Freitag, 29. Juni 2012

77 „Herr Wendy Nil“

Während er im Gruppenraum den Hahn am Spülbecken abschraubte und einen neuen, leichter zu bedienenden, montierte, wurde am Tisch hinter ihm heftig diskutiert. Er hörte, dass für einen Film über ihre Einrichtung viel Material gesammelt worden war, aber dass es nicht mehr weiter ging. Aufhören oder weitermachen war die Frage. Darüber wurde gestritten.
Toni jobbte in einem Pflegeheim, für das er früher viel gearbeitet hatte. Nachdem er von Marks Kasse einmal getankt und zweimal Lebensmittel gekauft hatte, war ihm nicht mehr wohl dabei gewesen, ausschließlich auf Kosten seiner Freunde zu leben. Deshalb hatte er bei der Einrichtung, für die er früher die sanitären Anlagen gewartet hatte, nachgefragt, ob sie einzelne Arbeiten für ihn hätten. Es kam die Antwort, dass es viel zu reparieren gäbe. So kam es, dass er sich um verschiedene Reklamationen im Sanitärbereich kümmerte, die der Hausmeister auf einer Liste notiert hatte. Ihm gefiel diese Arbeit, weil er viele vom Personal kannte, inklusive der Leitung und auch einige Bewohner. Deshalb ließ ihn auch nicht kalt, was er mitbekam, während er den Hahn austauschte.
Holger, ein Pfleger mit rundem, glänzenden Gesicht und stark gelichtetem Haar, sagte zu den anderen. „Die Szenen, die gedreht wurden, sind doch alles in allem unbefriedigend. Was soll man sich da noch Arbeit mit machen.“
„Was heißt‚ ‚alles in allem unbefriedigend‘?“, unterbrach ihn eine Neue, die Toni nicht kannte, scharf. „Du hast doch zu einigen Szenen gesagt, dass du sie gut findest, oder etwa nicht?“
Eli, eine blasse Pflegerin – sie schien ziemlich müde zu sein – ergriff für Holger Partei. „Ich finde auch, das alles macht nicht richtig Sinn.“
Toni fand diese Haltung falsch. Aber er hütete sich davor, sich einzumischen. Er hatte andere Aufgaben. Aber dann stand Thorsten auf und kam zu ihm her. „Hey Toni, du kennst doch unsere Einrichtung gut. Was denkst du, sollen wir versuchen das Projekt abzuschließen oder sollen wir es besser an den Nagel hängen?“
Toni wischte sich die schmierigen Hände am Lappen ab und lehnte sich gegen die Ablage. „Was soll ich dazu sagen? Ich weiß ja nicht mal genau, um was es geht“, stieß er hervor.
Thorsten erklärte ihm in kurzen Worten das Projekt. „Es sind viele Szenen gedreht worden. Sie haben alle etwas mit unserer Welt hier zu tun. Alles Mögliche, was hier so passiert. Du weißt, in unserem Haus geschieht viel Ungewöhnliches, Rohrbruch mit eingeschlossen. Es hat Spaß gemacht, es ist aber auch viel Arbeit gewesen. Jetzt gibt es einen Haufen Filmmaterial, das es in Form zu bringen gilt. Ich finde, es wäre schade, dies alles in einen Schrank einzuschließen. Was sagst du dazu? Wäre doch ein Jammer, das jetzt alles ad acta zu legen, findest du nicht?“
Toni zögerte. Was sollte er dazu sagen? Er wusste genau, wie es war in dieser Einrichtung. Letztendlich ging doch immer die Arbeit vor. Da mochte noch so viel künstlerischer Ehrgeiz vorhanden sein. Im Grunde ging es ihm genau so. Er hatte bei Milis Geschichten auch den Faden verloren. Die Arbeit, die er hier machte, hüllte ihre Erzählungen noch zusätzlich in Nebel. Er hätte sich am liebsten gar nicht geäußert. Aber da ihn Thorsten explizit fragte, ließ er sich zu einer Aussage verleiten. Er trat näher an den Tisch und sah jeden einzeln an.
„Leute, sagte er, die Einzelszenen sind alle gefilmt. Jetzt gilt es sich dranzuhalten. Es lohnt sich. Dann wird aus der Sache ein rundes Ganzes. Ich wette da steckt viel drin, hundertprozentig.“
Alle hörten ihm zu. Selbst Holger, der vorher für Beenden plädiert hatte, wirkte überzeugt.
Toni sagte nichts weiter und ging an seine Arbeit zurück. Doch hinter ihm klang es jetzt anders. Eine Gruppe von dreien wurde gebildet, sie sollte sich mit dem Schnitt beschäftigen.
Als er wieder zu einer Reparaturarbeit ins Heim kam, traten die drei, die den Schnitt übernommen hatten, auf ihn zu. „Der Film ist fertig geworden“, riefen sie gleichzeitig. Die Neue – Margit – hatte eine Hülle in der Hand. Thorsten sprach.
„Wir suchen jemand, der den fertigen Film zur Abgabestelle bringt.“
„Warum geht ihr nicht selber hin?“, fragte Toni.
„Bei unseren Dienstzeiten ist es schwierig“, entgegneten sie.
Das hörte sich für Toni eher wie eine Ausrede an. Aber er tat ihnen den Gefallen gern. Schließlich fand er es toll, dass der Film doch noch fertig geworden war.
Er nahm die schwarze Hülle entgegen und warf einen Blick hinein. Auf der Scheibe stand, ‚Filmprojekt Pflegeheim…‘ und das Datum.
Er bemerkte, ob man sich nicht einen etwas originelleren Titel einfallen lassen könnte.
Doch Margit hielt dagegen, dass man einen solchen jederzeit nachreichen könne, falls der Film Anerkennung finde.
Am Ende der Ortschaft stand das Haus, bei dem er das fertige Werk überreichen sollte. Er stellte den Transit auf eine der Parkflächen, die alle frei waren. Das Ortsende machte auf ihn den Eindruck, als sei dieser Ort schon vor einer Weile verlassen worden. Immerhin traf er eine Frau an der Tür. Aber sie schickte ihn mit einer Armbewegung nach hinten. Der Weg um das Gebäude herum führte in einen Turm und nach einem Rechtsknick im Innern wieder aus diesem hinaus. Vor dem Eingang draußen traf er auf den Bürgermeister, einen großen, kräftigen Mann. Er musste ihn schon beobachtet haben, als er von vorne kam, denn er war nicht überrascht. Der Bürgermeister nahm die Hülle mit Inhalt beiläufig entgegen und steckte sie in eine Ledertasche, die auf einem kleinen, gelben Tisch stand. Irgendwie hatte Toni den Eindruck, dass er ihm – dem Boten – mehr Aufmerksamkeit schenkte, als dem Film selber. Er wollte gerade sagen, ich bin nur der Überbringer, als der Bürgermeister in ernsthaft ins Auge fasste und bemerkte.
„Du bist von der Norm abweichend, super wie gut du bist.“
Toni blieb der Mund offen.
Er fuhr auf den Parkplatz beim Sportgelände, wo er die meiste Zeit übernachtete und legte sich dort schlafen. In der Nacht kam Mili und teilte ihm die Geschichte von einem Herrn Wendy Nil mit, die seltsam zu seinen Erlebnissen im Pflegeheim passte. So traf Wendy Nil die Leitung des Pflegeheims und es kam Toni so vor, als wäre er selber an seiner Stelle. Will sie mir von etwas berichten, das auf mich zukommen könnte?, fragte er sich. AS

Wendy Nil saß mit dem abgedankten Leiter des Pflegeheims und dem neuen Chef an einem Tisch. Der Alte saß an der Stirnseite und der Neue, den Wendy nicht für wirklich fähig hielt, das Heim zu leiten, ihm gegenüber. Sie kamen auf Wälders zu sprechen, die in der Höhe eine Einrichtung führten, mit der das Pflegeheim in enger Beziehung stand. Wendy, der mit den Bewohnern von seiner früheren Arbeit her eng verbunden war, sagte.
„Ich bin so dankbar, dass ich das alles erleben konnte, dass ich Menschen von hier in ihren letzten Stunden begleiten durfte.“
Der alte Leiter ließ in einem Bericht seine Zeit Revue passieren und fügte noch hinzu. „Am Haus-Parlament habe ich wenig teilgenommen.“ In dem Moment, da er dies aussprach, fiel er nach hinten und schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Wendy sah an der Wand eine schwarze Spur, die der von der Maus glich, die vor der Katze geflüchtet und in einer Spalte verendet war. Da wusste er, dass der Leiter tot war. Der neue Chef und er verharrten eine ganze Weile bewegungslos auf ihren Plätzen, wohl wissend, dass sie aufspringen und den Notarzt rufen sollten.
Der Vorfall im Pflegeheim führte zu einem großen Trubel. Klar, nun da der alte Leiter überraschend gestorben war, brachen die Angriffe los, die gegen diese Einrichtung schon lange geplant worden waren.
Der Umbruch trug Wendy einen Job bei Wälders an einer Bewertungsmaschine ein. Das war eine große Anlage, vergleichbar der Gepäckausgabe an einem Flughafen, nur viel komplexer. Er hatte Protokoll zu führen. Erst waren sie zu zweit. Aber dann brachte sein Kollege noch einen Jungen mit, der sich in diese Arbeit einlernen sollte. Es war ein dicklicher Junge, so ein richtiger frisch-vom-Bauch weg-Typ. Wendy wies ihm den Platz ganz rechts zu.
Durch diese Arbeit lernte er auch den Innenbereich bei Wälders kennen, der hinter einer Schleuse, die zu passieren war, begann. Er gelangte in eine riesige Versorgungseinrichtung, in der Unzählige am Arbeiten waren.
Nach dort war auch ein Reporter vorgedrungen, der, wie Wendy hörte, wegen dem Vorfall gegen das Heim ermittelte. Er konnte sich denken, um welchen ‚Vorfall‘ es sich handlte. Gewiss hatte der neue Chef verraten, welches der letzte Satz des Leiters gewesen war. Er kannte in etwa die Haltung des Reporters. Man warf dem Heim vor, dass es die Menschen bevormunde und ging so weit zu behaupten, dass die Menschen nur krank seien, weil man sie entmündigt hätte. Wendy stellte sich dem Reporter entgegen.
„Was haben Sie gegen das Heim anzuführen?“, fragte er.
„Das Heim vermag den Menschen keine Perspektive zu geben. Es nimmt ihnen die Initiative. Die Menschen werden darin krank – wenn sie’s nicht schon sind. Es ist eine sinnlose Zeit, die sie dort verbringen. Im Grunde ist es nur ein Warten auf den Tod.“
Wendy war aufgewühlt, er fürchtete, dass ihm beim Sprechen der Atem wegbliebe. „Mir scheint, Sie werfen etwas, das im Menschen angelegt ist, dem Heim vor. Die Menschen werden nicht alt, weil sie ins Heim müssen, sondern weil sie alt sind, brauchen sie Hilfe und Schutz. Das Leben – dieses im eigenen Saft Schmoren – mag mühsam erscheinen, aber es hat sicher einen Sinn.“
Jetzt sah er wie der Reporter nach Atem rang und keine Worte mehr fand.
Wieder im Pflegeheim, bekam Wendy von vielen Angestellten ein positives Feedback. „Ist ja toll. Super, dass du unsere Arbeit in Schutz genommen hast. Das freut uns sehr.“ Er spürte, dass man ihn achtete.
Er geriet durch sein Engagement aber auch in Schwierigkeiten. Man drohte ihm mit einem Prozess, weil er in der Auseinandersetzung mit dem Reporter etwas gegen einen Herrn in einem schwarzen Wagen gesagt habe.
„Mir ist schon viel angedroht worden“, entgegnete er darauf nüchtern.
Einmal ging er von Wälders Versorgungseinrichtung oben, statt mit der Bahn, zu Fuß nach unten. Da geriet er auf dem Weg abwärts in eine bizarre Anlage mit unzähligen Kränen. Sie war so riesig, dass ihm unheimlich zu Mute wurde. Er schlüpfte durch diesen Bereich hindurch und gelangte schließlich in den Park, der an die Ebene anschloss. Da wurde ihm erst bewusst, was für eine riesige Sache Wälders Versorgungs-Einrichtung war, dass deren Gelände sogar bis ganz nach unten reichte. MLF

