Mittwoch, 16. Mai 2012

52 Zandsch bei Singen


Toni befand sich in einer Siedlung unter lauter Schwarzen. Er glaubte, er habe sich verirrt und wollte zum Ausgang. Da kam eine schöne Farbige auf ihn zu und begrüßte ihn wie einen engen Vertrauten. In dem Moment wachte er auf und hielt Mili in den Armen, die noch immer schwarz war. Ihr anschließendes Zusammensein empfand er wie eine erste Liebesnacht, fremd und betörend. Seine Geliebte war sehr pflichtbewusst. Nach dem Liebesakt setzte sie sich hoch und begann eine Geschichte zu erzählen. AS

Wenn er etwas erst entdeckt hatte, stieß er in allerlei Variationen immer wieder darauf. Das erfuhr Mark auf seinen Fahrten ganz allgemein, im Besonderen aber mit der Zandsch-Siedlung. Auf seinen Touren macht er auch Station an Orten, die er als Kind und Jugendlicher geliebt hatte. So geriet er eines Tages auf ein großes, freies Feld. Er erkannte es nicht gleich wieder, Bäume waren gefällt, andere neu gepflanzt worden. Aber die Büsche, die die weite Grasfläche begrenzten, waren noch dieselben. Er erinnerte sich, wie er als Junge hier gespielt hatte und mit seinen Kameraden darauf herumgetollt war. Jetzt, da er die Siedlung der Schwarzen entdeckt hatte, wurde ihm bewusst, dass von diesem Feld ein direkter Weg in die Zandsch-Siedlung führte. Aber ihm war, als hätte er als Kind diese Nähe gespürt. Das Leben, das sie als Kinderschar geführt hatten, war gar nicht so verschieden gewesen, von dem was er von den Zandsch im Wald vermutete.
Auf dieses Feld, auf dem sie als Kinder spielten, hatte eine weiße Vereinigung großen Einfluss. Diese Vereinigung hatte sich die Hecken am Rand des Feldes zu Nutze gemacht. In den Hecken drin hatten sie einen Weg angelegt. Wenn man sich auf diesen Weg begab, bog nach etwa zwanzig Metern der Weg scharf nach rechts ab und führte vom Feld der Kindheit weg. Der Knick in der Hecke drin, hatte sogar einen Namen. In der Sprache der Waldbewohner hieß er Bilbao. Wenn von der Bilbao-Wende gesprochen wurde, war diese Wegbiegung in den Büschen gemeint.
Ein Waldbewohner, den er über Franz kennengelernt hatte, bot seinen Freunden einen Lebenslauf aus der Sicht des Waldes an. Mehr aus Neugierde hatte Mark für sich einen solchen erstellen lassen. Was er ausgehändigt bekam, erwies sich als eine surrealistische Geschichte voller rätselhafter Bilder und war mit kryptischen Worten bespickt.
 In diesem Lebenslauf stand als Merkpunkt: ‚Bilbao 1974‘. 1974 war das Jahr gewesen, in dem Mark sein erstes Praktikum gemacht hatte. Er war dann in die Ausbildung eingetreten, hatte studiert und war schließlich in die Produktion gegangen. Später hatte er geheiratet und Kinder mit groß gezogen. In all den Jahren nach der Bilbao-Wende war er kaum je auf die Spielwiese der Kindheit zurückgekehrt und erst recht hatte die Zandsch-Siedlung fern von ihm gelegen. Sie hatte seiner Wohnung und seinem Arbeitsplatz sozusagen diagonal gegenüber gelegen. Würde man ihn darauf angesprochen haben, hätte er wohl nicht mal geglaubt, dass es eine solche gab. Allenfalls in Afrika, von wo sein Kommilitone Abasi vermeintlich herstammte. 
Es hatte gewisser Verwandlungen bedurft, um ihn dorthin finden zu lassen. Die Familie, die sich auflöste, die Begegnung mit Enzo, der ihm in Dingen, die er früher verdrängt hatte, ein Lehrer war, die Fahrten und schließlich die Siedlung selbst, die er im Wald gefunden hatte.

Als Mark später die Zandsch-Siedlung wieder aufsuchte, hatte er ein Kind dabei. Sie traten die Stufe hoch. Der Innenraum hatte sich verändert. In der Mitte war eine Trennwand mit Tür. Ein schmaler Flur führte dorthin. Er wartete mit dem Jungen bis jemand kam. Ein junger Mann trat auf sie zu und hieß sie willkommen. Am Fenster stehend erklärte er ihnen, dass für die Erwachsenen jetzt Eintritt erhoben wurde. Er blickte Mark an und sagte, „einen Fünfziger.“
Ist ja nicht schlimm, dachte Mark und griff in die Coin-Tasche. An der Münze, die er daraus hervorzog, war aber etwas ungewöhnlich. Sie betrachteten sie beide. Sie hatte die gleiche Größe wie ein Fünfziger, aber die geprägte Zahl war Sechzig. Ein Sechziger. Der junge Mann lächelte jovial, als wollte er sagen, so genau nehmen wir’s nicht. Er steckte die Münze ein und öffnete ihnen die Tür zum Gastraum. Dieser Raum mit Theke war jetzt kleiner, aber dafür war er nicht leer. Die Gäste mit schwarzer Hautfarbe waren deutlich in der Mehrzahl.  
In diesem Gastraum erfuhr Mark von einer Hochzeit, die demnächst in dieser Siedlung stattfinden würde. Das machte ihn neugierig. Er stellte Fragen zum Paar. Dabei erfuhr er, dass sie aus dem gleichen Haus aufgebrochen waren. Sich über viele Jahre aus den Augen verloren hatten. Höchstens zufällig sich getroffen hatten. Da sie jetzt nach vielen Jahren sich in dieser Siedlung wiedergefunden hatten, beschlossen sie ein Fest zu feiern. Sie nannten es Hochzeit. Mark fand, dass es eher ein Fest des Wiederfindens sei. Weil sie, beide aus dem gleichen Haus aufgebrochen, sich hier wiedergefunden hatten. Manches, was man vom Mann erzählte, erinnerte Mark an seinen eigenen Lebensweg. So war auch von einer Bilbao-Wende die Rede, die erst viel später rückgängig gemacht worden war. Von der Frau erfuhr er nicht viel mehr, als dass sie mit der Bahn gereist war und über viele Stationen schließlich in Singen ankam. Singen lag nah an der Zandsch-Siedlung, das ging daraus hervor. MLF

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