Dienstag, 15. Mai 2012

51 Zandsch-Siedlung im Wald j


Auf seinen Fahrten – bevor er mit Tamura den Campus aufsuchte und dadurch wieder auf Abasis kleine Schwester gestoßen war – hatte Mark da und dort Menschen getroffen, die, wenn er sie fragte, woher sie kamen, selbstverständlich zur Antwort gaben: „Vom Wald.“ Einige der Nachtschwärmer zum Beispiel, mit denen sein Freund Franz verkehrte und nicht wenige von den Fahrenden, die Mark unterwegs antraf. Und dann hatte es sich ein paarmal ergeben, dass er ein Stück durch den Wald ging. Weil er dabei an die neuen Bekannten dachte, schloss er nicht mehr die Augen, sondern schaute sich um. Dabei sah er Dinge, die nicht der ihm vertrauten Welt anzugehören schienen. Die Ausschnitte, die sich ihm zeigten, schienen abwechselnd der Welt von Dante oder der von Alice entsprungen zu sein. Tiere, die sich wie Menschen verhielten, Pilger, die keiner bestimmten Zeit angehörten, Spielkarten, die zugleich Menschen waren, kundige Begleiter an seiner Seite. Immer wieder wurde er in Erstaunen versetzt. Langsam ergab sich eine gewisse Orientierung im Wald. So lernte er zwischen dem Nördlichen und dem Südlichen Wald zu unterscheiden (Im nördlichen Wald hausten die Mindels, von denen es hieß, dass ihre Köpfe aus Stein seien).
Während des Studiums hatte er den Wald als Lebensbereich noch nicht erkannt. Jetzt gab es ihn und ihm war sofort deutlich,  Abasi musste aus dem Wald stammen.

Eines Tages war Mark wieder im Wald unterwegs. Er mochte zwei Stunden oder ein halber Tag lang gegangen sein – das Gefühl für die Zeit war ihm abhanden gekommen. Da spürte er, dass er vom mittleren Teil zum Südlichen Wald gelangte. Er fühlte sich wohl unter den Bäumen. Von ihnen ging eine Geborgenheit aus, die ihm guttat. Da stieß er zwischen den Bäumen auf eine Holzbaracke. Verwundert blieb er stehen. Die Baracke war groß und stand leicht erhöht auf Stelzen. Er wollte wissen, wer hier hauste und ging die Stufen hoch. Durch die Tür trat er in den Flur, der die halbe Breite des einfachen Gebäudes einnahm. Daran schloss sich ein breiter Gastraum an, mit einer langen Theke auf der rechten Seite. Dann kam schon wieder die Ausgangstür. Da er weder Personal noch Gäste antraf, ging er ganz hindurch und schaute gegenüber zur Tür hinaus. Da sah er eine große Siedlung – von lauter Schwarzen. Für einen Amerikaner wäre dies wahrscheinlich kein so ungewöhnlicher Anblick gewesen. Aber für ihn, der noch nie mehr als drei Schwarze gleichzeitig gesehen hatte, war es eine ziemliche Überraschung. Zwar war, was da vor ihm lag, offensichtlich ein Ghetto. Aber von dieser Ansammlung von Schwarzen ging eine Kraft aus, die er unmittelbar spürte. Er glaubte Spuren seines Lebens wie Fäden hier zusammenlaufen zu sehen. Vorfälle, die er bisher nicht hatte verstehen können, wie der Tod von Abasis kleiner Schwester, fanden hier ihre Auflösung. Unwillkürlich musste er an die dunklen, kompakten Massen in den Kernen von Galaxien denken. Im Verhältnis zu ihrem spezifischen Gewicht erscheinen sie klein. Aber man nimmt an, dass sie bei der Bildung einer Galaxie und für ihren Fortbestand von großer Bedeutung sind. So kam ihm diese Siedlung vor. Er konnte sie mit einem Blick überfliegen, gleichzeitig war da eine Wirkung, von der er nur ahnen konnte, wie viel Einfluss sie auf sein Leben ausübte. Die Scheu, die er vor diesem neuen, ihm unbekannten Raum empfand, stellte sich gegen die stärker werdende Neugier. Was passiert mit mir, wenn ich mich da hineinbegebe?, fragte er sich. Werde ich festgehalten? Werde ich selber schwarz werden? Doch er überwand seine Furcht und schickte sich an, die Stufen in die Siedlung hinunter zu gehen. Da spürte er, dass er vorher pinkeln musste.
Die Baracke bot den geschützten Raum, in dem er loslassen konnte, was sich in ihm angesammelt hatte. Er ging zurück zum Flur mit den Toiletten. Während er dastand und den Strahl in die Rinne fließen ließ (Schüsseln gab es keine) war das eine Befreiung für ihn, als hätte er alles, was er in der letzten Zeit erlebt hatte, zu Papier gegeben und auf diese Weise aus sich rausgesetzt. Er ließ es fließen, denn er spürte, dass er sich leeren musste, bevor er dieses neue Gebiet betrat. MLF

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