Toni wird eine Augenmaske
gereicht. Man rät ihm, den Schutz nicht abzulegen, bis er aufwacht. Aber er
fürchtet Mili zu verpassen. Also hebt er den schwarzen Stoff leicht an und
spickelt. Er sieht an den Wänden komplizierte Pläne, die ihn verwirren. Wo bin
ich da nur gelandet?, fragt er sich und schließt reflexartig die Augen. Er
glaubt sich verloren. Doch dann spürt er Milis Hand. Als er die Augen öffnet,
liegt sie neben ihm. Glücklich sie wiedergefunden zu haben, wendet er sich ihr
zu. Aber die Verunsicherung ist geblieben. Ihre Vereinigung ist nicht so
glücklich wie sonst. Selbst in Milis Geschichte überwiegen die Elemente, die
ihn befremden gegenüber denen, die ihn unterhalten. AS
Die nächste Station nach Römersdorf ist der Schulort. Die Gruppe
hält auf der Gemeinde-Fläche am Stadtrand und richtet ihre Schaubühne ein. Im
Mittelpunkt steht eine Sängerin, die überraschend einen Preis gewonnen hat. Am
nächsten Tag drängt es Kermit in die Stadt. Er leiht sich ein Fahrrad. Bis zum
Zentrum schiebt er sein Rad, da ihn einer aus der Gruppe begleitet. Dort seilt
sich sein Begleiter ab. Dieser ist der eigentliche Kämpfer der Gruppe. Er
verhandelt mit den Gemeinden und den Schulen und ringt darum, dass nicht nur
die Unkosten beglichen werden, sondern dass auch für die Schauspieler und die
Helfer etwas abfällt.
„Übertreibst du’s nicht etwas?“, fragt Kermit.
„Wie meinst du?“, sagt der Flachgesichtige emotionslos.
„Die Truppe könnte doch, wenn es für einen guten Zweck ist, um
die halbe Gage spielen.“
„Wir könnten immer umsonst spielen. Es gibt genug gute
Einrichtungen, die sich von Künstlern unterstützen lassen möchten. Kein Problem“,
antwortet er mit weiterhin gleichförmiger Stimme und fügt hinzu. „‚Kunst
funktioniert doch nur, wenn sie Spaß macht‘, hör ich immer wieder. Deshalb
sollen wir umsonst auftreten. Aber irgendwann macht es eben keinen Spaß mehr.“
„So mein ich es ja nicht.“
„Du vielleicht nicht. – Die Sängerin hat einen Preis gewonnen. Sofort
kamen Anfragen, ob wir aus diesem Anlass umsonst spielten. Soll ich sie fragen,
ob sie das Geld unserer Gruppe gibt? Dann könnten wir die Vorstellungen frei
geben. Ich weiß aber zufällig, dass sie Schulden hat. Von Zeiten her, da wir zu
wenig Zuschauer hatten. Ich habe ihr gesagt, nutze dein Geld für dich. Wer uns
schätzt, wird für unsere Darbietungen gerne etwas ausgeben. Wie er für Essen,
Zigaretten und fürs Auto – wenn er eins hat – auch Geld ausgibt.“
Kermit bleibt misstrauisch. Dieser Kassierer ist undurchschaubar.
Er hat den Verdacht, dass er einen Teil des Geldes für sich abzweigt. Wie
könnte er sonst in die Stadt gehen und sich ins Café zu den Literaten setzen?
Sie verabschieden sich. Ab sechzehn Uhr sei Kinderprogramm. Ab
neunzehn Uhr Einlass für die Abendveranstaltung, erinnert ihn der Flachgesichtige.
Bis dahin werde er längst zurück sein, ruft Kermit und schwingt sich aufs Rad.
Er ahnt nicht, wo er hingeraten wird und dass er einem weiteren Geheimnis auf
die Spur kommt.
Durch den Stadtgarten, der sich außerhalb der alten Festungsmauer
entlang zieht, gelangt er schließlich zur gegenüberliegenden Seite der Stadt.
Das Ziegelrot der Mauer sieht er zwar, aber er denkt sich nichts dabei. Ziemlich
genau gegenüber zum Auftrittsort liegt die Badeanstalt. Hier begegnet er einem
Bekannten, Othmar – der weiß, was er hat. Othmar kommt mit Fahrrad von der
Mürge, ihrem Wohnviertel herab, das Kind im Sitz auf dem Gepäckträger. Wo ist
seine Frau?, fragt sich Kermit. Er weiß dass es die beiden nicht immer leicht
haben zusammen. Wenig später stößt seine Frau dazu. Sie drückt den Fuß zum
Bremsen auf den Boden. Augenscheinlich befinden sie sich auf dem Weg in die
Badeanstalt.
„Komm doch mit uns“, laden
sie ihn ein.