Donnerstag, 28. Juni 2012

76 Eusophie und Wildtiere


Die Tür stand angelehnt. Wie er in den erhellten Raum trat, wunderte er sich über die Einrichtungsgegenstände. Die Garderobe, der Rahmen der Durchgangstüre, sogar die Möbel waren in einem eigenwilligen Stil gestaltet, in kantiger Weise. Dadurch war ihm klar, wo er hingeraten war – in ein eusophisches Zentrum. Er spürte einen Stich in der Brust und fragte sich, muss ich mich auch von diesen ernsthaften und engagierten Menschen trennen? Sie förderten in vielen Bereichen eine sorgfältige Lebensweise, predigten nicht, sondern legten kräftig Hand an. Am meisten legten sie Wert auf ein gedankliches Leben.
Ein eher kleiner Mann mittleren Alters, mit dunklem Haar trat zu ihm und hieß ihn willkommen.
„Bitte kommen Sie rein“, sagte er einladend.
Das musste der Leiter des Hauses sein, dem Tonfall nach ein Spanier oder Südamerikaner. Für einen Südländer war er blass. Das kam wohl von den intensiven geistigen Übungen, die man sich in diesen Kreisen auferlegte.
„Sie sind Toni, nicht wahr? Mein Name ist Alfonso“, sagte er als perfekter Gastgeber.
Sie können sich hier gerne für ein paar Tage zum Arbeiten niederlassen. Ein eigenes Zimmer kann ich ihnen leider nicht anbieten. Sie sind von ausländischen Gästen belegt. Aber wenn Sie mit diesem Sekretär hier vorlieb nehmen und ihnen dieses provisorische Bett genügt, sind sie ein gern gesehener Gast.“ Er wies auf ein Feldbett, das ans Pult anschließend der Wand entlang aufgebaut war.
Als Toni gesehen hatte, dass er seine Wohnung nicht würde halten können, hatte er sich in dem Zentrum beworben, und man hatte ihm einladend geantwortet. Alfonso zog sich zurück.
Toni nutzte die Gelegenheit und machte sich gleich an die Arbeit. Sogar ein PC stand ihm zur Verfügung. Die Notizen von Milis letzten Geschichten galt es in Gedrucktes umzuwandeln. Er mochte etwa eine Stunde geschrieben haben, als Alfonso kam und ihm einen Tee anbot.
Toni nahm dankend an. Sie setzten sich an den großen Tisch, auch dieser und die Stühle waren besonders gestaltet. Nur das Klavier, das zwischen Tisch und Tonis Arbeitsbereich stand, war von gewöhnlicher Form.
Toni sagte im Lauf des Gesprächs. „Ich schätze an der eusophischen Bewegung, dass sie keine sexuellen Regeln in den Kodex der Organisation aufgenommen hat.“
„Sexualität liegt in der Gestaltungsfreiheit des Individuums“, stimmte der Leiter ihm zu.
Alfonso fragte ihn, ob er als Künstler ein Projekt an der Astoria-Schule übernehmen könnte.
Toni wollte einwenden, dass er Sanitärinstallateur und nicht Künstler sei. Und nur durch die Begegnung mit einer ungewöhnlichen Frau auf ein quasi-künstlerisches Terrain geraten sei. Aber er verschwieg dies und zeigte Bereitschaft sich dieser Aufgabe zu stellen.
Die Augen Alfonsos glänzten. „Dann werde ich Sie morgen in unsere Schule führen.“
Toni wusch sich am Waschbecken des Gästeklos und legte sich auf das Feldbett. Sofort fiel er in einen tiefen Schlaf. Mili teilte ihm auch in dieser Nacht eine Geschichte mit. Er kam aber erst am Abend dazu sie aufzuschreiben. Da sollte er schon wieder im Bus sitzen. Aufgrund der Vorfälle dieses Tages, würde er sich aus dem eusophischen Zentrum zurückziehen. Und in Marks Gefährt arbeiten.

Als sie auf die Astoria-Schule zugingen, trat ihnen ein Lehrer dieser Schule freudig entgegen.
„Wir möchten ein Theaterstück schaffen, in dem wir unsere Schule künstlerisch vorstellen“, sagte er mit großem Eifer.
Toni zeigte sich interessiert. Wenn er auch etwas betreten war, durch die großen Hoffnungen, die sie in ihn setzten. Sie gelangten in einen großen Aufenthaltsbereich, der als ein riesiger Wintergarten mit viel Grün und ganzen Bäumen gestaltet war. Jugendliche, die auf ihn einen sehr freien, selbstbewussten Eindruck machten, saßen einzeln oder in kleinen Gruppen an den Tischen.
Der Lehrer wollte noch jemanden dazu holen und schickte Toni durch eine Tür einige Stufen hinab in einen schmalen Tanzraum mit Garderobeplätzen an der Seite. Eine Tanzlehrerin übte mit einer Mädchengruppe seltsam fließende Bewegungsformen. Die Bewegungen, die sie machten, kamen Toni zwar etwas komisch vor, aber als ein Aspekt des Stückes wäre das ja durchaus in Ordnung, fand er. Um zu wissen, wie sich dieser Tanz anfühlte, stellte er sich zu den Mädchen und machte bei den Übungen mit. Die Tanzlehrerin war davon nicht begeistert. Mit giftigen Blicken brachte sie ihn zum Einhalten. Betroffen schlich er sich zur Seite und wartete.
Da kam schon der begeisterte Lehrer zurück, mit einem Artistenclown an seiner Seite. Dieser stellte sich auf die Hände und kam mit in der Luft schwankenden Beinen die Treppe hinunter. Auf der letzen Stufe überschlug es ihn und er fiel unsanft gegen die Garderobenabtrennung. Aber er sprang sogleich auf die Füße und lachte lauthals.
Toni war schon ziemlich verunsichert. Er fragte sich, ob das nicht alles dazu angetan war, ihm die Lösung von der eusophischen Bewegung und der Astoria-Schule zu erleichtern. Aber er nahm dann doch eine Einladung an für den Nachmittag. Eine Festlichkeit, die man im Freien begehen wollte.

Als er dort ankam, stieß er auf viele geschundene Wildtiere. Marder, Dachse, Waschbären, nur Füchse fielen ihm keine auf. Auch Großvögel, Enten, Wildgänse und Raubvögel waren dabei. Zum Teil lebten die Tiere noch. Es war schrecklich, sie in diesem Zustand zu sehen. Auch ein Arzt würde sie nicht retten können. Eine Wildgans schien noch heil zu sein. Er glaubte, sie sei durch einen Schrecken kurzzeitig betäubt geworden. Also nahm er das Tier behutsam an sich und ging mit ihm in Richtung des Waldes. Er sprach ihm aufmunternd zu und spürte wie sich sein wild pochendes Herz beruhigte. Doch als er es loslassen wollte, fiel es zu Boden. Erst da sah er, dass unter den Deckfedern die feinen Federn fehlten. Das Tier hatte doch eine Verletzung erlitten.
Enttäuscht kehrte er zum Platz zurück, wo im großen Stil gefeiert wurde. Die Tiere waren alle entsorgt worden und er wusste nicht, wo er die Wildgans hintun sollte. Als Engagierter an der Schule, wurde ihm ein großer Teller mit Erdbeer-Nachtisch gereicht. Doch just im Moment, da er den Löffel ansetzte, hauchte die versehrte Wildgans ihr Leben aus. Sie fiel hin und landete mit dem Kopf in seinem Erdbeerteller und blieb dort liegen. Müßig zu sagen, dass ihm der Appetit dabei verging.
Loslassen, sagte er sich. Er ging zum eusophischen Zentrum zurück, räumte den ihm dankenswert eingeräumten Platz, entschuldigte sich, dass er beim Theaterprojekt nicht mitmachen könne und setzte sich in Marks Transit, der ihm jetzt noch mehr bedeutete als zuvor. AS

Mittwoch, 27. Juni 2012

75 Pause beim Loslassen


Er spürte, er musste noch mehr loslassen. Aber den ganzen Tag nur in flüchtiger Berührung mit Menschen, erst mit Begeisterten von Mannschaftsspielen, dann mit einem Zeitungsverkäufer und seinem Gegenspieler, fehlte Toni die zwischenmenschliche Nähe. Deshalb entschloss er sich, Mark und Heinrich aufzusuchen, bevor er sich einem neuen Erlebnis stellte.
Als er zum Bus zurückkam, verstaute er alle beweglichen Gegenstände und setzte sich hinters Steuer. Schon während er der burgähnlichen Anlage entlang geschritten war, hatte der Wind die Wolken über den Himmel getrieben. Dadurch wechselten die Lichtverhältnisse ständig. Die Stimmung war irgendwie unruhig. Er schaltete das Licht ein, für den Fall, dass er unter eine dunkle Wolke geraten sollte.
Ein Blick beim Fahren auf den leeren Beifahrersitz rief etwas ins Bewusstsein, das unterschwellig in ihm wirkte, seit Mili sich zurückgezogen hatte. Er hatte niemanden, der ihm Gesellschaft leistete, niemand, dessen Nähe er spürte. Er hatte, seit sie sich nicht mehr zeigte, keine intensive körperliche Berührung mehr erlebt. Zwar wusste er, dass Mili noch immer bei ihm war – sie hatte ihm ja weiter jede Nacht eine Geschichte erzählt - da lief auch noch sexuell etwas zwischen ihnen. Das spürte er, wenn er aufwachte, an seiner Gestimmtheit. Aber was beim Schlafen sich abspielte, zählte nicht am Tag. Nur was im Wachzustand erlebt wurde, ließ das Tagesbewusstsein gelten. Deshalb hatte er das Bedürfnis nach der Nähe zu einem Menschen, ein intensives Begehren, das einem Hungergefühl ähnlich kam.
Er hatte jetzt die Pforte des abgegrenzten Eschenbacher Industriegebiets erreicht und passierte sie. Während er durch die untere Siedlung, den Hang hoch und durch den inneren Bezirk oben zu ihrem Haus fuhr, beschäftigte ihn die Frage, wen er sich denn auf dem Nebensitz –
oder deutlicher gesagt – neben sich im Bett wünschen würde? Da war ihm sofort klar, eine andere Frau hatte neben Mili nicht Platz. Mili würde das nicht zulassen. Mit einem Mal stand ihm der Rahmen ihrer Geschichten viel deutlicher vor Augen. Sie hatte ihn in die Welt der Männer eingeführt, die ähnliche Erfahrungen machten wie er. Bodo, René, Mark, … sie waren auch nicht von der Pubertät an hombsch gewesen, sondern hatten erst nach und nach zum gleichen Geschlecht gefunden. René von Nathalie dazu verleitet, Frauenkleider zu tragen, Bodo von Anna mit dem Schlüssel beschenkt, Mark, den Heinrich nach der Zeit mit der Familie in diese neue Welt eingeführt hatte. In ihren Geschichten hatte sie ihm diese Menschen nahe gebracht. Und indem sie sich jetzt zurückzog, forderte sie ihn auf, sie zu treffen, um unter ihnen jemanden zu finden, mit dem er eine hombsche Beziehung eingehen konnte. Er war, als er den Wagen auf dem Parkplatz unter ihrem Haus abstellte, guter Dinge, dass er in dem Kreis, den Mili ihm mit ihren Geschichten geöffnet hatte, einen Geliebten finden werde.

