Mittwoch, 3. Oktober 2012

105 Vermählung auf dem Kopf



Wendys zehntes virtuelles Abenteuer

Von der Siedlung her trat Wendy in einen leicht geneigten Wiesenhang in dessen unteren Hälfte ein einfaches Gebäude stand. Vor diesem Gebäude machte er sich mit seinen Begleitern an die Arbeit. Ihre Aufgabe war es, Steckverbindungen zu schaffen. Die anderen reichten ihm die zu verbindenden Teile und assistierten ihm. Er stellte befriedigt fest, dass die frühere Unsicherheit gewichen war und er endlich die Fertigkeit eines Meisters erlangt hatte. Was er zusammenfügte, passte wie gegossen.
Als Folge wurde ihm die Aufgabe übertragen, schon bestehende Steckverbindungen zu prüfen und im günstigen Fall die Genehmigung zu erteilen. Hieraus erwuchsen ihm unerwartete Schwierigkeiten. Er bekam eine Verbindung in die Hand, die anders war, als wie er diese sonst kannte. Der quadratische Zapfen saß seitlich fest, aber der Schlitz war länger und die Teile ließen sich zueinander bewegen. Er legte dieses Stecksystem zur Seite, weil er sich in der Beurteilung nicht sicher war. Schwierigkeiten bereiteten ihm auch zwei Frauen. Sie schweiften in einem weiten Kreis auf dem Feld herum, neckten ihn und machten ihm den Ball streitig. Der bloße Umstand, dass er nun Prüfer war, schien sie gegen ihn einzunehmen.
„Was willst du zu uns denn sagen, großer Prüfer? Weißt du überhaupt wie unsere Verbindung geht?“, rief die eine. Die andere neckte. „Der große Prüfer, der große Meister, der weiß alles, der kann alles …“
Zermürbt lief er gegen Abend ins Feld hinaus, um sie zur Rede zu stellen. Aber statt die beiden zu treffen, stieß er auf eine ganz besondere Frau. Er erkannte sie an ihren Augen, sie leuchteten in Regenborgenfarben, was im Zwielicht noch besser zur Geltung kam als sonst.
„Iris“, rief er und setzte an zu fragen, was sie hierher führe. Aber ihr strenger Blick ließ ihn verstummen.
„Du kommst mir gerade recht“, rief sie. „Wir haben dir eine bewegliche Verbindung vorgelegt. Warum lässt du sie liegen? Wir warten auf die Genehmigung.“
Wendy wurde nachdenklich. „Ja stimmt“, gab er zu, „ich wusste nicht, wie ich mich entscheiden soll. Ich bin von mir ausgegangen. Ich dachte, Männer sollten mit Gleichaltrigen zusammen gehen. Aber natürlich, du hast Recht, warum soll es nicht auch zwischen jungen und älteren Männern eine glückliche Verbindung geben.“
„Dann mach, dass du sie absegnest“, sagte Iris und verschwand im Dämmerlicht.
Er kehrte zurück auf seinen Platz vor dem Gebäude und unterschrieb gleich den Antrag für die ungleiche Verbindung.
Was er aber angestrebt hatte, die beiden Frauen zur Rede zu stellen, war ihm nicht gelungen.
Wie er nun auf dem Platz stand, wo er den ganzen Tag Zeit gewirkt hatte, da wurde ihm plötzlich bewusst, um was für ein Gebäude es sich handelte. Der Geruch war es, der ihn darauf aufmerksam machte. Es handelte sich um einen Schafstall. Da wurde er plötzlich von starken religiösen Gefühlen übermannt. Der Geruch des Mists wirkte betörend und versetzte ihn in Verzückung. Wendy ging zur abgewandten Seite des Schuppens und warf sich auf die Knie. Er faltete die Hände, hob sie hoch und rief von den schönsten Gefühlen erfüllt.
Grüß Hirt dein Kleid

Aus diesem ländlichen Feld mit den modernen Steckverbindungen geriet Wendy in eine Welt archaischer Ursprünglichkeit. Mit einer kurzen Zwischenstation davor.
Er stand im Erdgeschoss eines auf stattlichen Pfeilern ruhenden, gewaltigen Gebäudes. Obwohl unter Dach befand er sich in diesem modernen Bau im Mittagslicht. Nach draußen blickend sah er in einen Warteraum. Sehr einfach gebaut, von einer U-förmigen Stellwand eingefasst, lag der Raum außerhalb des großen Gebäudes. Die Wände waren so hoch wie das Erdgeschoss in dem Wendy stand. Er sah nicht wirklich in den Warteraum hinein, weil ein Pfeiler in der Mitte ihm den Blick verstellte. Umso deutlicher fiel ihm die schlichte Einfassung mit den drei Wänden ins Auge, die die Wartenden nach außen abschirmte.

Dann die archaische Welt. Der große Wechsel hatte ihn nach Afrika entführt. Schwarze Menschen, ein großes, strohgedecktes Lehmhaus, dunkle, fest getretene Erde ringsum. Und eine Luft mit einer ganz anderen Mischung der Lichtverhältnisse. Es war als hätte die Sonne eine Membran zu durchdringen. Woraus ein diffuser Zustand zwischen Hell und Dunkel resultierte. Erst wähnte er sich in Niger oder Tschad. Doch dann erkannte er, dass es Menschen seiner Rasse waren, deren Haut geschwärzt war. Der Bereich um die große Hütte war von einer Abgrenzung umfasst, in der er sofort die Einfassung des Warteraums wiedererkannte. Aber die Trennwand hatte hier nur die Höhe eines Zauns.
Ihm fiel eine Frau mit einer starken Ausstrahlung auf, die außerhalb der Umfriedung stand. Sie wirkte wie eine Ärztin unter lauter Eingeborenen. Ihr Gesicht war unvollständig besonders unvollständig geschwärzt. In den Augenhöhlen stach die Haut weiß hervor. Bei ihr hielt sich eine junge Frau auf, die das Gegenteil von ihr zu sein schien. Ein geducktes Wesen, behindert oder gar verkrüppelt. In einem Gehege vegetierte sie vor sich hin, über dem es kein Dach gab. Sie war wohl von der Gemeinschaft ausgegrenzt worden. Die Frau mit der starken Ausstrahlung wies ihn auf die junge Frau hin. Wäre sie nicht gewesen, so hätte auch er sich abgewandt. Aber sie rief ihn und forderte ihn auf, das ausgegrenzte Wesen anzunehmen. Widerstrebend ging er auf die gekrümmte, junge Frau zu. Er redete ihr zu und legte den Arm über ihren Rücken. Da richtete sie sich auf und er fand zu seinem Erstaunen, dass sie nicht verkrüppelt war, wohl nicht mal behindert. Wie eine Blume entfaltete sie sich dank seiner Aufmerksamkeit. Wendy erkannte, dass ihr Leiden nur auf der Missachtung beruhte, die ihr widerfuhr. Da trat die Frau mit der starken Ausstrahlung auf ihn zu. Er ahnte, dass etwas Ungewöhnliches geschehen würde.
Was er daran anschließend erlebte, war eine Reise in eine zurückliegende Zeit.

Wendy lag mit dem Rücken auf der nackten Erde. Die Membrane, durch die das Sonnenlicht drang, musste noch viel dichter sein. Es war, als sei die Luft eine dicke Suppe, die ihn nur gerade das folgende Geschehen erkennen ließ. Vor ihm, rechts, kauerte eine Gruppe von geschwärzten Jungs in einer Reihe, so dass er sie von der Seite sah. Die Jungs schwätzten und prahlten. Es dauerte eine Weile, bis er entdeckte, wem ihre großen Sprüche galten. Gegenüber, in einiger Entfernung, saßen zwei junge Frauen mit dem Rücken zu ihnen. Einer der Jungs war anscheinend verliebt. Die Art wie er sich hervortat, übermütig und rührselig zugleich, verriet, dass er eines der Mädchen begehrte. Schließlich ermannte sich der junge Mann, stand auf und näherte sich den Mädchen, die noch immer abgewandt waren. Wendy wurde Zeuge eines leidenschaftlichen Liebeswerbens. Der Junge beteuerte seine Gefühle.
„Du willst ja nur ein Abenteuer“, wehrte sie ihn ab.
Er schwor, dass seine Gefühle echt seien. Die Mädchen schimpften ihm Duett auf die Jungs. „Das sagt ihr immer und sobald es geschehen ist, seid ihr auf und davon.“
Immerhin schaffte er es, dass sie sich umdrehten.
„Ich liebe dich“, beteuerte er erneut.
Doch das Mädchen schüttelte den Kopf und gab mit Bewegungen der Hand zu verstehen, er solle zu den anderen zurückkehren. Doch der Junge blieb beharrlich und ließ nicht locker. Er beschwörte sie.
„Du bist die Einzige. Ich gehöre dir allein.“
Schließlich war das Mädchen überzeugt war. Sie suchten einen Platz für die Vereinigung. Den fanden sie ausgerechnet über Wendys Kopf. So nah, dass sie ihn berührten und er sich nicht zu rühren wagte. Er fühlte sich wie die Frau mit dem Baguette auf dem Kopf, gemalt von Dalí.
Dass die Frau mit der starken Ausstrahlung bei ihm war, fiel ihm erst jetzt auf. Sie trat hinzu und forderte ihn auf.
„Du musst schon zuschauen.“
Zögernd folgte er ihrer Anweisung und richtete sich auf. Er schaute auf die Liebenden, konnte sie aber nicht wirklich erkennen. Entweder lag es an seiner Schüchternheit oder an der Lichtmischung. Er sah Glieder und Körperteile, aber er konnte diese nicht wirklich zuordnen.

Er fand sich wieder beim großen Lehmhaus. Das Licht war diffus wie davor, aber deutlich heller als in der zurückliegenden Episode, in der die Vereinigung stattgefunden hatte. Sein Begleiter war jetzt ein Mann. Der war von ebenso bezwingender Ausstrahlung wie die Frau davor. Wendy traf gerade in den Ausklang eines Rituals. Außerhalb der Einzäunung des Gemeinschaftshauses stand ein großer Tisch, überhäuft von Opfergaben. Die Zeremonie war beendet. Die schwarzen Menschen feierten ausgelassen. Der Mann mit der starken Ausstrahlung trat zu ihm und sagte.
„Für dich gibt’s wohl an diesem Tag nichts.“
Während die Menschen unter dem Vordach sangen, spielten und tranken, ging Wendy daran den Tisch abzuräumen. Jenseits des Zauns stieß er auf eine große Menge Fleisch, die am Boden ebenfalls als Opfergabe aufgeschichtet war. Das Fleisch war stufenförmig angeordnet. Ganz vorne dünngeschnittener Räucherschinken, anschließend Schnitzel verschiedener Stärke bis zum happigen Roastbeef. Weiter Bratenstücke von zunehmender Größe und schließlich ein aus weißem Brät stilisierter Tierkopf. Wendy machte sich daran, als erstes das Fleisch zu bergen. Aber just, als er anfing, schoss kläffend eine Schar von Hunden herbei und machte ihm das Fleisch streitig. Er versuchte die Köter wegzujagen und rief die andern beim Gemeinschaftshaus um Hilfe. Doch die antworteten mit einem religiösen Spruch.
„Und die Dämonen werden kommen die Gaben zu verzehren. Und ihr werdet vor ihnen bewahrt bleiben.“
Alleine konnte er sich gegen die Hunde nicht zur Wehr setzen. Also gab er den Kampf auf. Es blieben die Gaben auf dem Tisch, die genügten, ihm das Gefühl zu geben, im Schlaraffenland gestrandet zu sein. Er stellte sich auf die hintere Seite des Tisches mit Blick auf das Gemeinschaftshaus.
Wie er jetzt anfing, die Gaben zu ordnen, in größere und kleinere Stücke, in Süßes und Salziges, erschien links von ihm ein kümmerlicher, verschüchterter Mann. Wendy musste an die ausgegrenzte Frau denken und nahm an, dass es ihm wie ihr ergangen war. Dass auch er von der Gemeinschaft ausgegrenzt sei. Der Ausgegrenzte wagte sich nur bis an die Tischecke, aber es war ihm anzusehen, dass er von den Gaben begehrte. Wendy schob ihm beim Aufräumen das und jenes zu. Aber als er auf einen großen Lebkuchen in der Mitte des Tisches stieß, zog er diesen an sich und ließ ihn in die Tasche seiner Schürze fallen. Von dem jungen Mann im Abseits kam prompt die Forderung.
„Ich möchte etwas Großes, Dickes haben.“
Keine Frage, er hatte den Kuchen gesehen.
„Es gibt doch von allem genug“, lenkte Wendy ab und schob ihm mehrere Tüten mit Nüssen und Keksen zu, mehr als er würde tragen können. Wendy fürchtete, dass seine eigene Tasche zu voll werden könnte, hatte der Mann mit der starken Ausstrahlung doch gesagt, dass es für ihn an diesem Tag nichts gäbe. Der würde ihm bestimmt Vorwürfe machen, wenn er ihn mit ausgebeulten Taschen sehen würde.
Der Kümmerliche taute zunehmend auf und wurde gesprächig. Er berichtete von einem Ausgegrenzten, der sich am Hang dahinter in einem Niemandsland aufhielt. Wendy hatte von ihm gehört. Er galt als verrückt und man glaubte, dass er die Gemeinschaft gefährde.
„Du wirst es nicht glauben“, sagte der junge Mann, aber ich habe mich ihm nähern können. Als ich ihn traf, wurde er ganz ruhig.
Wendy dachte an die junge Frau, der er sich angenähert hatte. Wie er den jungen Mann jetzt ansah, glaubte er plötzlich, den Verliebten vor sich zu sehen. Und in der jungen Frau, auf die ihn die Frau mit der starken Ausstrahlung gestoßen hatte, vermutete er die Geliebte, die sich mit dem Mann, der neben ihm stand, über seinem Kopf vereinigt hatte. Diese Entdeckung machte ihn stumm. Er wusste nicht wieso, aber es war ihm, als trüge er mit Verantwortung für ihr schweres Schicksal.
Da kam der Mann mit der starken Ausstrahlung zurück. Er sagte. „Das hört sich ja an, wie wenn die Handhabung des eigenen Bruders ein ganz schwieriges Unterfangen sei.“

Dieser Satz war das Einzige, das Wendy im Sinn trug, als er – wie ihm schien nach einer Ewigkeit – in seinem Sessel wieder das Zimmer und die gewohnten, ungetrübten Lichtverhältnisse wahrnahm. MLF

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