„Wir haben ein Picknick dabei. Das reicht für dich mit. So ein
schöner Tag ist ideal zum Baden.“
Kermit schaut die drei an. Sie sind luftig gekleidet, alle in
kurzen Hosen und doch gepflegt – wie immer. Er denkt, vielleicht hätten sie
gerne etwas Ablenkung, um nicht so aufeinander fixiert zu sein. Und dann denkt
er an die Truppe. Für manche wäre ein Besuch in der Badeanstalt dringlich, aber
sie kommen nicht nach hier drüben, denkt er. Behält es aber für sich. Stattdessen
erklärt er, dass er die Stadt erkunden möchte. Weil er nur selten hier sei und
erst durch den Stadtgarten gefahren sei.
„Kommt doch zu unserer Aufführung“, entfährt ihm. Aber da sieht
er das Kind und erinnert sich, wie sehr sie auf Familie machen. Sie winken ihm
und fahren weiter.
Kermit kehrt um, lenkt jetzt in Richtung des Zentrums. Fast
träumend gleitet er an den vielen Fußgängern vorbei. So gelangt er zum Eingangsgebäude.
Durch dessen Mitte führt ein breites Tor. Zweispurig mündet die Straße in die
Innenstadt. Dieses große Gebäude und die daran angegliederten, sind von der
gleichen Farbe wie das Fundament jenes Gebäudes, das er im Küstenwald erkundet
hat [30, Tönernes Gebäude]. Das macht ihn neugierig. Er steigt ab, nimmt einen
Stock, klopft dagegen. Erst unten, dann so hoch er mit dem Stecken langen kann.
Ohne Zweifel, dieselbe Bauart, gegossene, gebrannte Wände, die hohl sind. Die
Bürgerhäuser, selbst die Kirche, alle Gebäude aus dem gleichen Material.
Im Innern der Stadt gerät er seitlich auf einen schmalen Weg in
einen einsamen Garten. Ein seltsames Gefühl überkommt ihn, wie wenn man in einem
Klostergarten Gebete hört, die sich seit tausend Jahren nicht geändert haben. Aber
dieser Raum hier ist kein kirchlicher. Trotzdem fühlt er sich in eine andere
Welt versetzt. Ihm kommt er vor, wie das versteckte Pendant zum Stadtgarten, in
das er zufällig geraten ist. Neben ihm drängt sich ein schwarzer Wagen. Der
bleibt auf seiner Höhe und überholt nicht. MLF
…
Kermit steigt ab. Der Fahrer hält auch und steigt aus. Ein
sehniger Herr, dunkle Hose, schwarzes Hemd, die Schläfen meliert.
Wahrscheinlich der Stadtplaner, denkt Kermit. Er kommt auf ihn zu.
„Darf ich Ihnen die Zeitung zeigen?“ fragt er ihn.
Kermit vermutet, dass er ihn bei den Fahrenden gesehen hat und
ihm einen Artikel über die Truppe zeigen will. Der Planer führt ihn zu einem
Tisch, der aus einem großen Mühlstein zu bestehen scheint. Der Sonnenstand hat
sich verändert. Das Licht fällt durch die Bäume. Es herrscht eine ähnliche
Stimmung wie damals im Küstenwald. Als er sich über den Tisch beugt und auf die
vermeintliche Zeitung sieht, blickt er auf eine reliefartige Karte (oder ist es
ein Plan?) wie die kryptischen Kalender der alten Völker. Er besteht aus
demselben Ziegelton wie die hohlen Gebäude. Seine Augen geraten in ein
Labyrinth von Wegen und Bögen. Ihm ist, als würde er hinein gesogen. Je länger
er drauf blickt, umso weniger findet er sich zurecht. Es scheinen mehrere Pläne
ineinander verschachtelt zu sein. Er weiß nicht, um was es sich handelt. Der Planer
hat eine Nadel in der Hand und weist mit der Spitze in die Tiefe des Reliefs
auf eine bestimmte Stelle. Kermit kann nur einen winzigen Strich erkennen. Der
Führer spricht jetzt nicht mehr von einer Zeitung, sondern von einer Karte –
einer chinesischen. Eine, die nicht nur den Ort, sondern auch die Zeit
miteinbezieht – so fasst es Kermit auf. Der gezeigte Strich steht für die
Stelle, an der er sich befindet, vermutet er, beziehungsweise für das, was er geschaffen
hat. Wie ein Nichts kommt ihm das Gezeigte vor. Das dumpfe Rotbraun verleitet
ihn zu dem Gedanken, dass der Plan die Geschicke der Stadt darstellen könnte.
Von denen er ein verschwindender Teil zu sein scheint. Wie damals im Küstenwald
sind auch jetzt seine Empfindungen gemischt. Einerseits fühlt er sich erhöht,
weil man ihn auf diese gewiss sehr bedeutende Karte aufmerksam gemacht hat.
Andererseits überträgt sich die Skepsis, die er den hohlen Gebäuden entgegenbringt,
auch auf die Karte. Er wird den Eindruck nicht los, dass da ein doppeltes Spiel
getrieben wird, von dem er nur die eine Seite zu sehen in der Lage ist.
Als er sich verabschiedet, ist es im Garten schon dunkel. Der
Planer bietet ihm an, ihn zurückzufahren. Da Kermit seinem Fahrrad-Licht
misstraut, nimmt er dankend an. MLF
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