Mittwoch, 31. Juli 2013

159 Visualisieren des Waldes



Als ausländischer Gast zu Besuch in China genoss Otis eine privilegierte Behandlung. Zum Höhepunkt des Empfangs befanden sie sich in Schiffen auf dem Wasser. Auf einem speziellen Boot bereiteten ihm gegenüber zwei Künstlerinnen, vor dem Hintergrund einer bizarren städtischen Skyline, eine Performance vor. Rechts von Otis stand der Regent auf einem herrschaftlich glitzernden Schiff, umgeben von seinem Stab. Ausnahmsweise hatte der Regierende den Auftritt einer landsmännischen Künstlerin erlaubt. Die strikte Zensur, die sonst die Artisten in die Verborgenheit drängte, wurde zum Gefallen des fremden Gastes gelockert. Bei den Künstlerinnen handelte es sich um Gitta, die Schwester von Otis und eine chinesische Artistin, mit der sie befreundet war. Ihr schwimmender Untersatz war ein Floß von einer länglichen Nierenform. Mit etwas Grün ausgelegt, suggerierte der Untersatz eine schwimmende Insel. Otis hörte munkeln, dass sie nackt auftreten würden.
Gut, dachte er, schau ich mir gerne an. Doch, was er zu sehen bekam, war Zauberei.
Er sah wie die fremde Künstlerin alles, was sie vor sich aufgehäuft hatte, umfasste. Sie bewegte ihre flinken Hände darüber wie eine Klavierspielerin oder eine Datentypistin. Die Finger waren, wie er deutlich sah, von der fortgesetzten Aufgabe wund. Ihre Gesichtszüge waren nicht asiatisch, vielmehr erkannte er in ihr den Typ Künstlerin, wie man sie in seiner Heimat oft als Artistinnen in Zirkusshows sieht. Straff gespannte Haut über den Wangenknochen, ein festes Kinn und ein kühler, unbeirrbarer Blick. Die dunkelbraunen Haare, glatt nach hinten gefasst, verstärkten noch die Taffheit, die sie ausstrahlte. Und doch war da zugleich etwas sehr Sanftes in ihrem Gesicht und in ihren feinen Gliedern. Sie fuhr mit ihren Händen über den geordneten Haufen vor sich. Plötzlich geschah’s. Vor ihr tanzte ein Vorhang aus kleinen schwarzen Wolken, in Abstand zueinander. Genau besehen, tanzten die Wölkchen nicht, sondern schwebten in der Luft. In genauen Abständen, ein großes Raster bildend, vier Meter hoch und mehrere Meter breit. Gebannt starrten alle auf diese schwarzen Wölkchen. Da erst wurde das Eigentliche sichtbar. In diesem Raster erschienen Büsche und kräftige Bäume, ein dichter, sattgrüner Wald nahm Gestalt an. Von schwarzen Wattewolken wurde ein Wald beschworen. Ein magischer Wald. Es herrschte vollkommene Stille, wie es sie sonst nur im Schlaf gibt. Selbst das Schlagen der Wellen an die Boote war verstummt. Als wäre sogar das Meer von dieser Erscheinung gebannt.
Otis spürte wie die Spannung stieg, die Künstlerin würde sie nicht ewig halten können. Also schlug er die Handflächen aufeinander. Tosender Applaus setzte ein, während die schwarzen Wölkchen wie zahme Tiere nacheinander in die Arme der Künstlerin zurückglitten und das Bild des Waldes langsam verblasste.

Einen zusätzlichen Tag seines Aufenthalts nutzend, besuchte er ein berühmtes, am Rand des städtischen Molochs gelegenes Mahnmal. Mit einem aktuellen Reiseführer in der Hand schlug er sich selber zu dem bekannten Monument durch.
Er stand vor einem gewaltigen Sockel der staatlichen Autobahn. Darin steckte, in nur wenigen Metern Höhe, ein Frauenkopf. Das war das berühmte Mahnmal zum Gedenken an die Hexenverbrennung. Die prominente chinesische Bildhauerin hatte das plastische Relief so gestaltet, als wäre beim Bau der Autobahn der Kopf von oben herab in den noch weichen Beton, des nach unten breiter werdenden Sockels gefallen und hätte sich dabei tief eingegraben. Wie ein gefallener Komet mit Schweif sah der Kopf aus. Die Spur des sich Eingrabens beim Herabfallen stellten die Haare der Unglücklichen dar.
Im Stadtzentrum war noch eine Abschlussveranstaltung zu Ehren des Gastes anberaumt. Um rechtzeitig zurück zu sein, stieg Otis die Stufen zur Autobahn hoch und versuchte so in die chinesische Stadt zurück zu gelangen. Doch er verstieg sich in Bergen von aufgetürmten Autobahnstücken. Nicht mal aus der Ferne konnte er den Kern der chinesischen Metropole ausmachen. Es war unmöglich dorthin zu gelangen. Enttäuscht kehrte er zurück. Verwirrt und erschöpft setzte er sich auf eine niedere Mauer zu Füßen des Mahnmals.
Da trat ein Führer an ihn heran.
„Would you like to go back to town?“, fragte er in erstaunlich deutlichem Englisch.
Otis schüttelte den Kopf, er habe es probiert, es sei unmöglich.
Der Führer wehrte den Einwand mit den Händen gestikulierend ab. „Come on, I’ll show you the way.“
Argwöhnisch richtete sich Otis auf und folgte ihm.
Der Fremde ging ihm voran um den Autobahnsockel herum. Einige Schritte weiter stießen sie auf einen schmalen hohen Bogen. Durch diesen sah er tatsächlich die städtischen Gebäude aus Stahl und Glas. Otis konnte es kaum fassen, aber die Arkade erwies sich als Eingang in die chinesische Großstadt. Noch einige Schritte weiter und sie näherten sich dem zentralen Platz auf dem die Schlussveranstaltung ihm zu Ehren stattfand.
Man hatte für die chinesische Künstlerin ein paar nützliche Dinge auf einen simplen Marktkarren gelegt. Jeans, T-Shirt, Bluse, ein Paar Schuhe, Shampoo, Zahnpasta und zwei Schachteln Zigaretten. Für diese Habseligkeiten wurde Geld gesammelt. Es fehlte ihr am Nötigsten. Ganz oben lagen Gutscheine für den Friseur, für den Fahrradladen und die Apotheke. Auf diesen waren Beträge in Euro gemalt.
Die Befürchtung beschlich ihn, sie könnte ihn, den ausländischen Gast, rupfen wollen. Doch die Preise schienen ihm moderat und er half gern. MLF