Mark öffnete die Tür, er bat ihn herein und drückte ihn an seine kräftige Brust.
„Wie geht’s?“, fragte Toni und schaute ihn prüfend an.
„Viel besser“, antwortete Mark. Er drehte seine Arme. „Das Taubheitsgefühl ist noch da, aber ansonsten habe ich kaum noch Probleme. Gelegentlicher Schwindel und eine Abwehr gegen alles, was mit Wasser zu tun hat.“
Wo Heinrich stecke, fragte Toni.
Er sei von der Arbeit direkt zu Freunden gegangen, die seinen Beistand brauchten , antwortete Mark und fragte, ob er ihm etwas zu essen anbieten dürfe. „Und ein Bier?“
Toni nickte. „Gerne.“
„Brot und was drauf?“
„Sehr gerne.“
Während sich Mark in die Küchennische begab, ging Toni durch die Stube zur Wand aus Glas. Er sah am Abendhimmel rötlich gefärbte Wolkenbahnen wie Landbänke im Meer des hellen Blaus treiben. Ihm schien, die Luft sei ruhiger geworden.
Mark deckte den Tisch mit Wurst, Käse und Brot. Er sagte, dass er sonst abends gerne geräucherten Fisch esse. Aber derzeit möge er nichts, was mit Wasser in Verbindung stehe. Er goss für sie beide ein Bier ein und sie stießen an. In der Küche klingelte der Eierkocher. „Ich habe sie hart gekocht, abends Frühstücksei passt nicht, finde ich.“ Salz und Mayonnaise standen dazu auf dem Tisch.
Während Toni sein Brot strich, erkundigte er sich nach Heinrichs Beruf und erfuhr, dass Heinrich Drucker war, in einem großen Druckereizentrum, das viele Zeitungen druckte. „Den Freunden, die er besucht, ist ein großes Missgeschick zugestoßen“, berichtete Mark. „Genauer gesagt, ihre Not hat eine Neuauflage bekommen.“
„Wie, was genau?“, wollte Toni wissen.
„Das Gericht hat ihnen vorgeworfen, sie hätten sich zusammengetan, um Steuern zu sparen. Der eine, der nach Meinung der Staatsanwaltschaft der eigentliche Nutznießer war, bekam eine Gefängnisstrafe aufgebrummt.“
„Ist ja nicht möglich“, rief Toni aus.
„Doch, das war vor sechs Jahren. Diese Tage wäre er freikommen, zu seinem Vierundsechzigsten…“
„Warum ‚wäre‘?“, unterbrach Toni.
„Der Staatsanwalt fand, das könnte Schule machen, wenn er jetzt noch eine schöne Alterszeit genoss. Deshalb haben sie seine Strafe nachträglich verlängert. Er muss jetzt bis siebzig, in Haft bleiben.“
„Unglaublich, wie man das Leben der Hombschen stört“, klagte Toni betroffen.
Mark klang erstaunlich optimistisch. „Heinrich wird’s hinkriegen, sie aufzumuntern“, fand er. „Er hat Erfahrung darin.“
„Wie meinst du?“, fragte Toni.
„ Wenn ich länger hier bin, beklage ich mich oft, dass ich mich wie in einem Gefängnis fühle.“
„Und wie reagiert er dann?“
„Er verwöhnt mich auf alle möglichen Weisen. Aber letzten Endes hilft mir doch nur, in den Transit zu steigen und für eine Weile auf Fahrt zu gehen.“
„Dann lass ich den Wagen wieder hier?“, tastete Toni ab.
„Nein, nein, nimm ihn mit. Noch fühle ich mich sehr glücklich bei Heinrich. Ich weiß gar nicht, ob mein Abenteuersinn nach dem letzten Erlebnis wieder erwachen wird. – Du kannst aber auch hier übernachten, wir haben zwei Gästezimmer zur Wahl.“
„Danke“, wehrte Toni ab und erklärte, er habe das Gefühl, sich noch von etwas weiterem trennen zu müssen. Toni erzählte Mark, von seinem Erlebnis mit dem Spielfeld, wie ihn die Plane gestört hatte und wie er auf dem Hügel jedes Interesse für dieses Spiel verloren habe.
Mark bekundete sein Einverständnis. Er habe ähnliche Erfahrungen gemacht.
Toni berichtete ihm auch von der Tatzenzeitung, einem Tagesjournal ohne die üblichen vier Ecken und von der labyrinthischen Anlage mit menschengroßen Karten, von der er vermute, dass sie die Gesellschaft versinnbildliche. - Da fiel ihm der Mann wieder ein, der die Skepsis gegen die Zeitungen verstärkt hatte. Er beschrieb ihn, kräftig, runde Visage, beinahe kahl, eine ruhige etwas tonlose Stimme…
„Oppermann“, sagte Mark.
„Siehste, dachte ich mir doch“, entfuhr es Toni.
„Oppermann ist mein Berater“, teilte Mark ihm mit. „Eine wichtige Person für mich. Ohne ihn wäre ich wahrscheinlich nicht auf Fahrt gegangen und säße hier in einem Gefängnis, ohne darum zu wissen. – Aber sag, woher kennst du ihn?“
Toni wurde verlegen. Er konnte ja nicht sagen, vom Bericht einer Frau im Fischkleid, die er im Bad eines stillgelegten Grand Hotels in einem Bündner Kurort kennengelernt hatte. Er flüchtete sich in eine allgemeine Bemerkung. „Oppermann ist eine wichtige Figur“, sagte er. „Ich glaube den kennen viele. Wenn du etwas loslassen willst, wird er dich gerne beraten.“
„So kenne ich ihn auch“, bestätigte Mark.
Toni stand auf. Er bedankte sich. Mark begleitete ihn zur Tür. „Übrigens“, sagte Mark, „wenn du Tanken musst oder sonst was brauchst, greife …“ Er beschrieb das Geheimfach, wo die Fahrtkasse versteckt war. Toni konnte nicht verbergen, wie gelegen ihm das kam.

Für diese Nacht brauchte Toni den Bus nur als Fahrzeug. Er hatte vor, bei jemandem um Unterkunft zu bitten. AS

