Wendys elftes virtuelles
Abenteuer
Auf seiner elften Reise in die virtuelle Welt, landete Wendy
wieder in einem Pflegeheim. Nach seinem unrühmlichen Abgang vom Rainer
Altenheim dachte Wendy nicht, dass man ihn noch mal in einem solchen einsetzen
würde. Aber es wäre gar nicht anders möglich gewesen, dass es gab nur dieses
Heim. Es war so riesig, dass es alles umfasste. Wendy erinnerte sich, dass er
einmal in einer müßigen Stunde über die Fortentwicklung der Lebensweise des Menschen
sinniert hatte. Dabei war ein riesiger Gebäudekomplex von seinem inneren Auge
erschienen, der die ganze Erde umspannte. Jetzt war er in einem solchen
gelandet. Dass es sich dabei um ein Heim für bedürftige Menschen handelte,
hatte er damals allerdings nicht vorausgesehen.
Da es nur dieses Pflegeheim gab, mussten auch alle arbeitsfähigen
Menschen in diesem arbeiten, also auch er. Es war noch die Zeit der
Frühschicht, aber bis zur Ablösung dauerte es nicht mehr lange. Da Wendy bis
dahin sich noch nicht eingesetzt hatte, war ihm klar, dass ihm die Spätschicht
zufiel. Das Problem war nur, dass er nicht wusste, wo und wann genau. Die
Frauen und Männer, die jetzt im Einsatz waren, waren alle von der Frühschicht.
Wie sollten sie über die Spätschicht Bescheid wissen. Wendy wagte es dennoch zu
fragen.
Er wandte sich einer Gruppe von Männern zu, die über eine Galerie
in diesen Bereich gekommen waren. Sie standen etwas erhöht und er stieg zu
ihnen hoch und schickte sich an zu fragen. Die drei waren untereinander in
einen Konflikt verstrickt. Ausgerechnet der sympathische Mann in der Mitte, der
Wendy auf Anhieb gefallen hatte, wurde von den beiden anderen mit schweren
Vorwürfen attackiert. Von seiner Frage getrieben, hatte Wendy nicht gleich
zugehört und wusste folglich nicht, worum es in dieser Auseinandersetzung ging.
Er hörte nur immer wieder, ‚einen eigenen Weg gehen‘, ‚sich nicht an die
Gewohnheiten halten‘, ‚meinen was Besseres zu sein‘ und ähnliche Vorwürfe
ließen sie auf den ihm so besonders erscheinenden Menschen niederregnen. Dieser
wehrte sich nicht wirklich. Der kriegt ganz schön Fett weg, dachte Wendy. Am
Schluss schaute der Gemaßregelte zu ihm hoch und sah ihn vorwurfsvoll an. Sein
Blick sagte, reicht es nicht, dass diese auf mich eindreschen, musst du auch
noch Zeuge sein?
Die Frage nach seinem Einsatz war noch nicht gelöst, da wurde er
in einen anderen Bereich versetzt. Zu diesem Pflegeheim schien auch eine
Theaterbühne zu gehören. Ihre Ausmaße zeigten sich ähnlich allumfassend. Wendy
wurde Zeuge eines Spektakels, wie er sie von Eröffnungsveranstaltungen bei
Olympiaden kannte. Jeder Spieler war nur ein farbiger Punkt oder Teil einer
farbigen Fläche in einer gewaltigen Choreografie.
Auf der Bühne des Pflegheims wurde ein Oper aufgeführt (oder ein
Tanzspiel, denn er hörte niemanden singen) Die Mitspielenden trugen Kleider
samt einem Hütchen mit viereckigem Deckel, alles in der gleichen Farbe. Die
nächsten bewegten sich als Schlange über die Bühne und formten schließlich eine
schön geschwungene Linie, die unweit von ihm endete. Wendy vermutete aufgrund
der hellroten Farbe, dass es sich bei dieser Linie um den Längsschnitt eines
Blütenblattes handelte. Dem Kameraauge hoch üben würde sich wahrscheinlich der
Schnitt durch eine Blüte zeigen. Ein Blütenblatt war vollendet, es galt ein
nächstes anzufangen. Wendy war hin und her gerissen, ob er mitmachen solle.
