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Freitag, 17. August 2012

89 Zwei Greife


Die Nacht in einem Fraßgang
Die Nacht verbrachte er in einem Motel, dessen Schlafeinheiten wie Fraßgänge eines Borkenkäfers vom Weg, der zugleich ein Flur war, abgingen. Sie lagen deutlich tiefer, so dass er hinabsteigen musste. Die Brutstätte bestand aus einem zweigeteilten Raum und einem Bad. Das Ganze sah so neu aus, dass er meinte, er sei der erste, der diese Schlafstätte nutzte. Doch ein Junge war schon da. Ob er ihn störte? Es machte den Eindruck, denn er verließ augenblicklich den Raum. Tommy nahm eine der Decken und stellte sich oben auf den Weg. In den hinteren Räumen sah er mehrere Frauen beieinander. Nicht wenige von ihnen winkten mit großer Armbewegung. Es bestand also durchaus der Wunsch, zu ihm unter die Decke zu schlüpfen.
Als er danach mit einer von ihnen den Raum bezog, kehrte auch der Junge zurück. Er zeigte sich jetzt nicht mehr so abwehrend, sondern verhielt sich wie ihr gemeinsames Kind. Nur als Tommy ihn im Bad nach seinem Namen fragte, benahm er sich komisch. Er nannte einen zweiteiligen Namen mit Punkt dazwischen. Etwas wie „hero.dot“.
Tommy lachte verlegen. „Ist das dein Spiele-Namen?“, fragte er. Der Junge wird viel am Computer hängen, dachte er, er identifiziert sich mit einer seiner selbst gewählten Rollen. Kein Wunder, wenn er an einem so ungewöhnlichen Ort wohnt.
„Ich bin Tommy“, sagte Tommy, um ihn zu mehr Vertraulichkeit zu animieren. Aber es kam nichts weiter von ihm. Tommy bemerkte, dass die Frau sich amüsierte. Auf ihren runden Wangen bildeten sich Grübchen. Er kam sich ziemlich unbeholfen vor.

Nach einer Nacht an einem solchen Ort, was würde sich da tags darauf ereignen? Es folgte tatsächlich ein Tag, an dem er mehr erlebte, als sonst in einem Monat.

Die Greife
Bess, die Schwärmerin, die ihm bei der Hochzeit so bittere Vorwürfe gemacht hatte, würde diesen Monat Geburtstag feiern. Tommy dachte daran, wie kalt es üblicherweise in ihrer Küche war. Und er fragte sich, was man dagegen unternehmen könnte. Dieses Problem zu besprechen, fuhr er auf die Hochfläche, wo er mit Bess gemeinsame Freunde hatte.
Er traf sie im Hof vor ihrem Haus.
„Hallo Maren, hallo Reichhold“, begrüßte er sie.
Nachdem sie ein paar Neuigkeiten ausgetauscht hatten, kam er auf sein Anliegen zu sprechen.  
„Habt ihr daran gedacht, dass Bess diesen Monat Geburtstag hat?“
Die beiden sahen ihn verwundert an. Reichhold antwortete. „Ach so, ja, aber das ist doch noch eine Weile hin.“
„Trotzdem mache ich mir Gedanken“, sagte Tommy. „Erinnert ihr euch, wie kalt es die letzten Jahre bei ihr war?“
„Hm, fandest du?“, fragte Reichhold. Er schien sich nicht zu erinnern.
„Doch, schrecklich kalt“, beharrte Tommy. „Deshalb wollte ich euch fragen, ob ihr nicht von eurem Brennholz etwas abgeben könntet und sie bittet an dem betreffenden Morgen tüchtig einzuheizen oder schon ein paar Tage davor?
Reichhold und Maren sahen sich verblüfft an. Erst zeigten sie sich skeptisch, wie immer, wenn jemand an ihrem Reichtum nagen wollte. Aber schließlich stimmten sie doch zu.
„Wenn du meinst“, sagte Maren und Reichhold fügte hinzu. „Wir wollen sehen, was sich machen lässt.“
Ob er schon gefrühstückt habe, fragte Maren daraufhin.
Tommy schüttelte den Kopf.
Er solle sich zu ihnen setzen, forderte sie ihn auf. Sie seien auch etwas spät dran.
In dem Moment stakste ganz nah bei ihnen ein prächtiger Greif-Vogel hin und her. So groß wie ein kleiner Mensch, mit prächtigem Federkleid. Unter dem Vordach stehend betrachteten sie das außerordentliche Tier. Dass er sich so nah bei ihnen aufhielt, war ungewöhnlich. Vom Nacken herab über den Rücken fielen senkrechte Federn. Sie waren zu einem Umhang verbunden, der das halbe Federkleid bedeckte. Jede der Federn hatte drei bis vier verschiedene Farbsegmente, die mit den Farben der nebenliegenden Federn abwechselten, wodurch eine Farbenfülle entstand, wie sie Tommy noch selten gesehen hatte.
„Schau, der fliegt nicht weg“, sagte Maren und rannte auf den Vogel zu. Der hüpfte einige Schritte vor und flog tatsächlich nicht auf. Da erst sah Tommy dahinter einen zweiten, noch größeren Greif-Vogel mit einem Federkleid, das aussah, als hätte er sich wertvolle Decken aus Federn übergeworfen. Der Saum von jeder von diesen war mit einer strahlend weißen Bordüre verziert, wie kostbare Seidenspitzen.
Tommy erkannte sofort den Zusammenhang. Der bunte Vogel durfte nicht fliegen, solange der mit den weißen Bordüren nicht aufflog.
„Lass ihn“, sagte er zu Maren. „Er kann nicht, solange der vordere nicht fliegt. Es ist ihm nicht erlaubt.“
Leicht brüskiert drehte sich Maren um. „Kommt, wir gehen frühstücken, sagte sie und ging nach drinnen voran. Reichhold folgte ihr.
Tommy wurde von einer Entdeckung zurückgehalten. Unter dem Federkleid des Vogels dahinter sah er menschliche Beine. Die Federn verbargen eindeutig eine menschliche Gestalt. So ungewöhnlich fand er das nicht. Er hatte schon anderswo Menschen gesehen, die sich in einen Greif verwandelt hatten und es war auch nicht das erste Mal, dass er unter einem großen Vogel einen Menschen wahrnahm. Darum schien ihm auch vernünftig, als eine Stimme laut und deutlich sagte:
„Der hintere muss den vorderen zum Fliegen animieren.“
Während dem Frühstück mit den beiden beschloss er Bess aufzusuchen. Sie hatte ja immerhin einen Sohn von ihm. Nachdem er gut gegessen und reichlich Kaffee getrunken hatte, verabschiedete er sich von dem gastfreundlichen Paar. Er legte ihnen nochmal nahe, das mit dem Brennholz nicht zu vergessen.

Tommy fuhr zum Laden, um ein kleines Geschenk für den Jungen zu kaufen. Überraschenderweise traf er sie draußen auf dem Parkplatz an. Bess hatte das Söhnchen dabei. Der hatte sich total verändert. Durch die Haare sah man seine spezielle Kopfform nicht mehr und weil sie kraus waren und der Kopf rund und das Gesicht gebräunt, wirkte er fast negroid. Tommy begrüßte ihn durch die offene Wagentür. Aber der Junge wies seine Hand weg und taxierte ihn abwertend.
„Er mag keine Jacketts“, sagte Bess. „Du bist viel zu vornehm gekleidet.“
„Geht ihr jetzt nach Hause?“, fragte er.  „Darf ich auf einen Sprung vorbeikommen?“
Sie antwortete nicht gleich. Nach kurzem Überlegen sagte sie. „Um fünf kommt Beat von der Bank. Komm lieber dann. Du hast doch versprochen für uns zu arbeiten.“
Ihm war ihr Vorschlag gar nicht unpassend, denn er hatte noch einen Termin am frühen Nachmittag.
Es sei ihm recht so, sagte er. Er hoffe, er werde pünktlich sein.
Er winkte dem Jungen. Aber dieser behielt seine Abwehrhaltung bei.
Wenn er für sie arbeiten würde, brauchte er ja kein Geschenk, sagte er sich. Statt in den Laden zu gehen, fuhr er gleich nach Hause.

Ich vermute, sie ist Polin
Am Nachmittag fand in der Landeshauptstadt ein Kongress statt. In dessen Rahmen war ein Treffen mit Leuten verabredet, die eine engere Zusammenarbeit mit der Firma, in der er arbeitete, anstrebten. Tommy war beauftragt, die Interessierten zu treffen. In einem der weitläufigen Flure des Kongresszentrums traf er auf die Delegation. Sie bestand aus zwei Frauen. Mit der einen hatte er schon telefoniert, er erkannte sie sogleich an der Stimme. Sie hieß Yvette und war eine fesche Frau mit blonden Haaren. Sie stellte ihm ihre Kollegin vor, Marya, eine Dunkelhaarige, zurückhaltender als Ivette, aber nicht weniger ansprechend. Für Yvette war die Zusammenarbeit schon besprochene Sache. Sie kamen überein, dass sie nacheinander in der Firma mitarbeiten würden. Die erste würde gleich mit ihm in seine Stadt fahren. Tommy war etwas überrascht. Wenn er das gewusst hätte, wäre er mit Verabredungen zurückhaltender gewesen. Er hatte sich mit Enzo am Bahnhof verabredet und vor allem hätte er nicht noch einen Besuch bei Bess vereinbart. Sie gingen an die Theke und bestellten Kaffee. Tommy seilte sich kurz ab und rief seinen Chef an.
Ja, er habe die Delegation getroffen, es seien zwei Frauen „und denken Sie, die eine kommt gleich mit mir mit.“
„Ist doch gut so“, fand der Chef, „so wollen wir’s doch.“
Tommy wandte ein, dass er am Abend verabredet sei.
Er solle sie in die Firma bringen. Er werde sich um sie kümmern, sagte der Chef und fügte hinzu. „Aber schauen Sie, dass Sie sich in der nächsten Tagen Zeit für sie freihalten.“
Tommy zögerte, bevor er versprach, sich um sie zu bemühen.
Die Frauen gingen noch zu ihrem Wagen. Tommy lief voraus zum Bahnhof, wo er mit Enzo verabredet war. Sie warteten am Gleis auf die neue Kollegin. Er schickte Enzo nach drinnen, um Plätze zu reservieren. Selber wartete er auf Ivette. Aber wer kam, war die dunkle Marya. Sie folgte ihm in den Wagen und setzte sich auf den Platz, den Enzo für ihn reserviert hatte.
Enzo, der am Fenster stand, starrte sie entgeistert an. Tommy bemerkte seine Verlegenheit und neckte ihn.
„Ich finde, sie macht sich sehr gut neben dir.“
Auf dem Kongress war Englisch gesprochen worden. Es konnte aber gut sein, dass Marya Deutsch verstand. Trotzdem konnte er sich eine Bemerkung nicht verkneifen.
„Man könnte sie für eine Italienerin halten“, sagte er zu Enzo, „aber ich vermute, sie ist Polin.“

Fürs Studium ‚Horgone‘
Mit einer halben Stunde Verspätung traf Tommy beim Haus von Bess zwischen Urach ein. Marya hatte er in die Firma gebracht. Als er sie dem Chef vorgestellt hatte, war ihm an dessen Gesichtsausdruck nochmal bewusst geworden, was für eine frappierend schöne Frau sie war. Etwas abgehetzt betrat er das stattliche Haus, in dem Bess mit ihrem Mann und dem Söhnchen wohnte. Beat, der ein gut verdienender Bankier war, hatte vorgeschlagen, Tommy solle für sie etwas tun, damit sich seine wirtschaftliche Situation verbesserte.
Bei der Garderobe hing ein Schlauch. Tommy fing gleich an, das Glas der Tür, das leicht fleckig war, zu bespritzen und abzureiben. Beat schien dies für die falsche Arbeit zu halten.
„So ist das aber nicht gedacht“, sagte er und nahm ihm den Schlauch und den Lappen aus der Hand.
Er führte Tommy in das großzügige Wohnzimmer, in dessen Mitte ein Ungetüm von einem Drehspielzeug aufgestellt war, von der Art wie man sie auf Spielplätzen findet. Das Söhnchen saß gelangweilt daneben. Die Mutter stand auf, begrüßte Tommy und setzte sich wieder an die Wand, von wo aus sie das Kind im Auge behielt.
Dieses Mal freute sich der Junge und lachte ihn an. Sein Gesicht hatte sich deutlich geändert. Er wirkte jetzt viel geformter.
„Du musst dich mit dem Jungen beschäftigen, ihm etwas erzählen“, sagte Beat und Bess nickte.
Zum Studium braucht man Horgone“, sagte er.
„Was sind Horgone“, fragte Tommy verwundert. Er ahnte zwar, dass sie von ihm eine Art Früherziehung erwarteten, aber unter Horgonen konnte er sich nichts vorstellen.
„Aber du weißt, was Hormone sind?“, fragte Bess.
„Ich denke schon“, gab er zur Antwort. „Diese Wirkstoffe, die Drüsen ans Blut abgeben, zu vielseitiger Stimulation.“
„Siehst du“, antwortete sie. „Das Gleiche braucht auch der Geist. Er braucht auch Wirkstoffe, das sind die Horgone.“
Tommy setzte sich in einigem Abstand von diesem schrecklichen Drehteil hin und bat den Jungen, sich zu ihm zu setzen.
„Ich will dir etwas erzählen“, sagte er. „Sollen wir von den kleinen Dingen zu den Großen kommen oder lieber von den Großen zu den Kleinen?“
„Von den Großen zu den Kleinen“, antwortete der Junge prompt.
„Also, dann will ich dir etwas von der Welt, die man nicht sieht, erzählen, denn von der, die wir sehen, wirst du in der Schule noch genug erfahren.“ … MLF

Dienstag, 14. August 2012

87 Tanzgruppe der Freundin


Getrieben von einer starken Sehnsucht nach seiner Freundin führte ihn an einem sonnigen Tag eine vage Vermutung auf die Jurahöhe. Und tatsächlich, als er eine Weile durch einen vielgestaltigen Teil der Hochfläche gegangen war, stieß er zwischen weißen Felsen auf eine Gruppe fröhlicher, junger Menschen, die auf einer blumenreichen Wiese, weitab von jeder Siedlung, Tänze übten. Tommy freute sich, Bianca, die Mutter und ihren Kreis noch genau so jung und munter anzutreffen, wie er sie kennengelernt hatte. Er setzte sich ins Gras und schaute ihrem munteren Treiben zu, bei dem die Mutter in ihrer klaren, entschiedenen Art den Ton angab.
In einer Pause sonderten er und Bianca sich von den andern ab und gingen zu einem abgeschirmten Fleck zwischen den Felsen. Ungeniert folgte sie seinem Beispiel und legte sich nackt in die Sonne. Ihr schöner, weißer Körper verleitete ihn, sie zu berühren. Als er sie übermütig drehen wollte, tat es plötzlich einen Schlag. Erschrocken wich er zurück. In ihrem Körper musste sich ein Vakuum gebildet und beim Drehen gelöst haben – mit lautem Knall. Über ihren Rumpf strich sogar eine dünne Rauchfahne.
Der Schreck ernüchterte ihn. Plötzlich war das Gefühl, dass sie ihn begehrte und sie sich im Freien lieben könnten, verflogen. Als er sie küssen wollte, wehrte sie ab. Er spürte, wie die Eifersucht sie ihm entfremdet hatte. Ohne dass sie ein Wort sagte, sah er sich mit ihren Bedürfnissen konfrontiert. Klar, sie wollte im Leben nicht alleine dastehen. Sie wünschte sich einen Partner, nicht nur einen Bettgesellen.
„Ich habe ja nicht mal deine Adresse“, warf sie ihm vor.
Tommy griff nach seiner Tasche, holte Stift und Zettel hervor und schrieb Straße und Ort in leserlicher Schrift nieder. Er ahnte schon, was sie ihm schreiben würde. Und schmerzlich sah er voraus, dass er ihr würde klaren Wein einschenken müssen. MLF

Donnerstag, 5. Juli 2012

81 Portugiesin auf Schiff

Als Toni aufwachte, spielte sich eine Geschichte vor ihm wie ein langer Faden ab.
Eine Portugiesin auf einem Schiff. Sie war als Sklavin, beziehungsweise als Gefangene an Bord. Dort hatte sie schwere Arbeit zu verrichten. Alles was die Matrosen zu leisten hatten, wurde von ihr auch verlangt. Sie musste dem Heizer zur Hand gehen, nachts bei jeder Witterung Wache halten, musste das Schiffsdeck von Salzspuren säubern, etc. Wer weiß, was ihr sonst noch alles angetan worden war, dass sie ausführte, was sie getan hat. SIE BRACHTE EINE ANDERE FRAU UM. Dann beraubte sie diese ihrer Kleider und warf sie über Board. Es wurde auch noch eine Ziege geschlachtet. Damit verschafften sie sich zusätzliche Nahrung. Es hatte also Mitwisser gegeben.
Ein Wachmann, namens Hunger, verdächtigte die Portugiesin und klagte sie bei der Schiffsführung an. Die Mannschaft wurde versammelt. Es wurde Gericht gehalten. Doch sie vermochte den Vorwurf gegen den Kläger zu wenden. Schließlich wurde dieser gehängt.
Was für Schicksale. Aber ihre Tat musste doch aufgeflogen sein. Wie könnte man sonst davon erfahren haben?, dachte Toni.

Dass diese Frau Portugiesin war, erinnerte ihn an ein Detail aus einer von Milis Erzählungen. An dem Tag, da Tommy im Treff  von ‚Abrigator kontra Supernator‘ erfuhr [21], hatte er morgens an der Halde gearbeitet. In einem Streitgespräch, bei dem es um die Aids-Gefahr ging, hatte die Zuständige von der Halde Tommy gedroht. Dann könne er ja gleich nach Portugal gehen. (Wenn er keine Angst vor Aids habe)
Toni erkundigte sich, ob in diesem Land erhöhte Ansteckungsgefahr bestehe. Diese Vermutung wurde nicht bestätigt. Ein Witzbold bemerkte, das läge an der ursprünglichen Bedeutung des Namens, der auf lateinisch ‚Portus Cale‘, ‚warmer Hafen‘ zurückzuführen sei.

Dienstag, 5. Juni 2012

61 Modellstadt zerstört j

Einen Tag vor Bekanntgabe der Preisträger sah er von draußen zu, wie die Vorbereitungen für den festlichen Akt getroffen wurden. Dabei bemerkte er, dass es graduell dunkler wurde. Eine dünne Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben. Er konnte auf die leuchtende Scheibe am südwestlichen Himmel schauen, ohne geblendet zu werden. Da sah er etwas ganz Ungewöhnliches – neben der Sonne war eine Sanduhr.
„Bei der Sonne ist eine Sanduhr“, rief er den Anwesenden zu. Manche drehten sich um, aber niemand drückte sein Erstaunen aus. Tommy schaute noch genauer hin und da sah er, dass unweit der Sanduhr die ganze Modellstadt, die sie als Gedankenarbeiter geschaffen hatten, dort oben stand, säuberlich angeordnet. Jella hatte also ihr gemeinsames Gedankenprojekt hochgesandt. Von ihm aus gesehen lag sie unterhalb der Sonne. Wenn die Modellstadt bei dieser Entfernung so deutlich zu sehen war, so bedeutete das, dass sie zu voller Größe angewachsen war. Dies verstand er als ein gutes Omen. Manche Häuserreihen wirkten zwar etwas papieren, aber mit gutem Willen konnte er darin klar die Wirklichkeit gewordenen Vorsätze erkennen. Wie er die Häuser dort oben sah, war er doch beeindruckt, was diese Gruppe geleistet hatte.
Die Andern reagierten nicht. Ob sie die Stadt nicht erkannten oder ihre Bedeutung nicht begriffen? Er ging weiter. Blieb aber schon bald wieder stehen. Er konnte sich nicht sattsehen, an diesem fantastischen Gebilde. Doch jetzt fiel ihm noch etwas anderes auf. Ein großer weißer Wagen fuhr auf diese Stadt zu. Er schien fast zu groß für die Straßen. Tommy hatte kein gutes Gefühl dabei. Seitlich und in der Front waren drei schwarze Profile eingelassen, die vorne herausragten. Der große weiße Wagen mit den schwarzen Ausbeulungen fuhr direkt in die Stadt hinein, ohne Rücksicht auf Verluste.
„Halt!“, schrie er unwillkürlich. Er dachte an all den Fleiß und die Liebe, die Jella und ihre Mitstreiter darauf verwendet hatten. Aber sein Aufschrei half nichts. Er musste zusehen, wie ganze Häuserreihen weggeschoben wurden. Das Gebäude mit seiner neuen Wohnung stürzte ein. Eingreifen konnte er nicht. Niemand von da unten.
Aber er fasste den Entschluss den Wagen wenigstens zu fotografieren. Jella und ihre Gruppe mussten wissen, was da vorgegangen war. Sie hatten in ihrem Eifer wohl nicht bedacht, dass etwas, das jemand in Gedanken erschuf, von anderen wieder zerstört werden konnte. Das wollte er ihnen anhand eines Bildes beweisen. Seinen Apparat hatte er jedoch zuhause gelassen. Bis er diesen geholt hätte, wäre die Stadt schon längst zerstört und der Wagen wieder verschwunden. In seiner Nähe hielten sich zwei junge Frauen auf, Kunsttherapeutinnen. Die eine hatte eine Kamera umhängen. Er wies nach oben, bat, drängte sie, ein Bild zu machen. „Ich brauche ein Zeugnis“, rief er eindringlich.
Widerwillig zeigte sie sich schließlich bereit. Sie hob den Bändel über die Schulter, entfernte den Linsenschutz, drehte die Entfernung auf die liegende Acht, stellte Lichtempfindlichkeit und Brennweite ein. Aber just, als sie die Kamera anhob, stand plötzlich eine trennende Nebelwand vor ihnen und zwar nicht waagrecht, sondern aufrecht vom Boden hoch wie eine Wand. Bei genauerem Hinsehen waren es sogar zwei Nebelschichten mit lichtem Zwischenraum innerhalb. Tommy hatte sowas überhaupt noch nie gesehen. Er trat in die erste Schicht, passierte sie und blieb zwischen den beiden Wänden kurz stehen. Dann drang er durch die zweite Schicht. Aber bis er drüben war, breitete sich dahinter dichter Nebel aus. MLF

Montag, 4. Juni 2012

61 Modellstadt zerstört i

Ein wichtiger Termin stand bevor. Toni war unruhig. Er wälzte sich im Bett und konnte nicht richtig schlafen. Wie würde die Entscheidung ausfallen? Es hing viel davon ab für Mili und ihn. Seit er den Installateur-Beruf aufgegeben hatte – weil er Mili im stillgelegten Schwimmbad des Grand Hotels begegnet war – hatte er kein Geld mehr verdient. Er stand mit drei Monatsmieten in Verzug. Gas und Wasser waren schon abgestellt worden. Nur das Telefon und der Computer, auf dem er Milis Blog schrieb, funktionierten noch. Als hielte beim Kommunikationsserver jemand schützend die Hand über ihnen. Weil er für Kunst hielt, was er betrieb, hatte er eine entsprechende Förderung beantragt, um Mili ihren Wunsch, einen Blog zu haben, noch eine Weile erfüllen zu können. Drei Monate waren seit dem Antrag vergangen, jetzt würde die endgültige Entscheidung fallen.
Mit Mili konnte er darüber nicht sprechen. Sie lebte in einer anderen Welt. Für sie war es wichtig, dass sie schwimmen konnte. Womöglich zog sie ihre Nahrung sogar aus dem Wasser. Anders konnte er sich nicht erklären, wie sie ihre schönen Rundungen behielt, während er sich zunehmen auszehrte. Obwohl er mit ihr nicht über das Förderungsgeld gesprochen hatte, schien sie doch davon zu wissen. Er las dies aus ihren Geschichten, die seine Hoffnungen mal weckten und dann wieder dämpften. Als Kermit in Freiburg einen Korb gereicht bekommen hatte, waren seine Hoffnungen deutlich geschrumpft. [54, Ans Basket-Brett gelehnt] Wenn er mit jemandem sonst darüber sprach, wurde er meistens ermuntert: Du musst nur daran glauben, dann wirst du die Unterstützung bestimmt kriegen.
Mitten im Grübeln schlüpfte Mili zu ihm. Er hätte sie am liebsten nur gehalten. Aber das war nicht nach ihrer Art. So ließ er sich auf ein erregendes Spiel ein, von dem er fürchtete, es könnte das letzte dieser Art sein.
Danach richtete sich Mili hoch und erzählte die folgende Geschichte. AS

Jella leitete einen Kurs, ‚Gedanken schaffen Wirklichkeit‘. Alles was wir uns wünschen, können wir mit unseren Gedanken erschaffen. Gedanken sind Energie. Wenn wir an sie glauben, werden sie schöpferisch wirksam. Tommy fand es wunderlich, wie sehr sie – die sonst eine so praktische Frau war – und ihre Gruppe sich in diese für ihn schon fast magisch anmutenden Übungen hineinsteigerten. Er war eher gewohnt, die Dinge zu nehmen, wie sie waren und sie nicht eigenmächtig ändern zu wollen. Trotzdem nahm er auf ihr Drängen an einem Kurs teil. Da sie so viel für ihn tat, wollte er, wo er konnte, ihr entgegenkommen.
Als man in der Gruppe nach einem anspruchsvollen Ziel suchte, das wert sei, durch Gedanken realisiert zu werden, schlug Jella vor, man möge Tommy in Gedanken unterstützen, dass seine Firma den Förderpreis für junge Unternehmen kriege und so endlich etwas an ihre freiwilligen Mitarbeiter auszahlen konnte. Die Gruppe war einverstanden. Tommy hatte ein paar Fakten mitzuteilen. Wann sich die Firma beworben hatte, wie hoch das zu erwartende Preisgeld sei und wie das Geld verteilt werden solle. Die Antwort war, vor drei Monaten, fünfzig Tausend, die Mitarbeiter würden, wenn es tatsächlich eintraf, je vier Tausend kriegen. Für die bisher geleisteten Stunden ein Klacks, aber als einmaliger Betrag doch eine große Erleichterung für jeden der Beteiligten.
Jetzt begann die Arbeit der Gruppe. Gemeinsam ging man daran die Realisierung in Gedanken umzusetzen. „Es darf kein Zweifel aufkommen. Wir stellen es uns vor. So wird es sein“, betonte Jella als Leiterin des Kurses. Als erstes waren die Feierlichkeiten zu beschreiben mit der Preisübergabe. Tommy bat, dass jemand anderes seine Rolle übernahm. Es fanden sich sofort Bereitwillige und die Feier wurde minutiös durchgespielt und das Preisgeld entgegengenommen. Dann wurde die Stadt als Modellstadt in der Vorstellung beschrieben. Man suchte für ihn eine Wohnung. Nur eine Einzimmerwohnung, aber mit moderner Küche, Dusche und einem kleinen Balkon. Jemand ging in Tommys Rolle in einen Kleiderladen und deckte sich mit verschiedenen Kleidungsstücken ein. Jella sagte dazwischen immer wieder:
„Es darf kein Zweifel aufkommen. So wie wir es uns vorstellen, wird es sein.“
Jemand anderes ging für ihn in den Fahrradladen und kaufte eine aufsteckbare Lampe, die ihm bisher gefehlt hatte. Man ließ es Abend werden und ‚Tommy‘ ging in die Gaststätte, bestellte für sich und Jella – die er zum Dank, dass sie ihn all die Jahre beherbergt hatte, zu einem reichlichen Mal einlud. „Wie wunderbar, ich weiß gar nicht, wann ich zum letzten mal auswärts gegessen habe“, sagte ‚Tommy‘ und bestellte noch einen Nachtisch.
Nur wenn jemand aus der Gruppe ein Auto für ihn kaufen wollte, erhob Tommy Einspruch. „Du musst es nur visualisieren, dann kriegst du’s“, sagte eine besonders eifrige Teilnehmerin.
„Dafür reicht es definitiv nicht“, lautete sein Veto.
Die Gedankenstadt nahm Form an. Es war eine Freude sich in ihr zu bewegen, aus der bisherigen Enge sich in diese großzügige Stadt hinein zu begeben. Die Schüler hatten mit Jella ganze Arbeit geleistet. Fast nie hatte sich jemand versprochen und Zweifel aufkommen lassen. Sie hatten jetzt alle eine exakte Vorstellung von den Veränderungen nach der Preisverleihung. MLF

Donnerstag, 31. Mai 2012

59 Orientalischer Pool – Strand, Sand, Saat

Toni erwacht in der Wüste, an einer Oase. Er sieht eine schwarz gekleidete, anmutige Gestalt im Halbdunkel auf ihn zuschreiten. Das Gesicht kann er nicht erkennen, weil es verhüllt ist. Nach einer Weile wird ihm bewusst, dass er in seinem Bett liegt. Aber die Orientalin mit zierlichem Schritt bewegt sich wirklich auf ihn zu. Noch eine Weile dauert es, bis er durchschaut, dass es Mili ist, die sich mal wieder in eine neue Verkleidung verliebt hat. Als sie beim Bett ankommt, richtet er sich auf und ruft: „Du bist es, ich habe dich durchschaut.“ Da hebt sie das weite Kleid in einem Ruck über den Kopf. Ihr wunderschöner Körper – in einem dunklen Karamell-Braun – kommt zum Vorschein. Toni umfasst sie und will sie aufs Bett ziehen. Doch der Schleier lässt sich nicht lösen. Da es ihr nicht gelingt, ihn zu entfernen, wohnt sie Toni mit Schleier bei. Das Küssen durch das Netz ist enttäuschend, aber ihre Berührungen und die Vereinigung mit dem Gesäß sind von der Behinderung sogar noch gesteigert.
Notgedrungen spricht Mili die Geschichte durch den Schleier. AS

Er legte sich auf das Badetuch, fand aber keine Ruhe. Dann ging Tommy zum Wasser und stapfte darin herum, aber Ärger und Verdruss ließen ihn nicht los. Da lief er dem Wasser entlang. Je weiter er ging, umso entspannter fühlte er sich. Hinten, am Ende des Bassinrandes, standen Männer orientalischer Herkunft. Sie wirkten auf ihn sehr groß, trotzdem fühlte er sich wohl zwischen ihnen. Auch der Strand gefiel ihm hier, aber er wagte nicht, sich auszuziehen.
Neugierig ging er hinten um die Ecke. Er war noch nicht weit gegangen, da sah er einen anderen, viel schöneren Pool. Wahrscheinlich der Pool einer bestimmten Interessensgemeinschaft, dachte er. Dieses Wasserbecken schien quadratisch zu sein, obwohl er die Wasserfläche nicht ganz überblicken konnte. Über der Mitte des Beckens war ein Park angelegt, der die Sicht nach hinten verwehrte. Die Poolränder waren weich geformt und setzten sich in einem Viertelbogen unter dem Wasser fort. Das Wasser war sehr tief und klar. Mit viel Aufwand hatte man das Becken mit einer Art Pergola eingefasst. Was der Anlage ein Ambiente der Geborgenheit verlieh. Der Park auf der Insel war mit vielfältigen Sträuchern in hellerem und dunklerem Grün bepflanzt, aus denen Blüten in leuchtenden Farben hervorstachen. Auf einem freien Platz stand ein Mann und bei ihm eine Frau. Er erwies sich als orientalischer Sänger. Die Frau war allem Anschein nach seine Partnerin. Der Sänger erhob seine Stimme. Andächtig lauschten die Anwesenden und mit ihnen Tommy dem Vortrag. Obwohl er die Sprache nicht verstand, war er tief betroffen von den eindrücklichen Lauten. In einer Pause sprach der Sänger von seiner Frau. Fügte aber hinzu, dass es sich um die Frau seiner Fantasie handle. Tommy beobachtete, wie sich bei dieser Bemerkung das Gesicht der Frau neben ihm säuerlich verzog. Sie machte sowieso keine so gute Figur an seiner Seite. Dann wurde sie auch noch von Kindern abgelenkt, die versuchten sie wegzuzerren.
Tommy hatte die beiden von der Ecke des Pools aus beobachtet. Jetzt ging er dem Poolrand entlang zu einem mit rotem Sand gekiesten Weg, der ihn auf die Insel führte. Er schlenderte zwischen den Büschen durch und stieß schon bald auf eine Essenstheke. An der Front der Bedachung stand in großen Lettern: strand – sand – seed. Näher tretend sah er, dass es hier diese gelben Erbsen gab, die er schon lange gesucht hatte. Er überlegte, was er von seiner Seite beisteuern könnte und kam auf die Idee einen Salat beizutragen. Es reizte ihn Ackersalat für die Pool-Gemeinschaft zu bereiten. Aber für so viele? Würde er das schaffen? Ich mach einfach so viel wie ich kann, entschloss er sich. MLF