Mittwoch, 9. Mai 2012

48 Das Muschelbäumchen

Auf der Kommode seitlich des Fußendes seines Bettes hatte Toni seine Heiligtümer drapiert. Ein ovaler Stein, den er wie ein präpariertes Ei auf die Spitze stellen konnte und der ihm half, der Schwerkraft ein Schnippchen zu schlagen. Eine Erdkugel aus Kristall, die den Kundigen befähigte, in die Vergangenheit und in die Zukunft zu schauen. Ein Modell der großen Pyramide mit eingelassener Grabkammer im richtigen Maßstab und noch weitere Kostbarkeiten. Um die Schätze auch richtig zu würdigen, hängte er einen Strahler von der Decke und richtete den Schein auf diese. Den ganzen Abend hatte er sich daran ergötzt. War dann aber eingeschlafen. Als er nachts aufwachte fingen die im Licht stehenden zauberhaften Gegenstände seinen Blick und er war ganz verzückt. Als plötzlich ein Wimmern ihn aufschreckte. Neben ihm saß eine Gestalt unter einer schwarzen Hülle. Erst erschrak er, dann ärgerte er sich, denn die kläglichen Laute passten gar nicht zu seiner ekstatischen Stimmung. Es verstrich eine Weile, bis Toni begriff, dass Mili darunter stecken musste.
„Was soll der Schabernack“, rief er aufgebracht und zog an der Decke. Aber sie ließ sie nicht los. Er versuchte es nicht weiter, denn er wusste wohl, wer von ihnen beiden stärker war. Etwas musste Mili stören. Womöglich das Licht? Er stand auf und zog den Stecker. Tatsächlich ließ sie nun die Decke fallen und zeigte sich in ihrer Schönheit. Aber ihr holdes Gesicht hatte nicht den strahlenden Ausdruck, den er kannte. Mili streckte ihm die schwarze Decke entgegen und deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung der Kommode.
Zögernd trug er die Decke dorthin. „Was soll ich damit?“, fragte er widerstrebend.
Ihre Geste war eindeutig: Zudecken!
Also breitete Toni den dicken Teppich über seine gekauften Schätze. Es blieb nichts als ein dumpfes Auf und Ab. Er konnte es kaum fassen.
Aber als er sich Mili zuwandte und sie nun strahlen sah, da vergaß er augenblicklich seinen Verlust. Er stieg zu ihr ins Bett und sie liebten sich mit großer Wonne.
Anschließend bettete sich Mili etwas höher und erzählte… AS