Dienstag, 26. Juni 2012

74 Spiel mit großen Karten


Der Wunsch, sich eine Zeitung zu besorgen, trieb ihn nach draußen. Durch einen breiten, flachen Tunneleingang geriet Toni in einen großen Raum. Gemessen an der Weite der Fläche war die Decke sehr niedrig. Wie ein horizontaler Schnitt im Berg, so kam ihm der Raum vor. Er dachte an die Ausgrabungen alter Städte, bei denen mit jeder Schicht eine andere Zeit zum Vorschein kam. Dieser Raum hier entspricht unserer Zeit, sagte er sich. Er sah keinen Menschen, bis ihm ein Zeitungsverkäufer entgegenkam.
Die Tatzen-Zeitung abonnieren, die Zeitung für Studenten, sehr günstig, rief ihm der Händler zu.
‚Tatz‘, das ist doch meine Zeitung, dachte Toni und trat näher. Die Zeitung hatte eine seltsame Form. Es sah aus, als hätte ein großes Tier die vier Ecken abgebissen – ein Bär zum Beispiel, was zur Form eines Tatzenkreuzes geführt hatte.
„Wie viel?“, wollte Toni wissen.
„Nur hundertfünfzig im Monat.“
Toni glaubte nicht richtig zu hören. Dann brächte er für diese Zeitung nicht nur viel Zeit, sondern auch noch viel Geld.
Der Verkäufer schien seine Bestürzung zu bemerken. „Für Studenten und Minderbetuchte nur hundertzehn“, verbesserte er das Angebot.
Toni nahm ein Exemplar entgegen und sagte, er werde es sich überlegen. In Wirklichkeit fand er den Preis unannehmbar.
In der Nähe ragte ein großer, silberglänzender Pfosten aus dem Boden. Er lehnte sich an diesen und fing an in der Zeitung zu blättern. Auf den ersten Blick schien sie bloß Inserate zu enthalten. Der typische Eindruck, den das Vielerlei einer Zeitung weckt. Er war nahe dran sie wegzuwerfen. Aber er fasste sich. Als er sie innen umwandte, stieß er auf einen großen Artikel und fand, von innen nach außen lesend, noch weitere solche Artikel mit Bildern illustriert. Aber so richtig befriedigten ihn die Artikel, die er überflog, auch nicht. Ich bin wohl nicht in der richtigen Stimmung, sagte er sich.
Am silbernen Pfosten war ein Pfeil angebracht, Toni folgte der Richtung, in die dieser wies. Aus dem flachen Bau im Berg gelangte er auf ein Feld und in diesem an ein ummauertes, rechteckiges Gelände von der Größe mehrerer Fußballplätze. Er ging bis zur Mauer. Von dieser sah er in einen weitläufigen Hof hinab, der einen burgähnlichen Komplex umschloss, von dem aber nur das Erdgeschoss stand. Wie ihm schien, war dieses einzige Geschoss eine Ruine. Von hinten auf das Gelände gestoßen, folgte er nun der Mauer in Richtung zum Eingang an der Stirnseite gegenüber. Zwischendurch hielt er an und schaute hinunter auf die Anlage. Sie wirkte verschlungen wie ein Labyrinth. Dann entdeckte er etwas, das sein Interesse besonders weckte. An den Wegen waren Karten aufgestellt, Spielkarten, und zwar mannshohe. Anscheinend handelte es sich bei diesem Terrain um ein raffiniertes Spielfeld. Toni hegte die Vermutung, dass es das Spiel war, von dem die Zeitungen berichteten und die Figuren auf den Karten eine wichtige Rolle spielten. Die Welt der Politik und der Gesellschaft als ein Labyrinth in Ruinen – eine nicht gerade schmeichelhafte Darstellung der Gesellschaft, dachte er. Und doch nicht ganz unpassend, am deutlichsten wohl zu sehen, wie sich Realpolitik von den Wahlprogrammen unterschied. Aber auch andere an der Gesellschaft Beteiligte mussten sich damit abfinden, dass ihre guten Vorsätze sich nur bruchstückhaft umsetzen ließen. Was hilft es mir, wenn ich all diese Figuren auf den Karten kenne, wenn sie doch immer nur das gleiche Spiel treiben. Das war der Eindruck, der sich ihm hier einprägte. Er hegte den Verdacht, dass ihm jemand seine Zeitung abspenstig machen wollte, ihn drängte darauf zu verzichten.
Er war nicht der einzige Neugierige, der von der Mauer auf die Anlage hinabsah. Einen Mann sprach er an. „Ist ja interessant, ein Spiel, nicht wahr?“
„Ja, wenn es nur alle als ein Spiel sehen würden“, gab der Angesprochene zur Antwort. Er schien sich über den Kontakt zur freuen und stellte sich mit Namen vor. „Ich heiße Oppermann.“
Toni zuckte kurz zusammen. Oppermann, ob das der Oppermann war, der Mark beraten hatte? „Toni ist mein Name“, sagte er mit Verzögerung. Er sah sich den Mann genau an, um ihn beschreiben zu können, wenn er Mark fragte. Nicht sehr groß, kräftig, ein runder Kopf, fast kahl, wie Gorbatschow, dachte er.
„Viele nehmen dieses Spiel viel zu ernst“, bemerkte Oppermann. Er wies Toni auf etwas hin, das er von seinem Standpunkt aus nicht sehen konnte. „Sehn Sie dort vorne das Tor, Toni?“
Von der Burganlage bis zum Eingang war noch ein langes Stück begrünter Hof. Das Tor vorne war ihm aber schon aufgefallen. Er nickte.
„Wer von dort reinkommt, sieht die Figuren anfangs nicht klar. Sie erscheinen verschwommen wie auf einem Polizeibild. Erst nach und nach – auf die Burg zulaufend – schärfen sich die Bilder auf den Karten. Wer von außen reinkommt, muss sich erst eingewöhnen. Und dann führte ihn der Weg in ein labyrinthisches Ruinenfeld. Was halten Sie davon, Toni?“
Er zögerte, schließlich folgerte er, dass das Zeitungslesen, so betrachtet, als ein Verwirrspiel erscheine.
Oppermann stimmte zu, indem er nüchtern bemerkte, ihm gehe nichts verloren, wenn er dieses Spiel nicht allzu genau verfolge. MLF

Montag, 25. Juni 2012

73 Die trennende Plane

Nach der Geschichte von Mili war er wieder eingeschlafen.
Er wachte mit einem großen Bedürfnis nach Ordnung schaffen und Reinemachen auf. Die Sonne stand schon ziemlich hoch. Entsprechend war die Temperatur in Bus. Er zog die Schiebetür zurück und ließ frische Luft einströmen. Unter der Spüle, die im Wohnmobil gleichzeitig als Waschbecken diente, fand er einen Mülleimer mit Deckelheber, der aber winzig klein war. Damit konnte er sein Bedürfnis, sich vieler Dinge zu entledigen, wohl nicht befriedigen. Zuerst einmal bereitet er sich ein Frühstück. Der Kaffeegeruch, fand er, roch im Wagen noch besser als zuhause. Er hatte den Transit am Rand eines Freizeit- und Sportareals geparkt. Während er frühstückte, füllte sich langsam der Parkplatz und Gruppen von Sportbegeisterten kamen zu Fuß von einer nahen Haltestelle des öffentlichen Verkehrsnetzes. In Vorfreude auf das bevorstehende Spiel sangen sie und wiederholten lautstark den Namen ihrer Mannschaft. Aus der großen Beteiligung schloss er, dass es sich um ein wichtiges Spiel handelte. Er beendigte sein Frühstück und schloss sich dem Zustrom an. Das Stimmengewirr, die Hörnertöne und schrillen Pfiffe erhöhten die Spannung und rissen ihn mit. Aber dieses Gefühl, sich von etwas befreien zu müssen, verließ ihn nicht.
Das Spielfeld war rings von Fußballbegeisterten umringt. Um den Ball auf dem Feld zu halten, wurde von den Zuschauern eine Plane hochgehalten, die, je nachdem wo der Ball sich gerade befand, angehoben oder gesenkt wurde. In einer Ecke fand Toni noch einen Platz nahe dran und ergriff auch die Plane, um das Spielfeld vom Publikum zu trennen. Direkt am Feld dran, schoss ihm die ganze Wucht dieses Spiels ins Blut. Die Spieler waren richtige Profis. Es wurde mit großem Talent und vollem Einsatz gespielt. Er stand auf der Seite der Kickers und stimmte mit den ihn Umgebenden in die Freudenrufe und Klagen ein, je nach Erfolg oder Verlust der Spieler. Vom Lärm und vom eigenen Rufen geriet er in einen Rausch. Doch störte ihn auf Dauer die Trennung zwischen Spielenden und Zuschauern. Durch die Plane, die man zur Abgrenzung nutzte, wurde diese Erfahrung noch verstärkt – auch wenn sie durchsichtig war. An die Stelle, wo er stand, kam nur selten ein Ball hin. Nach und nach wurde Toni das Halten der Plane und die ganze Aufregung zu viel.
Die hintere Längsseite des Feldes grenzte an einen steil ansteigenden Hügel. Sein Platz war an der Ecke zu diesem. Auf dem Gipfel sah er Beobachter. Die Möglichkeit, das Spiel von oben zu sehen, reizte ihn. Bis zur Halbzeit hielt er durch. Dann übergab er seinen Posten an den nächsten, der von hinten Drängenden und begab sich auf den Fußpfad zur Erhebung hoch.
Von oben konnte er nicht nur das Spielfeld, sondern auch die ganze Menge der Zuschauer überblicken. Die Trennung zwischen Spielenden und Zuschauern fiel von hier noch stärker ins Auge. Obwohl er jetzt jeden Einsatz und jeden Pass genau verfolgen konnte, interessierte ihn der Spielverlauf plötzlich nicht weiter. Das Spiel hatte keine Bedeutung mehr für ihn. Ihm wurde klar, dass es nur die Bedrohung, die von den Spielern ausgegangen war, gewesen war, die ihn gefesselt hatte. Jetzt, da diese weg war, schaute er nicht mal mehr hin. Er legte sich ins Gras und dachte an Mark, wie es ihm wohl ging? Ob er sich dank der guten Pflege durch Heinrich schon etwas erholt hatte. von den Strapazen der Fesselung in einem Wasserkanal Kleinengingens?
In den Bus zurückgekehrt schaute er sich in den Schränken um. Er fand einige Vorräte und kochte sich ein einfaches Mahl. Spiralnudeln mit Tomatensauce. Im Kühlschrank entdeckte er Möhren, von denen rieb er sich einen Salat und schmeckte diesen mit wenig Essig und Öl ab.
Da ihm in der Mittagszeit seine Zeitung fehlte, geriet er mit seinen Gedanken wieder in die Welt von Mili. Er hatte bisher zwei ihrer Helden kennengelernt, Jasmus und Mark. Und bei René, dem dritten, war er im Haus gewesen. Es bestand also kein Zweifel mehr, dass Mili nicht von erfundenen Figuren, sondern von wirklichen Personen berichtet hatte. Erduan, der in verschiedenen Holzfirmen arbeitete und Tommy, der schwer mit der Existenznot zu ringen hatte, würde er sicher auch begegnen. Dann waren da noch Bodo und Kermit gewesen, von deren Erlebnissen sie auch berichtet hatte. Wenn er mit ihnen allen Kontakt pflegen wollte, würde er auf vieles verzichten müssen. Darin hatte er sich schon fleißig geübt, in der Zeit, da er für Mili jeden Tag eine Geschichte in einen Blog umgewandelt hatte. Vielleicht verspürte er deswegen dieses drängende Gefühl, sich verschiedener Dinge entledigen zu müssen.
Auf dem Hügel war ihm klar geworden, dass er diese Spiele, die so klar zwischen Agierenden und Zuschauern trennten, nicht mehr brauchte. Die Aufregung, die sie verursachten, würde er nicht vermissen. Sie hatten für ihn keine Bedeutung mehr. Aber da war noch immer das Gefühl, sich erleichtern zu müssen.  MLF

Freitag, 22. Juni 2012

72 Den trockenen Flusslauf hoch

Als René ins Ärztehaus kam, war die Klappe über dem Eingangsbereich zu. Wieso, fragte er sich verärgert. Er hatte doch verlangt, dass sie immer offen stand. Drinnen hörte er den Staubsauger, die Putzfrau war da. Sie musste sein Eintreten bemerkt haben, arbeitete aber unbeirrt weiter. Doch als er stehen blieb, schaltete sie das Gerät aus und richtete sich auf. Sie schien seine ungute Stimmung zu spüren.
„Die Stoffe im Verschlag sind brüchig geworden“, rechtfertigte sie sich, „ich musste sie wegmachen. Ich habe Heu hochgetan.“
René nickte betroffen. Deswegen hatte sie also die Luke geschlossen, damit kein Heu nach unten rieselte. Er spürte ein Stechen in der Brust. Dass doch alles so schwierig war. Doch dann gab er sich einen Stoß. Das liegt nur an deiner Feigheit, sagte er sich. Zieh einen Roch an und geh nach draußen, dann fühlst du dich gleich besser.
Das Auto war noch zu tanken. Er ging in den Eingang zurück. In der Ecke lehnten zwei Holmen mit vereinzelten Sprossen. Er klopfte mit dem einen Teil an den Lukendeckel. Dieser wurde von oben geöffnet.
„Ich geh tanken. Komm doch mit, damit du eine Weile rauskommst.“
„Und der Junge?“, fragte sie.
„Ich habe einen Kindersitz besorgt. Du kannst ihn mitnehmen.“
René steckte die beiden Leiterteile ineinander und stellte sich hinter die Leiter. Während sie mit dem Jungen hinunterstieg, presste er die beiden Holme gegeneinander. Dann ging er nach drinnen und zog sich statt der Hose einen Rock an. Sie befestigte so lange den Kindersessel auf dem Beifahrersitz. René setzte sich auf die Rückbank.
An der Tankstelle nahm René die Zapfpistole und öffnete den Deckel. Etwas stimmte nicht. Unter dem Deckel kam keine Öffnung, sondern ein Drehverschluss zum Vorschein. René war verwirrt. Was hatten die in der Werkstatt mit seinem Wagen gemacht?
„Ich muss mal rein, da stimmt was nicht“, rief er der Fahrerin zu. „Es fehlt die Öffnung für die Pistole.“
Mit einem unförmig großen, aber hilfsbereiten Angestellten an seiner Seite kehrte er zurück. Der Große warf einen Blick auf die Tanköffnung und sagte:
„Sie müssen Gas tanken – dort drüben.“
„Wie? Verstehe ich nicht“, entgegnete René,
Der Angestellte sah auf seine Kleidung. Einen Mann in Rock schien er noch nie gesehen zu haben. Entsprechend unwohl schien er sich zu fühlen. Er gab sich aber Mühe und sagte. „Sie haben einen Gastank, Sie müssen Gas tanken.“ Dann trottete er kopfschüttelnd davon.
Sie startete den Motor und fuhr den Wagen nach hinten zur Gassäule. Er drehte die beiden Ventilverschlüsse ineinander. Der Gaszähler fing an sich zu drehen. Warum an seinem Auto plötzlich ein anderer Tank war, begriff er nicht. Die Vermutung lag nahe, dass die Bündner ihre Hand im Spiel hatten. Seit die junge Bündner Frau bei ihm war, hatte er schon allerlei Ungewöhnliches erlebt. Als der Zähler stoppte, trennte er die Ventile und ging in den Shop zum Bezahlen. Er kaufte ihr eine Tüte mit scharfen mexikanischen Bohnen und dem Jungen eine Milchschnitte.
Zuhause ließ ihm die Überraschung, die er mit dem Wagen erlebt hatte, keine Ruhe. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass es besser war, auf die Bündner zuzugehen, als abzuwarten, bis sie aktiv wurden. Mit der Veränderung seines Kraftstoffes mussten sie etwas bezweckt haben. Er wünschte zu wissen, wieso.

Der kürzeste Weg vom Ärztehaus zum Bündner Sitz im Gebirge führte durch einen trockenen Flusslauf hoch. Das war ein schöner Weg. René mochte ihn sehr und verstand nicht, warum dieser so selten genutzt wurde. Das erste Stück war etwas steil, aber die Felsen waren blank gerundet, es war ein Vergnügen, sich darauf zu bewegen. Je länger er über die Steine ging, umso geschmeidiger wurde er.
Als er in den flacheren Abschnitt des Hochtals kam und in der Ferne schon das Gebäude der Bündner erahnen konnte, spürte er jemanden an seiner Seite. Er kannte dieses Gefühl und wartete, was sein Begleiter ihm sagen würde. Auf Grund der Luftveränderung war seine Sehleistung geschwächt. Er sprach aufs Geratewohl.
„Man hat an meinem Fahrzeug den Tank getauscht. Als ich die Pistole reinstecken wollte, fand ich ein Ventil. Können Sie mir sagen, warum dieser Eingriff vorgenommen wurde?“
Die Antwort kam nicht gleich. Es dauerte eine Weile bis er vom Begleiter zu hören bekam. „Man verdächtigt dich des Schnüffelns.“
„Des Schnüffelns von was?“, fragte René verblüfft.
Er konnte jetzt sehen, dass jemand neben ihm ging. Die Antwort lautete. „Der Rat vermutet eine Kohlenmonoxid-Sucht bei dir.“
„Wie kommen die denn da drauf?“, fragte er verärgert und schüttelte den Kopf. „Kohlenmonoxid schnüffeln, ich wüsste nicht mal, wie man das anstellt.“
„Ist das Gastanken von Nachteil?“, fragte der Begleiter.
René überlegte. Ihm fiel kein Argument dagegen ein. Außer, dass das Parken mit Gastank in manchen Tiefgaragen untersagt war. Mit Gas zu fahren war sogar günstiger. „Nein, eigentlich nicht, es ist eher ein Vorteil“, gab er zu.
Ohne sich zu verabschieden verschwand der Begleiter.
René näherte sich nun dem Gebäude, das er als Sitz der Bündner kannte. Von weitem war es kaum von den Felsen zu unterscheiden gewesen. In der Nähe, bewunderte er die kühne Verbindung von Stein und Glas. Der Bau wirkte archaisch und futuristisch zugleich. In Analogie zu den Bauten des Künstlers Hundertwasser hätte man es Hundertsteine nennen können, weil es in den Felsen lag oder Hundertlüfte, weil es so exponiert war. Beim Gebäude angekommen setzte er sich draußen auf die Stufen. Er wünschte, dass einer von den Bündnern zu ihm kam und er nicht vor den Rat treten musste. Die Vorstellung mit mehreren von ihnen konfrontiert zu werden, stimmte ihn ziemlich verlegen.
Nach einer Weile trat tatsächlich einer von ihnen zu ihm. Er reichte ihm ein Glas Wasser und setzte sich zu ihm auf die Stufe. René schlürfte das kalte Wasser und fühlte sich sofort erfrischt. Das Gebirgswasser schmeckte hervorragend. Der Mann sah nicht anders aus, als sonst ein hagerer Bergler. Aber René wusste, dass er es mit einem ungewöhnlichen Menschen zu tun hatte. Bevor er die Frage nach dem Tank nochmal stellen konnte, sagte der Bündner.
 „Eine von uns befindet sich bei dir. Sie steckt in einer finsteren Kammer über dem Eingang. Das gefällt uns nicht.“
René war überrascht. Sie kannten also das Provisorium. Damit hatte er nicht gerechnet. Er wollte sagen, dass ihm diese Notlösung auch nicht gefalle. Aber bevor er die richtigen Worte fand, fuhr der Bündner fort.
„Stell dir vor, du würdest in unserem Gebäude hier übernachten und wir würden dich wie eine Fledermaus in eine der Nischen hängen“, sagte er. „Das wäre eine vergleichbare Behandlung.“
René fand den Vergleich ziemlich komisch und musste ein Lachen unterdrücken. Aber er wusste, dass der Vorwurf ernst war. Deshalb begründete er seine Entschuldigung mit einer allgemeinen Beobachtung. „Die Menschen halten es mit ihren Gewohnheiten wie mit den universellen Rechten. Wer gegen sie verstößt, wird bestraft. Wenn ein Mann sich als Frau kleidet, wird er geächtet.“
„Hast du’s denn überhaupt probiert?“, hakte der Bündner nach. „Ich meine außerhalb des geschützten Rahmens der Schule? Du lebst doch in einer freien Gesellschaft.“
„Zwei Schritte außerhalb, auf dem Spielplatz, war’s schon ein Spießrutenlaufen“, sagte René.
„Ach ja, die Kinder, die sind der ehrlichste Spiegel der Gesellschaft“, bemerkte der Bündner.
„Lasst mir etwas Zeit“, bat René. „Wenn ich nicht vorsichtig bin, werde ich das Gegenteil erreichen, von dem, was Sie wünschen. Man wird mich ausgrenzen und mit mir die Bündnerin.“
Der Bergler lächelte ihm aufmunternd zu. Er sagte nichts weiter. Der Auftrag war klar.
René trank das restliche Wasser und stand auf. Er tue, was möglich sei, sagte er.
Er solle sie von ihnen grüßen, bat ihn der Bündner zum Abschied.
René nickte und begab sich auf den Heimweg. Abwärts ging es noch leichter. Er fühlte sich wie frisches Wasser, das über Steine springt. MLF