[Fortsetzung von 132 Country of Reason - Die Pi-Felsen]
Am Tag des Abschieds von dem alten, halb verfallenen Ort im ‚Country
of Reason‘ schob Tonke sein schwer beladenes Fahrrad durch eine der von den
brüchigen Häusern gesäumten Straßen. Er hatte seine Tochter vor Augen und
dachte, dass sie’s in mancher Hinsicht noch schwerer hatte als er. Aber er
freute sich darauf, ihr von der seltsamen Felsformation und den Menschen, die
diese hüteten, zu berichten. Er war überzeugt, dass sie sich für seinen Bericht
interessieren werde. Ein vertrautes, aber an dieser Stelle ungewöhnliches
Geräusch, ließ ihn inne halten. Es war das Spritzen von Wasser, was er vernahm.
Zwischen zwei alten Häusern entdeckte er eine schmale Bucht. In immer neuen
Wellen spritzte hier Wasser herein. Nähergehend sah er, dass sich von der
stetigen Brandung eine dichte Salzkruste gebildet hatte. Es handelte sich um
eine Meeresbucht. Also hatte er doch richtig vermutet, dass er sich am Meer
befand und nicht im Rheinland. Erst jetzt, durch die zufällige Entdeckung
dieser Bucht beim Aufbrechen, hatte er darin Gewissheit erlangt.
Da sein Rad so schwer beladen war, kam ihm der Gedanke, dass er doch
besser mit dem Zug fahren würde. Wie sollte er bei dem ganzen Gepäck den weiten
Weg zurück schaffen. Vor allem dachte er an die Strecke, die er am Anfang
abwärts gefahren war. Sie war ihm kurz erschienen, weil er schnell gefahren
war. Nur ein Dachs und eine Hündin mit Welpen hatten seine Fahrt gehemmt.
Dieses ganze Stück wieder aufwärts zu strampeln, schien ihm ein Ding der
Unmöglichkeit. Besser war es, das Fahrrad zurück zu lassen und die Reise bequem
in der Bahn zurückzulegen.
Zu seinem Gepäck gehörten eine große, schwarze Knarre mit drei
Rohrläufen und die zugehörige Munition. Die Pi-Menschen hatten sie ihm mitgegeben.
Zwar war sie leicht gebaut, nahm aber viel Raum ein. Es war gut gemeint von den
Leuten der Gaußpi, die ihm im letzten Moment die Knarre noch in die Hand
gedrückt hatten. Aber was sollte er damit anfangen, wenn er wieder zuhause war?
Dieses raffinierte Ding, das ihm seine Wohltäter überreicht hatten, war noch
gar nicht zum Einsatz gekommen. Das unterste Rohr hatte einen besonders großen
Durchmesser und diente zum Schleudern von Pferdeäpfeln, von denen einige als
Munition beilagen. Ich könnte doch wenigstens mal diese Funktion ausprobieren
und die Pferdeäpfel gegen diese alten Fassaden schleudern, sagte er sich. Wenn
die Wände davon einbrachen, dann musste es so sein. Vielleicht vermochte er auf
diese Weise, die trägen Bewohner aufzurütteln, ihre Häuser zu erneuern. Doch
sein Sinn stand nicht danach einen Konflikt zu wagen, er war vielmehr ganz auf
die Abreise gerichtet. Er wollte sich in keine Auseinandersetzung verwickeln, die
möglicherweise die Wegfahrt verzögern würde. Über die drei Gewehrläufe hinweg
war in weißer Schrift etwas geschrieben. Im Gehen konnte er nicht entziffern,
was da drauf stand.
Kurz danach erreichte er einen leicht erhöhten, abgeschlossenen
Platz. Dort klappte er den Fahrradständer nach unten, löste das Gewehr aus der
Aufhängung und hielt es vor sich hin. Es war die Anschrift eines gewissen
Leuenberger, die er da las. Dieser lebte überraschenderweise in der gleichen
Stadt und in der gleichen Straße wie er. Sogar die Hausnummer stimmte überein.
Leuenberger, Löwenberger, überlegte Tonke. Kenne ich jemanden, der so heißt in
unserem Haus. Er konnte sich nicht erinnern, auf einer der Klingeln diesen
Namen gelesen zu haben. Vielleicht hatte Leuenberger mal dort gelebt und war
längst umgezogen oder sogar schon gestorben. Wie dem auch sei, da er nun mit
dem Zug fuhr, konnte er die Knarre sowieso nicht mitnehmen. Man würde ihn damit
nicht einsteigen lassen und schon gar nicht konnte er damit im Zug die Grenze
passieren.
Tonke nahm sein Fahrrad und stellte es in eine abschüssige
Einfahrt, deren Tor zugemauert war. Hier würde es niemanden stören. Wie er den
Ständer erneut hinunter klappte, machten die Reifen mit einem Mal pfff, pfff.
Aus beiden Schläuchen war die Luft raus, als ahnten sie, dass sie nicht mehr
gebraucht wurden. Diese Reaktion seines Rades, welches ihm so lange gedient
hatte, stimmte ihn doch nachdenklich. Es war, als wollte es ihm sagen. Wenn du
mich nicht mehr brauchst, will ich auch sonst niemandem dienen. Das akzeptierte
er. Aber dann sah er erst, welche Menge an Gepäck sich auf seinem Fahrrad
angesammelt hatte. Nicht nur die Satteltaschen und der Korb auf dem Packträger,
sondern auch der Raum zwischen den Stangen und vorne über dem Licht waren
ausgefüllt. Überall hatte er nützliche Gegenstände verstaut, von denen er sich
nur ungern trennen mochte. Aber er hatte keine andere Wahl, er konnte unmöglich
alles Gepäck zur Bahnstation tragen.
Oder sollte ich doch versuchen, mich auf dem Rad
durchzuschlagen?, fragte er sich. Er war hin und her gerissen. Auf der einen
Seite stand die schnelle und sichere Fahrt. In diesem Fall musste er die Hälfte
des Gepäcks zurücklassen. Auf der anderen Seite die Fortsetzung der Reise im
bisherigen Stil. Bei dieser Variante wusste er nicht, wie lange die Reise
dauern würde. Nur eines war gewiss, dass es eine anstrengende Tour werden
würde.
Es war der erbärmliche Anblick der platten Reifen, der
schließlich den Ausschlag gab. So wollte er sein Rad nicht zurücklassen. Also
entschied er sich, die Reise auf dem Fahrrad fortzusetzen. Wenn ich den Weg bis
hierher bestritten habe, werde ich auch den Rückweg schaffen, sagte er sich. Er
holte die Pumpe hervor, kniete sich nieder und füllte erst den einen, dann den
andern Reifen. Diese bestärkten seinen Sinneswandel, indem sie die Luft ohne
Verlust hielten.
Er schob das Rad vorsichtig aus der abschüssigen Einfahrt wieder
hoch, steckte die Knarre wieder in die Halterung und fuhr los.
So sollte es zu einer weiteren Station im ‚Country of Reason‘
kommen.
Er gelangte in einen höher gelegenen Ort. Dort traf er in einer
Herberge auf eine Bekannte aus seiner Stadt. Mit dem Ergebnis, dass er mitsamt
Gepäck in ihr Auto umsteigen konnte. MLF