Freitag, 4. Mai 2012

45 Tristan Campermann

Er fährt mit Enrico zum Museum. Da er kein Busticket hat, muss er aussteigen. Am unteren Rand des Ortes trifft er auf eine Truppe von Schauspielern. Am Eingang steht ein Typ, der so ziemlich das Gegenteil von ihm. Er stellt sich vor mit dem Namen Tristan Campermann …

Als Toni erwachte, hörte er ein Lied. Erst glaubte er, das Radio nicht ausgeschaltet zu haben. Aber es war eine einzelne Stimme, ohne Instrumente.
Das Lied handelte von einer Frau, die sich ermutigt zu ihrem Geliebten zu halten. Die ihm helfen will an seinen Zielen festzuhalten. Die ihm Wärme geben will in kalten und einsamen Nächten. Sie will zu ihm stehen. Der Welt zeigen, dass sie ihn liebt. Ihm all ihre Liebe schenken.
Es war der Refrain des Country-Songs‚ ‚Stand by your Man‘ von Wynette Tammy. Als dieser wiederholt wurde, erkannte er, dass es Mili war, die sang. Sie blickte ihn aus dem Halbdunkel an. Es war ihm, als wollte sie sagen, wenn das eine Frau kann, warum sollte nicht auch ein Mann sich so verhalten können. Hältst du zu mir, auch wenn du mich oft nicht verstehst? Und zur Bestärkung zitierte sie aus der Strophe.
Er tut Dinge, die du nicht verstehst. Aber du liebst ihn. Du wirst ihm vergeben, obwohl er schwer zu verstehen ist.
Als sie den Refrain das dritte Mal sang, hatten sich die Rollen vertauscht. Halte zu mir, auch wenn du mich oft nicht verstehst, sagte sie ihm deutlich.
Dann zog sie ihn an sich und sie begannen ein tolles Spiel, das ihnen viel Wärme gab und alle Einsamkeit vertrieb.
Anschließend umriss sie eine neue Geschichte und fragte ihn, ob sie weiterfahren solle? Er war so überrascht, dass ihm der Mund offen blieb. Bisher hatte sie nie gefragt, ob er eine Geschichte hören wollte oder nicht. Sie schwieg. Erst als er kräftig nickte, erzählte sie die ganze Geschichte von Tristan Campermann. AS

 Sie möchten im Schulort das Museum besuchen und fahren mit dem Bus ortseinwärts. Er hat eine Karte fürs Museum und glaubt die Busfahrt sei mit eingeschlossen. Der Busfahrer belehrt ihn eines anderen. Da er nicht bereit ist, seinen Geldbeutel noch leerer zu machen, als er schon ist, fordert der Fahrer ihn auf, bei der nächsten Haltestelle auszusteigen. Immerhin sind sie schon im unteren Teil des Stadtzentrums. Der Bus schlängelt sich durch die Abschrankung aus einen Meter hochstehenden Steinen und hält. Bodo steigt aus. Enrico, der ungern zu Fuß geht, fährt mit seinem Abo bis zur Endhaltestelle am Bahnhof. Von dort sind es nur fünf Minuten zum Museum. Obwohl sich Bodo gerne bewegt, ärgert ihn, dass er früher aussteigen musste. Aber es kommt zu einer interessanten Begegnung.
Kaum ein paar Schritte gegangen, gerät er unter eine Gruppe von jungen Fahrenden. Zu ihnen gehört eine Sängerin, eine taffe und zugleich sinnliche Frau, die gerade einen Preis für eine Musik-CD gewonnen hat. Vor Freude singt sie. Ihre Stimme ist sicher und wohlklingend. Er schaut auf ihr Gesicht und ihre sonstige freie Haut und sieht, dass sie überall fleckig braun ist. Waschen scheint nicht zu ihren Lieblingsbeschäftigungen zu gehören. Trotzdem fühlt sich Bodo ganz besonders in ihrer Begleitung. Einerseits ist sie drall und lasziv, andererseits doch schlicht. Diese Mischung gefällt ihm.
Mit den jungen Leuten zusammen gerät er zu einem mit Stellwänden und Bändern abgegrenzten Aufführungs-Bereich am unteren Rand des Ortes. Sie haben diesen um eine kleine Schaubühne geschaffen. Er würde gerne einen Blick hineinwerfen, doch die Kasse am Eingang ist bereits besetzt. Der Mann, der da steht, erscheint von seinem Äußeren her so ziemlich das Gegenteil von ihm. Breite Schultern, goldblondes Haar und ein flaches Gesicht, aus dem sich die Nase kaum hervorhebt. Mit
„Tristan Campermann“, stellt er sich vor.
„Ach, einer von den Campermanns“, entfährt Bodo spontan.
Da ihn der Flachgesichtige verwundert anschaut, erklärt er.
„Ich sehe in den Menschen halt oft den Schlag.“
Der skeptisch-fragende Gesichtsausdruck des Kassierers verändert sich nicht. Deshalb berichtet er. „Wenn ich früher mit dem VW-Bus unterwegs war, habe ich oft Menschen mit Namen Campermann getroffen.“ Einer von ihnen, denkt Bodo, könnte vom Alter her sein Bruder sein. Deshalb fragt er. „Seid ihr mehrere in der Familie?“
Die Reaktion Tristan Campermanns ist unbestimmt. Bodo hat den Eindruck, als fühle er sich nicht in seinem Wesen erkannt. Als finde er, sein Name sage mehr aus, als nur zu den Herumfahrenden zu gehören.
„Mein Freund wartet beim Museum“, erklärt er, zur Begründung, warum er keinen Eintritt bezahlen möchte. Da sieht er, dass sie Zigaretten verkaufen. „Ein Paket bitte.“ und legt die fünf Euro auf den Tisch, die er sich gesträubt hatte, dem Busfahrer rauszurücken.
Der Kassierer zögert.
Bodo schaut ihn fragend an.
„Fünf fünfzig“, sagt dieser und fügt als Erklärung hinzu. „Fünfzig Cent Kulturbeitrag.“
Ein guter Geschäftsmann, denkt Bodo, lässt nichts gerade sein. Zum Glück findet er in der Coin-Tasche seiner Jeans noch einen Fünfziger.
Hastig zündet er sich eine Zigarette an und läuft los zum Museum. Sein Freund dürfte sich schon wundern, wo er so lange bleibt. MLF

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