Freitag, 18. Mai 2012

53 Alice in Brecht i


Keine Nacht war wie die andere. Jede Begegnung mit Mili war neu und von prickelnder Frische. Aber manchmal vergaß er festzuhalten, was er erlebt hatte, bevor Mili die Geschichte zu erzählen begann. Im Rückblick verschwamm dann die Nacht tatsächlich mit den anderen und er wusste nur noch. Er war aufgewacht, hatte voller Freude Mili im Halbdunkel entdeckt. Hatte sich von ihr anlocken lassen oder war selber auf sie zugegangen. Worauf sie sich im Liebesfeuer vereinigten. Danach erzählte sie ihre Geschichte. Dieses Mal die von ‚Alice in Brecht‘. AS

Da er seinen früheren Kommilitonen in der Zandsch-Siedlung nicht getroffen hatte, fuhr Mark zum Campus, um nach Abasis Spuren zu forschen. Er hielt mit seinem Wohnmobil auf einem etwas weiter wegliegenden, aber noch zum Uni-Gelände gehörenden Parkplatz und richtete sich dort für zwei, drei Tage ein. Um einer möglichen Beschwerde zuvorzukommen, ging er zur Verwaltung und besorgte sich eine Gästekarte, die ihm erlaubte in der Bibliothek zu lesen und für einen etwas höheren Preis in der Mensa zu essen. Schon als er vom Büro zurück ins große Foyer kam, traf er auf einen Bekannten. Aber nicht auf Abasi, sondern auf Tamura. Er erkannte ihn zuerst und sprach ihn an.
„Hallo Tamura. Wie geht es? Was führt dich auf den Campus?“
Der Freund lächelte mit blitzenden Augen unter gespannten Lidern und grüßte ihn mit einer leichten Verbeugung. Tamura berichtete, dass ihm die Bibliothek bei ihrem damaligen Besuch [43] gefallen hätte und er sich seither des Öfteren zu Studienzwecken hier aufhalte. „Ich wundere mich, dich hier zu treffen“, sagte er zu Mark. „Es klang damals so, als würdest du den Campus, aufgrund des Erlebnisses mit Abasis Schwester, meiden.“
Mark schaute auf die Uhr. Es war vier Uhr nachmittags. „Darf ich dich auf einen Kaffee einladen?“, fragte er. „Die Cafeteria hat noch eine Stunde geöffnet.“
Tamura nahm die Einladung dankend an.
An der Theke der Cafeteria ließen sich beide einen Tee einfließen. Mark bezahlte und sie setzten sich an einen der leeren Tisch. Nur wenige Studenten hielten sich noch in der Cafeteria auf.
„Kannst du dich erinnern, dass ich dir von meinem farbigen Freund, Abasi, erzählt habe?“
Tamura nickte.
„Ich habe gemeint, er stamme aus Afrika. Jetzt bin ich auf eine Siedlung im Wald gestoßen. Von dort kommt er in Wirklichkeit her.“
„Im Wald?“ Tamura war sofort neugierig.
Mark erzählte ihm von seiner Wanderung im Wald und wie er auf das Eingangsgebäude zur Zandsch-Siedlung gestoßen war. Er erzählte ihm auch vom Feld, auf dem sie als Kinder gespielt hatten und erwähnte die Hecke mit dem Weg, der Bilbao heißt.
„Wieso Bilbao?“, fragte Tamura.
„In unserer Sprache gibt es nicht für jeden Begriff auch eine Erklärung“, gab er zur Antwort. „Dieser Weg heißt einfach so.“
Er spürte, dass diese Aussage seinen Freund nicht zufrieden stellte. Von da an war Tamura abgelenkt. Er schien in Gedanken etwas nachzuhängen. Um fünf, als die Cafeteria schloss, trennten sie sich.

Am nächsten Morgen klopfte es an seiner Wohnwagentür. Mark war schon einige Schritte gegangen, hatte gefrühstückt und schrieb gerade in einer Art Brainstorming alles auf, was ihm zu Abasi einfiel.
Draußen stand Tamura und wedelte mit einem Blatt. „Ich hab’s“, rief er. „Ich wusste doch, dass ich das Wort irgendwoher kenne.“ Er streckte Mark den Ausdruck eines Gedichts entgegen. ‚Der Bilbao-Song‘ von Brecht.
Mark überflog die Gedichtzeilen. „Tatsächlich, du hast Recht.“ Die Kopfzeile verriet, wo Tamura den Text gefunden hatte, www.basquepoetry.net (danke basquepoetry). „Die gehen wohl davon aus, dass der Song von einem Ballhaus in Bilbao handelt“, bemerkte Mark missbilligend. MLF

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