Von der Buchhandlung aus geht er zu Ruben. Als er um fünf zurück ist, wärmt er sich die andere Hälfte der Quiche auf, die er am Vortag gebacken hat und rührt einen Salat an. Zum Essen setzt er sich aufs Sofa. Jasmus ist gespannt auf diese ominöse Ausstellung von Pedro, dem Brasilianer. Er richtet sich auf, isst ein paar Gabeln Salat, steckt sich einen Happen von der Quiche in den Mund und kehrt in Gedanken nach Spanien zurück, wo er Pedro vor vielen Jahren zufällig getroffen hat.
Pedro hatte sich dem einfachen Leben zugewandt und hütete Schafe. Bei dieser einfachen Tätigkeit ereilte ihn der Ruf. Eine Zigeunerin versprach ihm einen geheimen Schatz, wenn er zu den Pyramiden reisen würde. Jasmus begleitete Pedro nach Marokko, wo dieser eine Zeit lang in einem Laden Kristallgläser verkaufte. Dann schlossen sie sich einer Expedition an, durch die Wüste. Der Fund am Ziel erwies sich als Flop und Pedro kehrte zu seiner Mutter nach Spanien zurück - arm aber happy wie Hans im Glück.
Obwohl er eine halbe Stunde früher ankommt, ist der Saal schon gut gefüllt. Es ist tatsächlich Pedro aus Brasilien. Nach vorne gehen und ihn begrüßen, will er nicht. Viele Menschen haben Reisen mit Pedro unternommen. Jasmus ist sich bewusst, dass er als Bekannter Pedros einer von vielen ist.
Der Vortrag hat zwei Schwerpunkte, die Reise ins Aleph-Gebirge und die Fossilien. Es dauert eine Weile bis Jasmus dem Bericht folgen kann. Er hat das Aleph-Gebirge irgendwo in Südamerika angesiedelt oder im Himalaya. Aber Pedro steigt mit seinem Gefolge in Moskau in die Transsib und fährt bis Wladiwostok. Es geht eine Weile bis er akzeptieren kann, dass das Gebirge an dieser Strecke liegen muss. Pedro hat es aber auch immer mit den beschwerlichen Wegen, denkt er. Damals die Wüstendurchquerung, auf der sie viele Grenzsituationen durchstehen mussten und jetzt das Gegenteil, Eis statt Sonnenglut.
Dass es im Hochgebirge Fossilien zu finden gibt, ist für Jasmus nichts Neues. Er hat sich oft gewundert, wenn er oberhalb der Vegetationsgrenze unterwegs war, wie viele Funde man in einer steilen Berghalde machen konnte. Das hatte mit den Umwälzungen im Zuge der Gebirgsbildung zu tun. Da wurde das Unterste ganz nach oben getragen.
Pedro verbindet mit den Funden im Aleph-Gebirge aber etwas Besonderes. Das wird im Laufe des ersten Teils der Lesung deutlich. Bilder ausgewählter Fossilien werden auf die Leinwand projiziert. Anhand von diesen Funden erklärt Pedro, dass diese ihm Ausschnitte aus seinem eigenen früheren Leben vor Augen führen. Das bringt ihn dazu, sein Leben nicht als isoliertes, einmaliges Ereignis zu sehen, sondern als Teil einer unbegrenzten Folge. Er setzt die Fundstücke zueinander in Beziehung und zieht daraus Schlussfolgerungen für sein jetziges Leben.
Die Fundstücke, die Pedro präsentiert, sind so lebendig, so plastisch, dass Jasmus ganz neidisch wird. Das Glück, solche Funde zu machen, ist ihm bisher nicht zugefallen. Gespannt hört er zu, um Auskunft zu erhalten, wo sich das Aleph-Gebirge befindet. Da muss ich auch hin, sagt er sich. Und wenn Gila nicht mitgeht, dann reis ich eben auf eigene Faust.
Pause. Pedro hat sich zurückgezogen, um Kraft für den zweiten Teil der Lesung zu schöpfen. Auf dem Tisch vorne an der Wand steht ein Bäumchen. Von der Sitzreihe aus hat er es für eine Bonsai-Pflanze gehalten. Bei der genaueren Betrachtung fällt ihm auf, dass es kein Grün trägt. Der Stamm und die Äste bestehen aus Korallen. Für die Blätter hat man mehrheitlich flache Muscheln und für die Früchte spiralige Schnecken verwendet. Er staunt über die Fertigkeit mit der dieses filigrane Gebilde zusammengekittet worden ist.
Im zweiten Teil geht die Reise mit der Transsib weiter. Berichte von den vielen Zwischenhalten, auf denen Pedro seinen unzähligen Freunden begegnet, die er auch in diesem Teil der Welt hat. Und dann der entscheidende Aufstieg ins Aleph-Gebirge. Bilder werden eingeblendet, wie Pedro und sein Begleiter auf einem steilen Grat in dünner Luft auf einen ganz besonderen Fund stoßen. Ein Bäumchen mit Ästen, die im Laufe verschiedener Epochen gewachsen ist. Als Jasmus erkennt, dass es sich um das Gebilde handelt, das er vorne auf dem Tisch bestaunt hat, nickt er unwillkürlich.
Der letzte Teil des Vortrags ist der Erklärung gewidmet, wie das Bäumchen entstanden sei. Eine schuldhafte Tat in weit zurückliegender Zeit hat den Stamm gebildet, mit dem sich die Schicksale der Geschädigten als Äste verbunden haben. Mit den verschiedenen Leben ist der Baum weiter gewachsen.
Nach dem Vortrag reiht sich Jasmus in die Schlange der Zuhörer ein, die Pedro die Hand drücken und mit ihm ein paar persönliche Worte tauschen wollen. Pedro erkennt ihn. Als er dran ist, steht er auf und sie umarmen sich kurz. Jasmus flüstert ihm die Frage zu: „Aber das Bäumchen hast du doch nicht so gefunden? Du hast es doch aus den Fundstücken verleimt, nicht wahr?“
„Doch ich habe es so gefunden. Genau so stand es auf dem Grat.“
Der nächste drängt hinter ihm. Jasmus gibt seinen großen Bekannten wieder frei und geht weiter.
Betreten läuft er nach Hause. Fossilien sind halt doch nicht mein Ding, denkt er. Eine Stimme sagt ihm, es tut dir nicht gut, wenn du dich zu viel mit Totem beschäftigst. Und so schlägt er sich den Vorsatz, das Aleph-Gebirge aufzusuchen, wieder aus dem Kopf. MLF

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen