte und eine Bibliothek in der Schriften und Bücher gesammelt wurden, die Traumprotokolle enthielten. Wendy beteiligte sich an der Erfassungsarbeit. Jedes Dokument, das darin lagerte, musste mit Titel, Datum der Entstehung und einer kurzen Inhaltsangabe erfasst werden. Anfangs schloss er sich zwei jungen Menschen an, die diese Aufgabe mehr schlecht als recht ausführten. Er war beschäftigt ihnen hinterher zu arbeiten. Im Laufe der Arbeit übernahm er allmählich die Führung und konnte so wenigstens halbwegs eine Struktur in die Arbeit bringen. Es kam die Pause.
Sie gingen hinunter ins Foyer und von dort in einen angrenzenden Raum mit Cafeteria. Im Foyer selber gab es auch einen Bereich mit Materialien. Es war dafür mit leichten Wänden extra ein Raum abgegrenzt worden. Während Wendy noch überlegte, wie er diese Dokumente einordnen solle, ob als Quellenmaterial oder bei der Belletristik, trat der Vorsteher zu ihm und äußerte grundsätzliche Bedenken.
„Wir brauchen diese Erfassung nicht. Ich wüsste nicht, wozu das gut sein sollte“, sagte er. Eine gewisse Abneigung gegen die Archivierungsbemühungen waren seinen Worten deutlich anzuhören.
Wendy war überrascht. Er wusste nicht wie er reagieren sollte und vermied ein Streitgespräch.
Die Pause verbrachte er auf der Bank an der Frontseite eines hohen Gebäudes. In der Ecke drüben war eine Theke, an der er sich Kaffee und ein belegtes Brot holte. Die zwei flippigen Helfer machten ihm Sorgen. Gerade waren sie verschwunden. Er wusste nicht, ob er weiter auf sie bauen konnte. Doch das Schicksal zeigte sich günstig.
Als es Zeit wurde weiterzumachen, kamen zwei ältere Herren auf ihn zu.
Als er ihre Frage, „sind Sie der Leiter der Archivierungsarbeit?“, bejahte, stellten sie sich als freiwillige Helfer vor, die dem Aufruf. „Münchner Traumpädagogik-Ausbildung in Gefahr“ gefolgt waren.
„Herzlich willkommen“, stieß Wendy hervor, „Sie kommen mir wie gerufen.“
Der eine Herr erinnerte ihn an einen Jugendfreund, den er damals als ruhigen, verlässlichen Menschen geschätzt hatte. Der andere Rentner machte ebenfalls den Eindruck eines angenehmen und verlässlichen Menschen. Wendy führte die beiden in den schönen, lichten Raum hoch. Vor der Pause hatten sie die bloßen Traumprotokolle mit Titel versehen und registriert. Jetzt ging es darum, die Belletristik, die Traumaufzeichnungen enthielt, zu katalogisieren. Wendy beschrieb den beiden einsatzfreudigen Rentnern die Vorgehensweise, die er sich ausgedacht hatte und überließ sie dann ihrer Arbeit. Er selber ging nochmal ins Foyer hinunter und stellte sich zum Vorsteher der Sammlung im Erdgeschoss.
„Sie haben Bedenken zu unserer Arbeit geäußert. Ich kann Sie verstehen, weil es sich hier um einen anderen Bereich handelt, in den Menschen spontan eintreten und dessen Inhalt einem größeren Wechsel unterliegt. Trotzdem möchte ich Sie bitten, dass wir wenigstens die Titel, das Datum und eine Bemerkung eins oder null für relevant oder nicht mehr relevant eintragen dürfen.“
Da gab der Vorsteher des Erdgeschosses das Einverständnis und Wendy fing mit der Arbeit dort unten an.

Draußen stieß Wendy auf einen monumentalen Bau, der direkt an den Bühnenraum anschloss. Eine Rampe trennte ihn vom Eingang zwischen hohen Säulen. Vor der Rampe stand der dralle Mann, den er von der Winkelriedstraße in Reußstadt kannte. Ein beherzter, freundlicher Mensch, der ihn ermunterte die Stufen hochzusteigen. Doch von der anderen Seite näherte der Nörgler, den er auch schon kannte und der, als er Wendy zu Gesicht bekam, sofort anfing ihn zu hinterfragen und zu hänseln.
„Du doch nicht. Was willst du hier in diesem ehrenwerten Gebäude? Besser du lässt es gleich. Das schaffst du eh nicht.“
Wendy ließ sich nicht beirren. Aber in der Tat der Aufstieg erwies sich als äußerst schwierig. Es lag daran, dass die metallenen Stufen sich gegeneinander verschoben. Die erste Stufe bot plötzlich nur noch seinen Zehen Platz. Und als er zwei Stufen auf ein Mal nehmen wollte, spürte er, dass er den schweren, schwarzen Rucksack trug. Er schaffte es nicht, die doppelte Höhe zu überwinden. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten, bis sich die Stufen wieder verschoben. Als er die erste endlich geschafft hatte, fing das gleiche Spiel mit der zweiten und dritten an. Wendy war so mit dem Aufstieg beschäftigt, dass er gar nicht bemerkte, wie die Zeit verging und wie er bei den oben stehenden Männern längst zur Lachnummer geworden war. Einer hatte sich extra den Bart wachsen lassen, nur um ihm zu zeigen, wie lange er brauchte für diese wenigen Stufen. Der Bart reichte ihm bis auf die Brust und war grau geworden. Um Wendy die Ausbildung des Bartes noch deutlicher zu machen, hatte er die linke Hälfte abrasiert. Er wies mit den Fingerspitzen auf den Längsschnitt des Bartes.
Endlich doch oben angekommen, nahmen ihn zwei Gestandene vom Frühdienst in Empfang. Sie waren gealtert, aber er erkannte in ihnen die beiden, die im Pflegeheim der ihm Sympathischen zur Schnecke gemacht hatten. Er spürte, dass sie’s zum Spott machten. Darum wäre er ihnen gerne ausgewichen, aber er wusste nicht wie. Sie eskortierten ihn hinein durch die riesigen Säulen. Dann zweigten sie mit ihm nach links ab. Eine monumentale Wandelhalle führt vor zum Foyer beim Haupteingang. Am Rand des Foyers blieben sie unmittelbar stehen, als wäre ihnen der Eintritt in diese Halle verwehrt. In geheucheltem Kompliment, flöteten sie gleichzeitig.
Siehst da, die Schwämme, die meterhohen. So stehst auch du da.“
‚So stehst auch du da‘ versteinert, klang in seinen Ohren. Auch wenn sie dieses letzte Wort – wohl aus einem Überbleibsel von Respekt – nicht ausgesprochen hatten. MLF

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen