Freitag, 20. Juli 2012

86 Elisabeths Sohn


Es war noch gar nicht viel Zeit seit der Hochzeit vergangen, da rief ihn Sally, seine Tochter, an und teilte ihm mit, dass Elisabeth einen Jungen geboren habe. Sally drängte ihn, mit ihr die Freundin zu besuchen. „Oder lässt dich dein hombscher Freund nicht gehen?“, fügte sie provozierend hinzu.
„An welchen Tag denkst du?“, fragte Wendy, ohne auf die Spitze einzugehen.
„An heute Abend.“
„Ach so – heute Abend“, sagte er und überlegte, ob er etwas vorhatte.
„Erst spät“, fügte Sally hinzu, „Elisabeth sagt, ihr sei lieber, wenn wir in der Nacht kämen.“
Der Junge war erstaunlich reif. Er wirkte gar nicht wie ein Säugling, eher wie ein Kleinkind. Aber etwas anderes erstaunte Wendy noch mehr. Der Junge hatte einen besonderen Hinterkopf. Im hinteren Teil des Kopfes hob sich der Schädel nochmal in die Höhe, als trüge er einen flachen Turban. Er erschrak, denn er glaubte, es handle sich um eine Missbildung, um einen Geburtsfehler. Aber dann fiel ihm der Betende in der Bibliothek ein, der genau diese Kopfform gehabt hatte. Wie lange mochte es her sein, dass er ihn getroffen hatte? Etwa zwei Wochen vor der Hochzeit. Da hatte jemand Wendy am Eingang der Bibliothek abgefangen und ihm in einem der Räume eine Zeremonie vorgeführt, während er daneben gestanden und zugeschaut hatte. Dieser Betende hatte genau die gleiche Kopfform gehabt. Das beruhigte Wendy. Anscheinend gab es Menschen mit so geformtem Kopf, wie es Menschen mit flachem oder gewölbtem Hinterkopf gab. Der Junge war in seinem Verhalten nicht auffällig. Nur dass er so reif war, verwunderte. Sally reichte ihm ihre Zeigefinger. Er konnte sich daran aufrichten.
Es war deutlich nach Mitternacht, als Elisabeth den Tisch deckte und sie gemeinsam aßen – mitten in der Nacht, wie man sonst zu Mittag isst.
Wendy war erleichtert, dass von ihrer Auseinandersetzung bei der Hochzeit nichts mehr zu spüren war. Das hat also doch, wie ich vermutet habe, an ihrem schwangeren Zustand gelegen, sagte er sich. Doch beim Abschied zeigte sich, dass noch nicht alle Wolken verzogen waren.
Beat Amwald hatte sich am Rand aufgehalten und hatte auch nicht mit ihnen gegessen. Wendy hatte ihn gar nicht im Bewusstsein getragen, während Elisabeth, Sally und er sich mit dem Kind beschäftigten. Erst am Schluss beim Gehen sah er ihn im Flur und wandte sich ihm zu. Da sah er, dass Beats rechter Mittelfinger mit einem dicken weißen Verband umwickelt war.
„Was hast du denn angestellt?“, fragte er.
Er habe mit dem Hammer daneben getroffen, gestand Beat und streckte ihm die Hand mit dem weiß umwickelten Finger entgegen.
Elisabeth überreichte Beat den Jungen und begleitete sie zur Tür. Beim Abschied machte sie ihm dann doch noch einen Vorwurf, der Wendy hart traf.
„In deiner Werkstatt wird’s nie so weit kommen, dass du einen Keim auszudrucken hast“, sagte sie. Ihre sonst so schönen, gerundeten Züge nahmen dabei einen harten Ausdruck an. Sally schaute ihn verwundert an. Wendy ließ sich aber nichts anmerken. Er küsste Elisabeth auf die Wangen und wünschte ihr gutes Gedeihen für ihren Sohn.

„Was hat sie dir vorgeworfen?“, fragte die Tochter, als er sich neben ihr auf dem Beifahrersitz anschnallte.
Er glaube, er wisse, worauf sie anspielte, sagte er und berichtete Sally davon. Vor noch nicht langer Zeit, ein Monat oder zwei, war er im Eschenbacher Kulturzentrum gewesen. Dort hatte er jemanden getroffen, der ihm einen Ritus vorgeführt hatte. Aber er hatte die Sache nicht weiter verfolgt. Er vermute, das sei’s, was sie ihm vorwerfe. MLF

Donnerstag, 19. Juli 2012

85 Vorwürfe bei der Hochzeit

Für ihre Hochzeit hatten Elisabeth und Beat einen ungewöhnlichen Ort gewählt. Die Tische standen im Grünstreifen neben der abfallenden Straße, die am Hang die parallelen Sträßchen des Viertels in die größere Straße nach unten führte. Zu ihrem Fest waren die Gäste zahlreich erschienen. Elisabeth, die hübsche Braut, kümmerte sich um alle. Ihre schon fortgeschrittene Schwangerschaft schien sie dabei nicht einzuschränken. Beat Amwald wirkte neben ihr eher wie ein Begleiter und Beschützer, als wie der Geliebte und Ehemann. Er stand immer einen Schritt hinter ihr und achtete auf alle ihre Bewegungen. Der Zufall ergab, dass Wendy mit ihnen alleine an einen Tisch zu sitzen kam. Er wollte die Gelegenheit nutzen, um ein paar Worte zu seinem Mitbringsel – den neusten von ihm übersetzten Geschichten – zu sagen. Aber er hatte erst ein Wort über die Lippen gebracht, da platzte die Braut schon heraus.
„Ich kann es nicht mehr hören. Immer dein wirres Zeug, das kein Mensch versteht. Du stößt alle vor den Kopf.“
Sie stand auf und stampfte, Beat mit sich ziehend, davon.
Wendy fürchtete, das Fest verdorben zu haben. Aber kurze Zeit später sah er die Braut, sich mit anderen unterhalten, als sei nichts gewesen. Das liegt daran, dass sie in Erwartung ist, sagte er sich. Schwangere Frauen reagieren oft völlig unberechenbar. Ja, das war’s dann wohl mit unserer Freundschaft, dachte er wehmütig.
Er ging die Straße nach unten, wo sich in der ebenen Straße viele der Gäste aufhielten. Seine Freude am geselligen Austausch war erloschen. Unbeteiligt stand er zwischen den größeren und kleineren Gruppen, in denen man sich angeregt unterhielt.
Plötzlich stand Elisabeth vor ihm. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie nach unten gekommen war. Vorher hatte er einen spontanen Ausbruch erlebt. Jetzt ging sie ganz gezielt gegen ihn vor. Sie rief, so laut, dass es alle Gäste hören mussten.
„Millionen, Milliarden willst du damit gewinnen! Das ist lachhaft. Es ist eine Schande, was du treibst. Wo ist da die Realität? Du bist total verblendet.“
Dass sie so offen gegen ihn vorging, stellte den Konflikt auf eine sachlichere Ebene. Emotional war er dieses Mal nicht so hart getroffen. Im lag auf der Zunge zu sagen. Immerhin bin ich bereit Opfer dafür zu erbringen. Ich lebe von hundert Euro im Monat. Aber er sagte nichts. Er fürchtete, ein einziges Wort von ihm könnte die Feier zum Platzen bringen, so gespannt wirkte die Braut.
Wendy spürte teils vorwurfsvolle, teils fragende Blicke auf sich. Wahrscheinlich hatte niemand verstanden, um was es zwischen ihnen ging. Er selbst begriff ja nicht ganz, was sie so zornig machte. Er wollte sich nicht äußern und mied den Blickkontakt zu den anderen Gästen. Von da an stand er ganz am Rand.
Zum Abschluss des Festes versammelten sich die Gäste nochmal ganz oben in der ansteigenden Straße. Wendy hatte sich noch ein Ei ergattert und es geschält. Er suchte nach Salz, um es zu bestreuen. Dabei öffnete er versehentlich die oberste Schublade ihres Nachttischchens – ein Hochzeitsgeschenk, das sie präsentierten. Sein Buch lag gleich zweimal darin. Er überlegte, ob er es in die unterste Schublade ganz nach hinten stecken sollte. Damit es für eine Weile aus ihrem Blick war. Aber er beließ es, wo es war.
Elisabeth kam her und fragte ihn:
„Was ist ein lokaler Mittwoch?“
Also hatte sie doch in seinem Buch gelesen. Wie konnte sie ihn derart angreifen und dann kommen und ihm eine Frage stellen. Trotzdem antwortete er ruhig.
„Ich denke, ein Mittwoch, der an einem bestimmten Ort besonders begangen wird. So hab ich es mir zumindest überlegt, als ich die Stelle übersetzte.“
Amwald, der näher getreten war, stimmte ihm zu. So habe er es auch verstanden. MLF

Freitag, 13. Juli 2012

84 Ein raffinierter Spiegel

Ein großzügiger Wohnraum. Die Wände aus dunklen Balken und Naturstein. Ein gemauerter Ofen. Ein Tisch aus massivem Holz, wohl zehn Zentimeter dick. Die eine Wand ganz aus Glas. Durch diese sah er in die Waldlichtung. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er in einem fremden Haus war. Ich bin doch durch den Wald gegangen, überlegte er. Wenn er durch den Wald lief, schaltete er oft die Vernunft aus und überließ sich seinem Instinkt, wie ein Reiter die Führung seinem Pferd überlässt. Sein Gespür hatte ihn in dieses Haus geführt. Die Türe musste offen gestanden haben, sonst hätte er nicht so völlig unbewusst hinein gefunden. Also konnte es auch nicht schlimm sein, wenn er sich umsah. Die Glaswand bestand aus vielen Glasstücken, die mit flüssigen Metallnähten zu einer Fläche verbunden worden waren. Wie er sich dieses Flickwerk genauer anschaute, sah er durch das Glas in der Lichtung draußen den Künstler. Der musste ihn, just in diesem Moment, auch entdeckt haben, denn er kam näher. Er schien überrascht und zornig. Durch ein schräg gestelltes Klappfenster hörte Toni ihn rufen.
„Was erlaubst du dir! Wer hat dir gestattet, bei uns einzudringen?“
Toni hatte ihn gleich erkannt. Winter, ein bekannter Bildhauer. Bekannt, war vielleicht übertrieben, aber er kannte ihn jedenfalls. Bevor er etwas antworten konnte, rief Winter, dem Tonis Blick auf die Machart des Glases aufgefallen war.
„Das Glas ist noch provisorisch. Das richtige ist bestellt. Es kommt demnächst.“
Eine große Frau trat vom Flur her in den Raum, Frau Winter. Sie zeigte sich erfreut über den Besucher. Im Gegensatz zu ihrem Mann erkannte sie Toni.
„Schön, dass Sie zu uns kommen. Ich habe mich schon oft gefragt, warum Sie nicht mal bei uns reinschauen.“
Sie war eine strahlende Frau mit glatten kastanienbraunen Haaren, die sich zu einem Schwanz nach hinten gefasst hatte. Schön war sie durch ihr glattes, ausgewogenes Gesicht und durch ihre starke Ausstrahlung. Ihr lag am Austausch mit andern, das spürte Toni, was in diesem Haus im Wald wohl oft zu kurz kam.
„Es ist purer Zufall, aber ein glücklicher Zufall“, sagte Toni.
„Sie haben es gut getroffen, entgegnete sie, die Kinder sind auch da.“
Und gleichzeitig mit ihrem Mann, der durch einen Nebenraum hereinkam, stand plötzlich die Tochter neben ihnen. Sie war von ihrer Erscheinung nicht so strahlend wie die Mutter. Mindestens einen Kopf kleiner als diese, dafür war der Kopf auffällig dick. Worin kein Zweifel bestand, war, dass sie Toni verehrte. Mit ihren Blicken verschlang sie ihn geradezu. Sie war schon eine reife Frau mit üppigen Brüsten, die neben dem dicken Kopf das auffälligste Merkmal von ihr waren.
Toni ging auf die Wand zu und sagte bewundernd. „Da haben Sie sich ja ein schönes Haus bauen lassen.“
„Vieles haben wir selber gemacht“, antwortete sie. Toni fuhr mit seiner Hand über die rauen Steine und das dunkle Holz. Dann ging er zum Ofen und setzte sich auf die gemauerte Bank. Schließlich landeten sie am Tisch, der aus zwei oder drei Mittelbrettern einer riesigen Buche gefügt war.
„Wie hast du uns denn gefunden?“, fragte der Bildhauer, jetzt schon vertraulicher.
Toni erklärte, dass er sich im Wald meist seinem Gespür überlasse. Und das habe ihn zu dieser Lichtung geführt. Bis ins Haus hinein, denn unbewusst folge er meistens der Neugier, wenn er sich nicht am Zügel halte. „Tut mir leid, dass ich hier eingedrungen bin“, entschuldigte er sich nachträglich.
„Ist doch überhaupt kein Problem“, entgegnete Frau Winter, „wir führen ein offenes Haus.“
Als er ausgetrunken hatte, stand Toni auf und verabschiedete sich. Sie begleiteten ihn vor die Tür.

Draußen kamen ihnen mehrere braune Windhunde entgegengerannt. Stattliche Tiere mit langhaarigem Fell. Sie drängten sich an ihn und er strich einem nach dem andern über Kopf und Hals. Dabei fiel ihm auf, dass im Braun silberne Fäden waren.
Winter holte eine Stellleiter und schnürte sich einen klappbaren Spaten mit einer silbernen Schaufel um den Fußknöchel des linken Beins. Toni schaute ihm verwundert zu und fragte sich, was er damit vorhatte. Der Bildhauer stieg bis zur obersten Stufe hoch, dort hängte er den umgeklappten Spaten ein und ließ sich auf waghalsige Weise die Leiter hinabhängen.
„Bodo“, rief er einen der Hunde. Dieser rannte zur Leiter und richtete sich auf, indem er auf den Vorderpfoten die Tritte hinaufstieg. In dieser ungewöhnlichen Lage zupfte ihm der Bildhauer die silbernen Haare aus. Der Hund ließ es geschehen. Als er mit ‚Bodo‘ fertig war, rief er den nächsten, ‚René‘.
Frau Winter lotste Toni in den nächsten Bau, in dem ihr Sohn, wie sie sagte, am Computer arbeite. Das Foyer dieses einstöckigen Gebäudes hatte in der Decke einen gewölbten Plexiglas-Einsatz. Toni machte Frau Winter ein Kompliment.
„Sie halten das alles im Schuss, ziehen Kinder groß und sind noch künstlerisch tätig. Das ist beachtlich.“
Sie antwortete nicht, aber er spürte, dass ihr die Anerkennung gut tat. Während die Mutter nach dem Sohn ging, stand die Tochter plötzlich ganz dicht vor ihm. Er hatte schon die ganze Zeit eine große Gespanntheit an ihr bemerkt. Das Kompliment an die Mutter hatte sie die Beherrschung verlieren lassen. Mit ihren weit ausladenden Brüsten stieß sie an ihn und schaute ihm von unten direkt in die Augen. Toni geriet in ziemliche Verlegenheit. Mit ihrem dicken Kopf war sie nicht gerade eine Schönheit. Und er war gar nicht auf eine Liebelei zu einer Frau eingestellt. Als der Sohn kam, wandte sich Toni von der Tochter weg ihm zu. Der Sohn schien nur der Mutter zuliebe gekommen zu sein. Er wirkte entsprechend zerstreut. Offensichtlich hatte sie ihn aus einer konzentrierten Tätigkeit herausgerissen. Er hatte noch einen jüngeren Bruder auf dem Arm. Oder war das gar sein Sohn? Merkwürdig, dachte Toni, ob der Junge ihn bei der Arbeit nicht störte?
„Darf ich fragen, was Sie am Computer arbeiten?“, fragte Toni.
„Ich schreibe einen Blog“, gab er zur Antwort.
„Worüber?“, hakte Toni nach.
„Die Geschichten stammen von meiner Schwester. Seit dem Winter erzählt sie jeden Tag eine. Ich setze sie um.“
Toni drehte sich bewundernd der Tochter zu. Sie gefiel ihm mit einem Mal viel besser.
„Was sind das für Geschichten?“, fragte er sie.
„Hast du die von heute Morgen schon getippt?“, wandte sie sich an ihren Bruder.
„Sie liegt noch im Drucker.“ Er setzte den Jungen ab und sagte ihm, er soll sie aus dem Druckerfach holen. Das Kind konnte plötzlich laufen und kehrte kurz danach mit drei Blättern zurück.
Als Toni sah, dass es ein längerer Text war, faltete er das Papier und steckte es in seine Tasche. Der Junge stand nun bei der Tochter. „Mama, was will der Mann mit der Geschichte?“, hörte Toni ihn sagen.
Er will sie lesen, entgegnete sie und strich ihm über den dicken Kopf. Toni betrachtete den Kopf des Sohnes und der Tochter und dann wieder den des Kindes. Da ahnte er, was sich hier ihm Wald abgespielt haben musste.
Er verabschiedete sich von der Mutter und von den beiden. Der Kleine wagte sich vor und reichte ihm sein Händchen. Draußen war der Bildhauer noch immer am Auszupfen von grauen Haaren.

Auf dem Rückweg überließ Toni sich wieder seinem Gespür. Dieses führte ihn sicher zu Marks Bus zurück. Er legte sich auf die noch ausgeklappte Liege und wollte die Geschichte der Tochter hervorholen. War aber zu müde und schlief ein. Als er nach dem Aufwachen etwas gegessen hatte, fiel ihm der Text wieder ein. Er holte ihn aus der Tasche und schlug ihn auf.
‚Im Waldhaus von Winters‘ war die Überschrift. ‚Ein großzügiger Wohnraum. Die Wände aus dunklen Balken …‘ MLF

Das war doch der Raum, in dem er sich vorgefunden hatte. Die Glaswand aus Stücken zusammengefügt, der Bildhauer draußen, die Frau, die zu ihm trat, die Tochter – alles genau wie er es erlebt hatte. Tonis Hand zitterte, während er weiterlas. Die Leiter, die seltsamen Namen der Tiere, das Foyer mit dem gewölbten Kunstglas in der Decke. Die Tochter, die in die Offensive ging und zum Schluss der Kleine, der ihm die Blätter überreichte, die er jetzt in der Hand hielt und der möglicherweise das Kind eines Geschwisterpaares war.
Langsam wurde ihm bewusst, dass er in einen raffinierten Spiegel geblickt hatte. AS

Mittwoch, 11. Juli 2012

83 Der Stichtag steht bevor

Es hätte so viele Möglichkeiten der Zusammenarbeit gegeben. Aber in der Schulwerkstatt hatte sich Eugen Nuschel breitgemacht. Mit diesem fahrigen, besserwisserischen Hansdampf in allen Gassen war eine sinnvolle Arbeit unmöglich. Boku konnte nicht mehr in die Werkstatt, weil er auf Eugen allergisch war. Umso deutlicher spürte er, wie der Stichtag näher rückte.
Als er über das Feld zur Siedlung lief, machte er eine erfreuliche Entdeckung. Mitten im Freien stand ein offener Pavillon. An einem Tisch, wie ihn die Vermesser benützen, saß ein Junge. Er war konzentriert über die Arbeit gebeugt. Boku spürte förmlich, wie diese ihm Spaß machte. Es gibt also doch noch jemand, der sich einsetzt, auch wenn es nur ein Junge ist, aber immerhin, dachte er.
Er lief weiter zur Siedlung. Bei den ersten Häusern kamen schon die anderen und überbrachten ihre tollen Geschenke. Komplexe räumliche Gebilde aus Fäden mit daran befestigten Schmuckstücken. Vom mittleren Punkt liefen die Fäden strahlenförmig, schräg abwärts auseinander, dann senkrecht nach unten zwei, drei Spannen lang, um wieder zur Mitte zurück zu laufen. An jedem Faden waren im Abstand von wenigen Zentimetern Kostbarkeiten befestigt. Dadurch entstand ein geheimnisvolles Gebilde von räumlicher Tiefe. Er wollte auch so etwas schaffen und es ihnen schenken. Dazu aber musste er erst mit den Seinen reden.
Er traf sie an bei Tisch. Die ganze Familie an einer langen U-förmigen Tafel. Wie in solchen Fällen üblich, hatte die Schwägerin das Sagen. Sie war eine imposante Person. Er wandte sich direkt an sie.
„Der Stichtag rückt näher und wir haben noch immer nichts fertiggestellt. Nichts als ein Haufen von Einzelteilen. Eugen hat sich in der Schulwerkstatt breit gemacht und schaut, wen er mit seinen Binsenweisheiten belehren kann.“ Er bemerkte, dass er ins Leere redete, fuhr aber fort. „Es wird Zeit, dass wir uns zusammentun und schauen, was wir aus unserer Fülle von Material erschaffen können.“
„Merwin ist seit zwei Tagen nicht da!“, entgegnete sie, als gebe es gemessen daran nichts Wichtiges. Ihr Sohn, sie hatte nichts als ihren Sohn im Auge. Dabei war Merwin längst ausgewachsen. Merwin präsentierte die neuen Einzelteile. Einzelteile aber hatten sie genug. Es bedurfte gar keiner neuen mehr. Aber wie sollte er ihr das klar machen? Ihr Sinn war immer auf ihre Kinder gerichtet, dass die gut dastanden. Sie hatte überhaupt keinen Blick fürs Ganze. MLF

Freitag, 6. Juli 2012

82 Erwartungshaltung des Chors


In der Werkstatt hoch oben gab es viele Arbeitsplätze wie in einer Bildhauerschule. Die Plätze waren in Kammern, die rechtwinklig vom ansteigenden Flur abgingen, voneinander abgetrennt.
Er war ein geachteter Arbeiter. Das Problem war, dass da niemand war, der ihn unterstützte. Er konnte nicht an allen Arbeitsplätzen gleichzeitig wirken, sondern immer nur an einem.
Durch eine Tür im Flur gelangte man in einen oberen Teil der Werkstatt. Auch hier gab es mehrere Arbeitsplätze, die waren aber nicht so deutlich von einander getrennt. Hier war tatsächlich noch einer am Arbeiten außer ihm. Er nahm ihn aber nicht für voll, weil er deutlich kleiner war als er. Doch was ihn beeindruckte, waren seinen feinen Finger und die Werkzeuge, die er benutzte. Sie waren auf viel detailliertere Arbeit ausgelegt, als die seinen. Er überlegte kurz, ob er auch hier arbeiten solle, spürte aber sofort eine Ungeduld, die ihn zum Umkehren bewegte.

Sie machten zeitig Feierabend. Er hätte gerne noch auf den Mitarbeiter von oben gewartet, aber als der nicht kam, gingen sie ohne ihn los. Was er im Flur vor zum Zentrum sah, war beängstigend. Es lag nicht daran, dass der Bau so exponiert war, sondern weil alles was herumstand am Zerbröseln war. Obwohl die Lage so hoch war, erinnerte ihn dieser Ort an ein Schattenreich.
Ganz anders dagegen im belebten Kern, im Zentrum, in das sie jetzt gelangten. Etwas erhöht standen zwei Chöre zum Singen bereit. Er spürte eine Erwartungshaltung: Begrüßt uns singend. Die Chöre warteten auf einen Vorsinger, den sie echoen konnten, beziehungsweise auf eine Einzelstimme, die ihren Gesang verdichtete und diesem zum konzentrierten Ausdruck verhalf. Er räusperte sich, setzte an zu einem Sprechgesang. Aber bevor der erste Ton über die Lippen kam, verlor er das Selbstvertrauen. Das sind doch alles Sänger und Sängerinnen, die nichts anderes machen, als zu singen. Wie sollte er da mit ihnen in Austausch treten können. Er schlich sich mit den andern an ihnen vorbei. Es war eine seltsame Welt, vorherrschend pechschwarz und glühend rot, Farben, die er wo ganz anders erwartet hätte.
Sie legten sich weiter hinten, im Steilhang unterhalb ins trockene Gras. Seine Begleiterin lag neben ihm mit dem Kopf auf seinem Arm. Ringsum war einiges geboten. Er sah zum zweiten Mal, wie eine Frau mit einer Fülle von lockigen, offenen Haaren sich auf die Kante hinstellte und – als sie sicher war, dass aller Blicke auf ihr ruhten – sich den Steilhang hinabrollen ließ.
„Habt ihr das gesehen? Ist ja fantastisch!“, rief er in echter Begeisterung.
Da stand seine Begleiterin auf. Sie war gereizt. „Ich habe jetzt genug davon, hier herumzuhängen“, sagte sie.
Er distanzierte sich von ihr. Zeit zum Aufbrechen.
Im Weggehen spürte er noch, wie sich ihr volles, aber burschikos kurzes Haar in seiner Hand angefühlt hatte. Irgendwie beunruhigte ihn schon die ganze Zeit, dass er nicht auf den Kollegen mit den feinen Händen aus der oberen Hälfte der Werkstatt gewartet hatte. Ich muss zurück, obwohl… Es hieß man solle an diesem Ort nie zurückgehen. Er tat es trotzdem. Das Gebrösel hatte er schon auf dem Hinweg gesehen. Das konnte auf dem Rückweg nicht schlimmer werden.
Der mit den feinen Fingern war längst nach Hause gegangen. Er suchte nach Decken. Irgendetwas musste doch zur Decke taugen, damit er schlafen konnte. Etwas, das nicht bröselte. MLF

Donnerstag, 5. Juli 2012

81 Portugiesin auf Schiff

Als Toni aufwachte, spielte sich eine Geschichte vor ihm wie ein langer Faden ab.
Eine Portugiesin auf einem Schiff. Sie war als Sklavin, beziehungsweise als Gefangene an Bord. Dort hatte sie schwere Arbeit zu verrichten. Alles was die Matrosen zu leisten hatten, wurde von ihr auch verlangt. Sie musste dem Heizer zur Hand gehen, nachts bei jeder Witterung Wache halten, musste das Schiffsdeck von Salzspuren säubern, etc. Wer weiß, was ihr sonst noch alles angetan worden war, dass sie ausführte, was sie getan hat. SIE BRACHTE EINE ANDERE FRAU UM. Dann beraubte sie diese ihrer Kleider und warf sie über Board. Es wurde auch noch eine Ziege geschlachtet. Damit verschafften sie sich zusätzliche Nahrung. Es hatte also Mitwisser gegeben.
Ein Wachmann, namens Hunger, verdächtigte die Portugiesin und klagte sie bei der Schiffsführung an. Die Mannschaft wurde versammelt. Es wurde Gericht gehalten. Doch sie vermochte den Vorwurf gegen den Kläger zu wenden. Schließlich wurde dieser gehängt.
Was für Schicksale. Aber ihre Tat musste doch aufgeflogen sein. Wie könnte man sonst davon erfahren haben?, dachte Toni.

Dass diese Frau Portugiesin war, erinnerte ihn an ein Detail aus einer von Milis Erzählungen. An dem Tag, da Tommy im Treff  von ‚Abrigator kontra Supernator‘ erfuhr [21], hatte er morgens an der Halde gearbeitet. In einem Streitgespräch, bei dem es um die Aids-Gefahr ging, hatte die Zuständige von der Halde Tommy gedroht. Dann könne er ja gleich nach Portugal gehen. (Wenn er keine Angst vor Aids habe)
Toni erkundigte sich, ob in diesem Land erhöhte Ansteckungsgefahr bestehe. Diese Vermutung wurde nicht bestätigt. Ein Witzbold bemerkte, das läge an der ursprünglichen Bedeutung des Namens, der auf lateinisch ‚Portus Cale‘, ‚warmer Hafen‘ zurückzuführen sei.