Aber dann bedachte er, wie er gekleidet war und in welcher Verfassung er sich
befand und er entschied sich dagegen. Nein, als Blüte passte er nicht und sei’s
nur ein winziger Bestandteil. Seine Tochter und ihre Freundin hatten sich in
leuchteten Farben verkleidet. Da er nicht mitmachte, wirkten sie ziemlich
verloren in ihren Kleidern. Er zuckte mit der Schulter und verließ den
Theaterraum.
Immerhin löste sich nun die Frage nach seinem Einsatz. Er befand
sich an einem neuen Ort bei einer Arbeit, die ihn erfüllte. Der große, leicht
geneigte Raum befand sich im Obergeschoss. Die schräge Wand links und die
untere waren verglast, wodurch der Raum von Licht durchströmt wurde. Dieser
lichte Raum beherbergte eine Bibliothek, bzw. ein Archiv. Es war ein besonderes
Archiv, das lauter Traumaufzeichnungen bewahrte und eine Bibliothek in der
Schriften und Bücher gesammelt wurden, die Traumprotokolle enthielten. Wendy
beteiligte sich an der Erfassungsarbeit. Jedes Dokument, das darin lagerte,
musste mit Titel, Datum der Entstehung und einer kurzen Inhaltsangabe erfasst
werden. Anfangs schloss er sich zwei jungen Menschen an, die diese Aufgabe mehr
schlecht als recht ausführten. Er war beschäftigt ihnen hinterher zu arbeiten.
Im Laufe der Arbeit übernahm er allmählich die Führung und konnte so wenigstens
halbwegs eine Struktur in die Arbeit bringen. Es kam die Pause.
Sie gingen hinunter ins Foyer und von dort in einen angrenzenden
Raum mit Cafeteria. Im Foyer selber gab es auch einen Bereich mit Materialien.
Es war dafür mit leichten Wänden extra ein Raum abgegrenzt worden. Während
Wendy noch überlegte, wie er diese Dokumente einordnen solle, ob als
Quellenmaterial oder bei der Belletristik, trat der Vorsteher zu ihm und
äußerte grundsätzliche Bedenken.
„Wir brauchen diese Erfassung nicht. Ich wüsste nicht, wozu das
gut sein sollte“, sagte er. Eine gewisse Abneigung gegen die
Archivierungsbemühungen waren seinen Worten deutlich anzuhören.
Wendy war überrascht. Er wusste nicht wie er reagieren sollte und
vermied ein Streitgespräch.
Die Pause verbrachte er auf der Bank an der Frontseite eines
hohen Gebäudes. In der Ecke drüben war eine Theke, an der er sich Kaffee und
ein belegtes Brot holte. Die zwei flippigen Helfer machten ihm Sorgen. Gerade
waren sie verschwunden. Er wusste nicht, ob er weiter auf sie bauen konnte.
Doch das Schicksal zeigte sich günstig.
Als es Zeit wurde weiterzumachen, kamen zwei ältere Herren auf
ihn zu.
Als er ihre Frage, „sind Sie der Leiter der Archivierungsarbeit?“,
bejahte, stellten sie sich als freiwillige Helfer vor, die dem Aufruf. „Münchner Traumpädagogik-Ausbildung in Gefahr“
gefolgt waren.
„Herzlich willkommen“, stieß Wendy hervor, „Sie kommen mir wie
gerufen.“
Der eine Herr erinnerte ihn an einen Jugendfreund, den er damals
als ruhigen, verlässlichen Menschen geschätzt hatte. Der andere Rentner machte
ebenfalls den Eindruck eines angenehmen und verlässlichen Menschen. Wendy
führte die beiden in den schönen, lichten Raum hoch. Vor der Pause hatten sie die
bloßen Traumprotokolle mit Titel versehen und registriert. Jetzt ging es darum,
die Belletristik, die Traumaufzeichnungen enthielt, zu katalogisieren. Wendy
beschrieb den beiden einsatzfreudigen Rentnern die Vorgehensweise, die er sich
ausgedacht hatte und überließ sie dann ihrer Arbeit. Er selber ging nochmal ins
Foyer hinunter und stellte sich zum Vorsteher der Sammlung im Erdgeschoss.
„Sie haben Bedenken zu unserer Arbeit geäußert. Ich kann Sie
verstehen, weil es sich hier um einen anderen Bereich handelt, in den Menschen
spontan eintreten und dessen Inhalt einem größeren Wechsel unterliegt. Trotzdem
möchte ich Sie bitten, dass wir wenigstens die Titel, das Datum und eine
Bemerkung eins oder null für relevant oder nicht mehr relevant eintragen dürfen.“
Da gab der Vorsteher des Erdgeschosses das Einverständnis und
Wendy fing mit der Arbeit dort unten an.
Draußen stieß Wendy auf einen monumentalen Bau, der direkt an den
Bühnenraum anschloss. Eine Rampe trennte ihn vom Eingang zwischen hohen Säulen.
Vor der Rampe stand der dralle Mann, den er von der Winkelriedstraße in
Reußstadt kannte. Ein beherzter, freundlicher Mensch, der ihn ermunterte die
Stufen hochzusteigen. Doch von der anderen Seite näherte der Nörgler, den er
auch schon kannte und der, als er Wendy zu Gesicht bekam, sofort anfing ihn zu
hinterfragen und zu hänseln.
„Du doch nicht. Was willst du hier in diesem ehrenwerten Gebäude?
Besser du lässt es gleich. Das schaffst du eh nicht.“
Wendy ließ sich nicht beirren. Aber in der Tat der Aufstieg erwies
sich als äußerst schwierig. Es lag daran, dass die metallenen Stufen sich
gegeneinander verschoben. Die erste Stufe bot plötzlich nur noch seinen Zehen
Platz. Und als er zwei Stufen auf ein Mal nehmen wollte, spürte er, dass er den
schweren, schwarzen Rucksack trug. Er schaffte es nicht, die doppelte Höhe zu
überwinden. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten, bis sich die
Stufen wieder verschoben. Als er die erste endlich geschafft hatte, fing das
gleiche Spiel mit der zweiten und dritten an. Wendy war so mit dem Aufstieg
beschäftigt, dass er gar nicht bemerkte, wie die Zeit verging und wie er bei
den oben stehenden Männern längst zur Lachnummer geworden war. Einer hatte sich
extra den Bart wachsen lassen, nur um ihm zu zeigen, wie lange er brauchte für
diese wenigen Stufen. Der Bart reichte ihm bis auf die Brust und war grau
geworden. Um Wendy die Ausbildung des Bartes noch deutlicher zu machen, hatte
er die linke Hälfte abrasiert. Er wies mit den Fingerspitzen auf den
Längsschnitt des Bartes.
Endlich doch oben angekommen, nahmen ihn zwei Gestandene vom
Frühdienst in Empfang. Sie waren gealtert, aber er erkannte in ihnen die
beiden, die im Pflegeheim der ihm Sympathischen zur Schnecke gemacht hatten. Er
spürte, dass sie’s zum Spott machten. Darum wäre er ihnen gerne ausgewichen,
aber er wusste nicht wie. Sie eskortierten ihn hinein durch die riesigen
Säulen. Dann zweigten sie mit ihm nach links ab. Eine monumentale Wandelhalle
führt vor zum Foyer beim Haupteingang. Am Rand des Foyers blieben sie
unmittelbar stehen, als wäre ihnen der Eintritt in diese Halle verwehrt. In
geheucheltem Kompliment, flöteten sie gleichzeitig.
„Siehst da, die Schwämme,
die meterhohen. So stehst auch du da.“
‚So stehst auch du da‘ versteinert, klang in seinen Ohren. Auch
wenn sie dieses letzte Wort – wohl aus einem Überbleibsel von Respekt – nicht
ausgesprochen hatten. MLF
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen