Donnerstag, 31. Mai 2012

59 Orientalischer Pool – Strand, Sand, Saat

Toni erwacht in der Wüste, an einer Oase. Er sieht eine schwarz gekleidete, anmutige Gestalt im Halbdunkel auf ihn zuschreiten. Das Gesicht kann er nicht erkennen, weil es verhüllt ist. Nach einer Weile wird ihm bewusst, dass er in seinem Bett liegt. Aber die Orientalin mit zierlichem Schritt bewegt sich wirklich auf ihn zu. Noch eine Weile dauert es, bis er durchschaut, dass es Mili ist, die sich mal wieder in eine neue Verkleidung verliebt hat. Als sie beim Bett ankommt, richtet er sich auf und ruft: „Du bist es, ich habe dich durchschaut.“ Da hebt sie das weite Kleid in einem Ruck über den Kopf. Ihr wunderschöner Körper – in einem dunklen Karamell-Braun – kommt zum Vorschein. Toni umfasst sie und will sie aufs Bett ziehen. Doch der Schleier lässt sich nicht lösen. Da es ihr nicht gelingt, ihn zu entfernen, wohnt sie Toni mit Schleier bei. Das Küssen durch das Netz ist enttäuschend, aber ihre Berührungen und die Vereinigung mit dem Gesäß sind von der Behinderung sogar noch gesteigert.
Notgedrungen spricht Mili die Geschichte durch den Schleier. AS

Er legte sich auf das Badetuch, fand aber keine Ruhe. Dann ging Tommy zum Wasser und stapfte darin herum, aber Ärger und Verdruss ließen ihn nicht los. Da lief er dem Wasser entlang. Je weiter er ging, umso entspannter fühlte er sich. Hinten, am Ende des Bassinrandes, standen Männer orientalischer Herkunft. Sie wirkten auf ihn sehr groß, trotzdem fühlte er sich wohl zwischen ihnen. Auch der Strand gefiel ihm hier, aber er wagte nicht, sich auszuziehen.
Neugierig ging er hinten um die Ecke. Er war noch nicht weit gegangen, da sah er einen anderen, viel schöneren Pool. Wahrscheinlich der Pool einer bestimmten Interessensgemeinschaft, dachte er. Dieses Wasserbecken schien quadratisch zu sein, obwohl er die Wasserfläche nicht ganz überblicken konnte. Über der Mitte des Beckens war ein Park angelegt, der die Sicht nach hinten verwehrte. Die Poolränder waren weich geformt und setzten sich in einem Viertelbogen unter dem Wasser fort. Das Wasser war sehr tief und klar. Mit viel Aufwand hatte man das Becken mit einer Art Pergola eingefasst. Was der Anlage ein Ambiente der Geborgenheit verlieh. Der Park auf der Insel war mit vielfältigen Sträuchern in hellerem und dunklerem Grün bepflanzt, aus denen Blüten in leuchtenden Farben hervorstachen. Auf einem freien Platz stand ein Mann und bei ihm eine Frau. Er erwies sich als orientalischer Sänger. Die Frau war allem Anschein nach seine Partnerin. Der Sänger erhob seine Stimme. Andächtig lauschten die Anwesenden und mit ihnen Tommy dem Vortrag. Obwohl er die Sprache nicht verstand, war er tief betroffen von den eindrücklichen Lauten. In einer Pause sprach der Sänger von seiner Frau. Fügte aber hinzu, dass es sich um die Frau seiner Fantasie handle. Tommy beobachtete, wie sich bei dieser Bemerkung das Gesicht der Frau neben ihm säuerlich verzog. Sie machte sowieso keine so gute Figur an seiner Seite. Dann wurde sie auch noch von Kindern abgelenkt, die versuchten sie wegzuzerren.
Tommy hatte die beiden von der Ecke des Pools aus beobachtet. Jetzt ging er dem Poolrand entlang zu einem mit rotem Sand gekiesten Weg, der ihn auf die Insel führte. Er schlenderte zwischen den Büschen durch und stieß schon bald auf eine Essenstheke. An der Front der Bedachung stand in großen Lettern: strand – sand – seed. Näher tretend sah er, dass es hier diese gelben Erbsen gab, die er schon lange gesucht hatte. Er überlegte, was er von seiner Seite beisteuern könnte und kam auf die Idee einen Salat beizutragen. Es reizte ihn Ackersalat für die Pool-Gemeinschaft zu bereiten. Aber für so viele? Würde er das schaffen? Ich mach einfach so viel wie ich kann, entschloss er sich. MLF

Mittwoch, 30. Mai 2012

58 Chur martinensem

Als Toni aufwachte, erkannte er Mili im Halbdunkel. Sie gingen aufeinander zu und vereinigten sie in der Liebe. Anschließend erzählte sie ihre Geschichte. AS

„Weißt du noch, wie er mit Paul den Treff ‚Arsenal‘ aufsuchte?“, fragte Mili.
Toni war überrascht, weil sie ihn für gewöhnlich nicht direkt ansprach. Er nickte kräftig. „Er erkannte dort, dass es ein Fehler war, sich nicht um seine eigenen Bedürfnisse zu kümmern.“
„So ist es“, bestätigte Mili und fing ihre Geschichte an.
Tommy hatte ein Kuvert gefunden und konnte sich auf Grund dessen einen gewissen Lebensstil leisten. Er achtete von da an auf seine Bedürfnisse. Was dazu führte, dass der Inhalt des Kuverts nun schwand. Es war eben doch kein magischer Umschlag, der sich von selbst wieder füllte. Als das Geld zur Neige ging, war er genau so arm, wie davor, musste froh sein, dass er bei Jella wohnen und essen konnte und von seiner Mutter gelegentlich etwas Taschengeld zugesandt bekam.
Nach dem Erlebnis im Arsenal-Treff sah er es als seine Pflicht, für seine Bedürfnisse zu kämpfen. Da die Firma sich weiter im Aufbau befand, wandte er sich an einen Freund, der ihm offen gestanden hatte, dass er mit seinem angehäuften Geld und verschiedenen Besitztümern bis zu seinem Lebensende reichlich zu leben habe. Diesen Freund lud er zu sich nach Hause ein, zu einer Zeit, da Jella nicht daheim war. Sie setzten sich auf Sofa und Sessel gegenüber und er eröffnete ihm sein Anliegen.
Obwohl der Freund geahnt haben musste, was auf ihn zukam, war er doch erschrocken. Aber Tommy spürte, wie er sich einen Ruck gab.
„Ja, ich sehe, wie du dich bemühst. Lange kann es ja nicht mehr dauern, bis deine Firma den Aufbau geschafft hat. Das mit dem Kredit geht in Ordnung.“ Und er fügte – bewegt von der eigenen Großzügigkeit – noch ein paar Worte hinzu, die aus dem Mund eines Reichen etwas seltsam klangen. „Ich teile meinen Mantel gerne mit dir.“
Tommy konnte das Leben, das er sich mit seinem gefüllten Umschlag angewöhnt hatte, weiter führen. Er ging einmal die Woche mit Paul in Ausgang und gelegentlich mit einem anderen Freund ins Kino. Er kaufte sich ein paar neue Kleidungsstücke und ab und an ein Buch. Auf ein Auto verzichtete er wohlweislich. Er lebte in bescheidenem Maße seine Bedürfnisse. Das Jahr verging und das Guthaben schwand. Aber in seiner Firma hatte sich nichts geändert. Da nahm Tommy Zuflucht zu seiner alten Gelassenheit, die darin bestand, nicht auf seine Bedürfnisse zu achten und dankbar zu sein, dass Jella sich um ihn sorgte. Seinem Gläubiger sagte er offen, dass sich seine Situation leider nicht geändert habe, dass er ihm aber das Geld zurückgeben werde, sobald die Firma ihn bezahlen könne.

Als Tommy mal wieder seinen Freund auf seinem ausgedehnten Grundstück besuchte, kam ihm von unten ein Wolf entgegen. Zwar mit wedelndem Schwanz, aber doch deutlich ein Wolf. Wie manche Reiche hielt sein ‚Freund‘ lieber wilde Tiere, als die gewöhnlichen Haustiere. Durch dieses Tier sensibilisiert, spürte er, dass der ‚Freund‘ nicht mehr der gleiche war. Er wirkte gehemmt und schien ihn misstrauisch zu beobachten. Tommy ahnte, dass es mit dem Darlehen zusammenhing, aber da er im Moment die Schuld nicht tilgen konnte, schwieg er.
Eines Tages ging Tommy durch den Schulort. Als er über den zentralen Platz, den Flecken, kam, sah er aus der Luft große Teile auf den Platz zufliegen. Ein starker Wind musste einen Stapel von Holzbalken erfasst und davongetragen haben. So kam es, dass just in dem Moment, da er den Platz überqueren wollte, es Balken regnete. Erst wollte er nicht wahrhaben, was er sah. Er schaute zu, wie jemand gegenüber von einem Balken erschlagen wurde. Aber erst als unmittelbar neben ihm ein Balken einschlug, wurde er sich der Gefahr bewusst, in der er sich befand. Da hechtete er hinter den Brunnen, dessen massive Einfassung dem Auftreffen eines solchen Geschosses standhalten musste.
Von dort aus sah er einen Fremden, der aufrecht auf den Brunnen zukam.
„Wie kommt denn sowas?“, rief er diesem zu.
„Chur martinensem ist vorbei“, antwortete der Fremde mit sachlicher Stimme und trat näher zu ihm heran.
Chur was?“, rief Tommy in einer Lautstärke, als müsste er gegen einen Sturm anschreien.
Der Fremde blieb aufrecht stehen. „Die Martins-Kür“, erklärte er. „Das sind die Tage, an denen die Reichen traditionell ihren Mantel mit den Armen teilen. Am Tag danach regnet es für gewöhnlich Balken. Viele Wohlhabende bereuen ihre Großzügigkeit und fallen über ihre Schuldner her – hast du ein Anleihen bei einem Begüterten gemacht?
Tommy fiel seine Schuld ein und er nickte.
Dann warte lieber hier, bis der Regen aufhört, sonst könnte dich ein Balken treffen.
Der Fremde ging weiter, ohne Furcht. Er schien keine Schulden gemacht zu haben.
Tommy musste noch eine ganze Weile warten, bis der Regen nachließ. Dann ging er nach Hause.
Am nächsten Tag lag ein großer Umschlag im Briefkasten, an ihn adressiert. Vom Anwalt des ‚Freundes‘.
‚Da mein Klient mit Ihnen, Tommy Ohnesorg, ‚befreundet‘ ist, erlauben wir Ihnen die Rückzahlung des Kredits in Raten‘ stand da auf kostbarem Papier mit Wassersiegel. Die Termine waren geregelt. Innert eines Jahres war die letzte Rate zu begleichen. Mit einer Anmerkung, was geschehen werde, falls der Schuldner seinen Pflichten nicht nachkommen werde. MLF

Dienstag, 29. Mai 2012

57 Das Eschenbacher Schwimmbad


Toni mochte die lauten Schwimmbäder nicht, in denen sich die Massen tummelten und ihm vom Geschrei die Ohren schmerzten. Deshalb war er glücklich, als er im Wald ein ruhiges Bad entdeckte, in dem sich nur wenige Menschen ergötzten.
Als Mili nachts zu ihm kam, schwärmte er von diesem Bad. Endlich habe er einen Ort gefunden, an dem er sich wohl fühle. Fortan werde er sich nur noch dort erholen. Mili äußerte sich nicht. Sie gab sich in seine Arme und sie vereinigten sich. Aber aus der Geschichte, die er anschließend zu hören bekam, schloss er, dass sie seine Begeisterung für das abgelegene Bad nicht teilte. AS

Der Wald war für ihn eine große Entdeckung. Er verbrachte mehr Zeit im Wald als in der Stadt. Um die Firma, in der er früher gearbeitet hatte, machte er einen großen Bogen. Aber ab und zu kam er doch nach Eschenbach. Dabei hatte er auch ein oder zweimal den Chef getroffen. Mark hatte mit seinem Wohnmobil bei der Bank gehalten und vom Automaten Geld geholt. Als er zurückkam, hielt ein großes, glänzendes Gefährt neben seinem ziemlich verstaubten Wohnmobil. Der Chef stieg aus und trat wie zufällig zu ihm.
„Es ist gar nicht leicht die richtigen Leute zu finden“, sagte er. „Eine verwaiste Stelle mit jemandem Patentem zu besetzen, grenzt heute an ein Kunststück.“
Mark bezog diese Bemerkung nicht auf sich und nickte verständnisvoll. Der Chef einer großen Firma hat vielfache Sorgen und es tut ihm gut, wenn er sich erleichtern kann. Er fragte Mark nicht, wann er wiederkomme. Aber in der Stimme klang doch ein leiser Vorwurf: Wann hört diese Herumreiserei endlich auf?
Als Mark wieder mal in Eschenbach Halt machte, zog es ihn auch hier in den Wald. Er stellte sein Wohnmobil in der Ortsmitte auf einen Parkplatz, der sich als hinreichend sicher erwiesen hatte und ging auf direktem Weg durch den Ort in den angrenzenden Wald. Sofort fühlte er sich wohl im Halbdunkel unter den hohen Stämmen und atmete befreit den angenehmen, feuchten Geruch von Moos und Blättern ein. Er stieg zu einer etwas erhöhten Stelle und entdeckte dort von den Bäumen überwachsene Mauern – die Ruinen einer einstigen Burg. Nur die Stümpfe der Mauern waren noch erhalten und ragten irgendwie traurig hervor, bedrückt vom Moder, der sie verdeckte und den Myriaden kleiner Viecher, die unermüdlich an ihrem endgültigen Zerfall arbeiteten. Mark war gekommen, um sich im Wald zu erholen. Doch da stieß er auf eine Pyramide, die sich hinter der Ruine in den Bäumen erhob. Die Pyramide empfand er als Angebot. Er konnte sich im Wald aufhalten und gleichzeitig eine Pyramide ersteigen. Eine bessere Verbindung konnte er sich gar nicht denken. Als er sich anschickte, die erste Stufe der Pyramide zu erringen, stand plötzlich sein Chef neben ihm.
„Mensch, Mark, hier steckst du also“, entrang er sich schnaufend wie eine unter Druck stehende Maschine.
Mark war so überrascht, dass ihm kein Grußwort gelang. Die geballte Spannung eines Leitenden in schwieriger Position, traf ihn.
„Ich bitte dich dringend, komm!“
Ohne dass der Chef es explizit formulierte, fragte er damit, ob er die Arbeit annehmen würde. Er hatte ihm ein Angebot zu einem höheren Preis gemacht und ihm Bedenkzeit gegeben. Wenn er ihm jetzt gefolgt war, so hieß das, dass er dringend benötigt wurde. Als Antwort setzte Mark sich auf einen liegenden Stamm und begann sich die Schuhe anzuziehen, die er auf dem weichen Waldboden ausgezogen hatte. Der eine Schuh hatte einen sehr langen Bändel. Weil der Chef so unruhig war, wickelte Mark diesen flüchtig um den Schaft und verknotete ihn. Dann stand er auf und folgte seinem Arbeitgeber. Dieser eilte voraus und legte die Strecke, die Mark vorher in Stunden gegangen war, in wenigen Minuten zurück.
Als sie aus dem Wald traten, hielt der Chef inne und gab Order, was als erstes zu geschehen hatte. „Wir gehen jetzt zusammen ins Schwimmbad, wir drei!“, ließ er verlauten.
Das Eschenbacher Schwimmbad, fügte Mark in Gedanken hinzu. Um die sonst triviale Aussage für sich selbst ins richtige Licht zu rücken. In einer Stadt, die in ihrem Wappen den Weltenbaum Yggdrasil stehen hatte und das Wasser, das durch die Stadt floss auf die Quelle unter eben diesem Baum zurückführte, war ein Aufenthalt im Schwimmbad nicht ein bloßes Freizeitvergnügen. Mark kamen Zweifel, ob er bei dieser Arbeit wirklich bestehen würde. Dazu brauchte man eine dicke Haut. Im strammen Schritt gingen sie vom Waldrand zum Schwimmbad. Da der Weg eng war, ging Mark voraus.
„Wenn euch meine Empfindlichkeit nicht stört“, rief er warnend nach hinten.
Der Chef antwortete nicht. Wahrscheinlich hatte er andere Sorgen. Mark war gespannt auf den dritten im Bunde. Ob es einer der Kollegen war, die er von früher kannte oder jemand Neues?
Vor dem Schwimmbad stand eine große Gruppe von Eschenbachern. Sie trugen alle dicke Öljacken oder waren im Begriff welche anzuziehen. Ein weiteres Merkmal dieser Stadt, die Lieblingskleidung ihrer Bewohner waren die Gummimäntel oder Pelerinen, um sich gegen Einflüsse von außen zu schützen. Die Gummimäntel, die sie trugen, schienen Mark besonders tauglich. Er liebäugelte damit, sich bei dieser Gelegenheit mit einem einzudecken. Entschied sich aber dagegen. Er hatte ja schon welche und außerdem trug er sie ungern. Er glaubte nämlich im Umgekehrten, dass man das, was von außen kam, auf sich wirken lassen musste, auch wenn es unangenehm war.
Vor dem Eingang des Schwimmbads stand MaLu.
„Nanu, du hier?“, rief er aus und wollte sie herzlich begrüßen. Aber die Stimmung, die von ihr ausging, ließ ihn innehalten.
„Wo ist dein Wettermantel?“, fragte sie nüchtern, obwohl sie selber keinen trug. 
„Ich mag diese Dinger nicht“, gab Mark offen zu. Seine Stimme klang resigniert, weil sie ihn so frostig empfing.
Du hast keine Ahnung, um was es geht“, fuhr sie ihn an.
Er stand da wie ein begossener Pudel. Das mit der Öljacke konnte nicht der alleinige Grund sein. Hatte sie ihn nicht auch schon mal zurechtgewiesen, weil er sich vom Alkohol angeheitert einen Regenmantel angezogen hatte? Es musste noch einen anderen Grund geben, weshalb sie ihm gram war. Das konnte nur der Wald sein. Dass er sich im Wald aufgehalten hatte. Langsam dämmerte ihm, wer der dritte im Bund war. Nicht jener Ingenieur, den er geglaubt hatte, sondern sie, MaLu selbst, die auf unerklärliche Weise immer mit ihm in Verbindung stand. Was auch erklärte, warum der Chef ihn im Wald hatte finden können. MLF

Freitag, 25. Mai 2012

Verworfen: 56 Interview mit einem Holzkopf j

Im Wohnzimmer standen ein altes Ledersofa, ein Tisch und ein paar Stühle mit geflochtenen Sitzen, alles Möbel von seinem Vorgänger. An der Wand hing, ebenfalls von früher, eine Maske, die die Journalisten schon zu kennen schienen.
Bis Tommy an der Grenze auf den Umschlag mit dem Geld gestoßen war, hatte er geglaubt, dass Geld ihm nichts bedeute. Jetzt spürte er ein großes Verlangen, von diesen drei Männern und der Frau fotografiert und ausgefragt zu werden. Fieberhaft überlegte er, was er ihnen mitteilen könnte, wenn sie ihn fragten.
Man bat ihn mit ihnen rauszufahren und fragte, ob man die Holzmaske für das Fotoshooting ausleihen dürfe. Von der Eitelkeit beseelt sagte er ja und gab zu allen Fragen bereitwillig Auskunft, obwohl ihm die meisten unvernünftig erschienen.
Im Wesentlichen ging es darum, warum er unbezahlt arbeite. Das schien die Journalisten zu beschäftigen. Sie forschten nach seiner Motivation. Ob er glaube, der Welt mit seiner Arbeit einen Dienst zu tun? Er wurde auch gefragt, ob er Schulden habe.
Die Frage mit den Schulden war die einzige, die er ausweichend beantwortete.
Sie führten ihn an einen See. Im Auto hatten sie Kameras. Als man vorschlug, ihn mit Holzmaske zu filmen, zögerte er kurz. Aber dann war es ihm gar nicht unrecht, weil er an seine Gläubiger dachte. Die Journalisten zogen Badekleider an und begaben sich ins Wasser. Er mochte nicht, wenn vier gleichzeitig fotografierten und machte es zur Bedingung, dass nur einer abdrückte. Die andern verließen darauf das Wasser. Im Moment des Blitzes übertrug sich die Spannung auf seinen Körper. Er spürte einen starken elektrischen Schlag.
Der Beitrag, ‚Kontaminiertes Haus wieder bewohnt‘ wurde im Abendjournal ausgestrahlt. Er sah sich die Sendung bei Jella an. Sie war nicht zuhause, worüber er nachträglich froh sein würde. Die erste Einstellung war der Blick auf das Haus von außen, die zweite auf die Maske an der Wand. Dann stand er bereits auf der Wiese und trug dieses Ungetüm von einer Holzmaske, die mindestens die doppelte Größe eines gewöhnlichen Kopfes hatte. Es sah nicht so aus, als trüge er eine Maske, sondern als sei sein Kopf aus Holz. Die Antworten, die er im Haus und unterwegs gegeben hatte, wurden jetzt von dem Holzkopf mit seiner Stimme gesprochen.
„Ich habe in meinem Leben noch nie Geld verdient, obwohl ich viel gearbeitet habe“. Diese an sich schon paradoxe Aussage, klang aus diesem Holzkopf heraus völlig absurd. Tommy wurde ganz mulmig zu Mute.
Ob er die Welt verändern möchte?
„Die Welt verändern ist zu viel gesagt. Aber ich möchte schon, dass meine Arbeit eine Wirkung zeigt.“
Als er diese Worte hörte, traf ihn der gleiche elektrische Schlag, wie bei dem Fotoshooting vom Wasser aus. Die Sätze klangen so fürchterlich, dass er am liebsten ein Beil genommen und diesen Holzkopf zerschlagen hätte. Nach und nach erst erkannte er, in was ihn die Journalisten da hineingeritten hatten.
Zum Schluss wurde noch gefragte, warum der neue Bewohner des Hauses diese Maske wohl trage? – Was für eine Unverschämtheit. Man hatte ihn gebeten sie anzuziehen – Darüber gebe es verschiedene Ansichten. Die einen sagten, er wolle sich mehr Ausdruck verschaffen, da er von Natur her eher unscheinbar sei. Die anderen, weniger freundlichen, fanden, dass er seine Hässlichkeit verbergen wolle.
Jella war zum Glück nicht da. Sie hätte ihn an der Stimme erkannt und ihm Vorwürfe gemacht, dass er sich auf die Fragerei eingelassen hatte.
Erst beim Abspann sah er sein Gesicht und auch da nur im Profil. Wie er beim Ablegen der Maske zum Vorschein kam. So hässlich bin ich nicht, dass ich mich verstecken müsste, sagte er sich beruhigt. Wahrscheinlich war es seine Unscheinbarkeit, die sie dazu führte, ihn als Holzkopf darzustellen. MLF

Donnerstag, 24. Mai 2012

56 Zwei marode Beine

Toni hatte noch viel zu korrigieren gehabt. Mili hatte seine – eigentlich auch ihre – Geschichte verworfen. Das hatte ihn ins Schlingern gebracht.
Diese Nacht wachte er gar nicht richtig auf, fühlte sich aber trotzdem sehr intensiv mit Mili verbunden. Wenn’s drauf ankam, konnte sie ihn auch eigenständig erregen, in sich einführen und zum Erguss bringen. Er wachte danach auf und wusste nicht recht, wieso er diese abklingende Erregung hatte und weshalb er dieses sinnliche Gesättigtsein verspürte.
Mit Rücksicht auf seine beschränkte Aufnahmefähigkeit hielt sie ihre Geschichte äußerst knapp. AS

Als Erduan in die Schreinerei kam, sah er gleich, dass mit dem langen, schwarzen Tisch etwas nicht stimmte. Er fiel nach hinten ab. Ob der Tisch nicht überhaupt viel zu lang war?, überlegte er, während er ihn bis zum Ende abschritt. Das Holz der Beine steckte in Messingbeschlägen, die oben mit der Tischplatte verschraubt waren und unten den Fuß bildeten. Nachdem er die Platte mit einem verstellbaren Bock unterstützt hatte, schraubte er das erste Bein ab. Der Beschlag funktionierte tadellos, aber das Holz erwies sich als komplett marode, sowohl beim ersten wie beim zweiten Bein. Ebenholz gab es noch genug, aber die Leisten waren alle etwas dünner. Egal, Hauptsache, das Holz war gesund. Sein Kollege Bert Schmiss eilte herbei und übernahm die Reparatur. So dass Erduan seine sonstigen Arbeiten nicht zur Seite legen musste. MLF

Verworfen: 56 Interview mit einem Holzkopf i


Wo bin ich denn?, fragte sich Toni, als er aufwachte. Der harzige Geruch von Kieferholz erinnerte ihn daran, dass sie sich in einer Berghütte befanden. Tags zuvor hatten sie eine größere Wanderung unternommen und waren in einer geräumigen Bündner Hütte untergekommen.
Mili hatte ihn doch begleitet. Wo war sie nur? Als er sich im Raum umsah, fiel ihm ein Tier auf, das sich aufgerichtet hatte und zur Decke strebte. Erst dachte er, es handle sich um einen Hund. Das Fell klebte dem Tier am Körper, es war nass, ja sogar lehmig. Dann sah er, dass es sich aufgrund des Körperbaus und des Schwanzes um einen Fuchs handelte. Warum dieser sich aufgerichtet hatte, wurde Toni erst klar, als er unterhalb der Decke einen Vogel sah, der dort seinen Nistplatz zu haben schien. Obwohl der Fuchs sich immer mehr dem Vogel näherte, zeigte dieser keinen Argwohn. Wahrscheinlich lenkten ihn das nasse Fell und der Lehmgeruch davon ab, seinen Erzfeind zu erkennen. Schließlich war die Schnauze so nah, dass der Fuchs sie wie eine Hand um den Vogel schließen konnte.
Kaum dass der Fuchs verschwunden war, saß Mili neben ihm. Diese zeitliche Koinzidenz, stimmte Toni misstrauisch. Plötzlich hatte er das Gefühl, keine richtigen Tiere, sondern Figuren gesehen zu haben. Das erklärte auch, warum er geglaubt hatte, die Schnauze habe sich wie eine Hand um den Vogel geschlossen. Und noch ein Rätsel löste sich so. Dass der Vogel unter der Decke geblieben, ohne, dass er ein Schwirren der Flügel gesehen hatte. Ob Mili ihm ein Spiel vorgeführt hatte? – Zuzutrauen war es ihr schon.
Toni starrte noch immer auf die Stelle, an der sich davor der unscheinbare Vogel befunden hatte. Mili fuhr ihm mit ihrer geschmeidigen Hand über die Augen und lenkte damit seine Aufmerksamkeit auf sich. Sofort vergaß er alles und fiel in Liebestaumel mit ihr. Daraus erwachte er erst, als Mili sich aufrichtete, den Kopf gegen die getäfelte Wand lehnte und zu erzählen begann. Von Tommy, unserem Sorgenkind, dem Journalisten übel mitspielten. AS

Schlussendlich zog er doch in das Haus, das man ihm schon vor längerem angeboten hatte. Es war für Menschen, die arbeiteten, ohne dabei Geld zu verdienen, gestiftet worden. Doch es hieß, dass es in irgendeiner Weise kontaminiert sei und folglich dem Bewohner schaden könnte. Vorsichtshalber war er dann in den Schuppen nahe der Schlucht gezogen. Das war damals gewesen, als man ihm mitteilte, dass der große Schriftsteller gestorben war. Da das Leben in einem Schuppen, ohne fließend Wasser, zu kompliziert gewesen war, hatte Tommy dem Drängen seiner Schwester nachgegeben und war zu ihr ins Haus gezogen. Auch als er später den Briefumschlag mit dem Geld gefunden hatte, war er trotzdem bei Jella geblieben. Erst als es im Schulort Balken regnete und er fliehen musste, fiel ihm dieses Haus wieder ein. Es stand noch immer leer.
An dieser Stelle geschah etwas, das Toni selten tat, er unterbrach Mili. „Was war da mit den Balken im Schulort?“, fragte er.
„Hab ich‘s dir nicht erzählt, wie es im Schulort Balken regnete?“
„Nein. Die letzte Geschichte von Tommy war die, als er mit Paul ins Arsenal ging und im Spiegel ein Holzbein sah.“
„Auch nicht, wie er an seinen ‚Freunden‘ plötzlich ein Wolfsgesicht entdeckte?“
„Nein.“
„Ach, dann fehlt dir eine, wenn nicht sogar zwei Geschichten.“ Sie schien zu überlegen, ob sie umschwenke, sagte dann aber. „Die kann ich später mal nachholen. Jetzt möchte ich berichten, wo Tommy schließlich gelandet ist. Er hat es sogar geschafft ins Fernsehen zu kommen. Wenn auch nicht gerade zu seinen Gunsten.“
Toni nickte und Mili fuhr fort.
Vom Schulort war er zu einem Bekannten und dessen Frau geflüchtet. Zwei Monate hielt er sich bei den Rasts auf. Sie verdienten ihr Geld mit Kieshandel und wohnten in der Kiesgrube. Vor schroffen Wänden türmten sich Haufen von gebrochenen Steinen in allen Variationen auf, von groben Kieseln bis zu feinstem Sand. Neben den Siebanlagen standen riesige Bagger und Lastwagen. Tommy fühlte sich in dieser staubigen, mineralischen Welt nicht zuhause und außerdem war es ihm dort zu abgeschieden. Manfred verschaffte seinem Leben etwas Spannung, indem er ab und zu in die Stadt ging und sich im Rotlicht-Milieu herumtrieb. Nicht gerade nach Tommys Geschmack. In diesen zwei Monaten grübelte er viel. Da fiel ihm das belastete Haus wieder ein, das man ihm damals angeboten hatte. Nachdem er nur knapp einem herunterstürzenden Balken entgangen war, schien ihm das bisschen Kontamination, von dem er nicht mal wusste, um was für eine Verseuchung es sich handelte, vernachlässigbar.
Das Haus war gar nicht schlecht gelegen. Es stand in einer Reihe über einer Stadtstraße, wie im Kino die erste Reihe über dem Quergang. Er wusste nicht, warum es gemieden wurde. Vom Balkon aus konnte man über die Dächer der anderen Häuser blicken. Es war einfach eingerichtet. Aber das Dach war dicht. Er lieh sich einen Wagen und holte bei Jella seine Matratze und sein Bettzeug ab. Es fiel ihm nicht leicht, ihr sein Wegbleiben und den Auszug zu erklären, da er sie nicht in die Sache mit den gewandelten Freunden eingeweiht hatte. Aber sie spürte, dass er in Not war und steckte ihm etwas Geld zu. Davon kaufte er sich eine Gasflasche und Vorräte zum Essen. Er lebte noch immer nach dem Motto seiner Firma: Wenn wir erst den Durchbruch schaffen, werden wir doppelt so viel verdienen wie die anderen. Dieser Spruch verbreitete eine Aufbruchsstimmung, die allen, die daran glaubten eine Art ewige Jugend verlieh. Abends setzte er sich auf den Balkon. Wenn eine besonders schöne Abendstimmung herrschte, vergaß er manchmal den Verjüngungsspruch und glaubte an das andere Extrem, nämlich, dass sein Leben in Auflösung begriffen sei. Und er war nicht mal unglücklich dabei.
Eines Tages klingelte es an seiner Tür. Vier mit Kameras und Mikrofonen bewaffnete Journalisten standen vor der Tür.
Sie begrüßten ihn mit dem Ruf: „Endlich wagt es wieder jemand, in diesem Haus zu wohnen. Dürfen wir reinkommen?“
Er nickte und ging ihnen voran in das Wohnzimmer.  MLF

Mittwoch, 23. Mai 2012

55 Die Kompositionen des Japaners

Als Toni nachts aufwachte, erkannte er Mili im Halbdunkel. Sie kam auf ihn zu und zog ihn an sich. Sie vereinigten sich voller Lust. Anschließend erzählte Mili ihre Geschichte. AS

Am Morgen geriet er in Auseinandersetzung mit Ruben, der in unveränderter Form weitergrub und das aufgespürte Fleisch in ein weiteres Segment des riesigen raupenartigen Körpers verwandelte – das fünfundfünfzigste.
„Ich hab‘s dir gesagt, das ist die letzte Erweiterung der Halle gewesen“, rief Jasmus in die Grube hinab. „Wenn du willst, kannst du jenseits dieser Wand im Freien fortfahren, von mir aus auch wieder ein Zelt aufstellen, aber die Halle bleibt wie sie ist.“
Ruben wurde sichtlich nervös, aber er unterbrach seine Arbeit nicht. Es war eine richtige Sucht. Jasmus hatte ihn ja auch zu Freunden sagen hören, ‚wenn ich nicht täglich mein Raupensegment bilden kann, fühle ich mich nicht gut‘.
Er lehnte sich an einen Pfosten der Außenwand und stützte den Arm auf den Querbalken. Wie könnte ich Ruben helfen, die Arbeit in eine neue Phase überzuführen?, fragte er sich. Wenn er bei der Arbeit war, konnte man ihn nicht ansprechen. Er musste ihn mal in einer freien Minute erwischen. Jasmus löste sich von der Wand. An das Loch tretend rief er: „Draußen im Freien – die Halle wird nicht mehr erweitert! Ist das klar?“
Die Antwort war ein Brummen.
Auf dem Heimweg ging er in einen Laden. Er lief zwischen den Regalen und konnte sich nicht konzentrieren. Möglichst heute Abend sollte ich mit Ruben reden, sagte er sich. Am besten einen Freund mitnehmen. Und Ruben in Ruhe auf die nötige Verwandlung ansprechen. Aber das ging nicht, diesen Abend hatte er etwas anderes vor. Er füllte den Einkaufskorb, bezahlte und fuhr nach Hause.
Zuerst versorgte er die Blumen. Dann setzte er sich in der Küche an die Theke.
Er hatte für diesen Abend die Freunde von der Reisegruppe zu einem Abschiedstreffen im Restaurant Kreuz eingeladen. Dies hatte er organisiert, nachdem er vorige Woche Gila im Treppenhaus getroffen hatte.
„Na, wie sieht’s aus, Gila?“, hatte er sie gefragt. „Bald mal wieder Lust auf eine Reise?“
Sie gefror gleichsam. Auch wenn sie stumm geblieben wäre, hätte er doch Bescheid gewusst. „Keine Fahrten mehr“, sagte sie knapp und wiegte den Kopf.
„Wieso denn?“, bohrte er nach.
„Diese Übersetzungen vom Englischen ins Französische, du kannst dir das nicht vorstellen. Das sind zwei völlig andere Welten. Es ist, als müsstest du, was eine Amsel flötet einem Hasen verständlich machen.“
„Schade“, hatte er geantwortet.
Nachher hatte er an derselben Stelle gesessen wie jetzt. Und hatte sich überlegt: Wenn Gila nicht mehr reisen wollte, machte es für ihn auch keinen Sinn mehr, an den Treffen teilzunehmen, bei denen die Reisen besprochen wurden. Komischerweise war er eher erleichtert als bedrückt. Manches störte ihn inzwischen an dieser Gruppe. Jeder bevorzugte das Land, in dem er zuletzt gereist war. Man versuchte, die andern zu den gleichen Fahrten zu animieren. Es war nicht mehr ein Austausch über ganz unterschiedliche Reisen. Ihm ging es ja im Grunde genauso. Mit seiner Begeisterung für Japan hatte er die andern nie erreichen können. Trotzdem musste er dem Abschied eine gewisse Form geben. Deshalb entschloss er sich, die Freunde ins Restaurant Kreuz zu einem Abschiedstreffen einzuladen.
Mit bei der Feier war Tamura, ein Japaner. Als Jasmus ihn kennenlernte, hatte er ihm von ihren Reisen nach Nippon erzählt. Seither waren sie befreundet. Als sie im Gasthof gegen später nur noch zu viert waren, bat er Tamura eine Komposition seines liebsten japanischen Musikers aufzulegen. Tamura hatte das Werk ‚Der Norwegerin Lächeln‘ dabei. Sie beide lauschten dieser großartigen Komposition. Jeder Abschnitt war ein Klangwunder. Keine Misstöne, keine Unstimmigkeiten, trotz der großen Komplexität.
Während sich Jasmus mit Tamura austauschte, spürte er, wie die beiden aus der Gruppe, Amwald und Holzstock sie misstrauisch betrachteten. Er spürte Eifersucht. Das verstand er nicht. Sie mussten doch diese Musik auch schätzen.
„Wie alt ist diese Komposition?“, fragte er Tamura.
Dieser lehnte sich zurück und überlegte. „‚Der Norwegerin Lächeln‘ hat er vor fünfundzwanzig Jahren komponiert. ‚Jimmy ging über den Regenbogen‘ ist vor zehn Jahren entstanden.“
Jasmus konnte sich an dieser Musik nicht satt hören.
Amwald und Holzstock fragten, was das sei. Da antwortete er, dieses Stück sei fünfundzwanzig Jahre alt und der gleiche habe ‚Jimmy ging über den Regenbogen‘ komponiert. Er überlegte. Diese Werke verkauften sich auch heute noch. Gewiss konnte der Komponist gut davon leben.
Irgendwie kam Jasmus auf Ruben zu sprechen. „Dieser Komponist hat was, das Ruben fehlt“, sagte er.
„Wer ist Ruben?“, fragte Tamura.
„Hab ich dir noch nicht von ihm erzählt?“, fragte Jasmus. „Der Künstler, der diese große Ausgrabung macht. Ich baue für ihn die Halle.“ Er überlegte kurz, ob er davon sprechen sollte, aber dann brach es aus ihm raus. „Wir haben uns heute Morgen gestritten. Ich habe ihm bei der letzten Erweiterung gesagt, dass es die letzte sei. Die Halle hat jetzt eine Länge von hundertzehn Meter. Kannst du dir das vorstellen? – Hundertzehn Meter.
Tamura schaute ihn an, ohne zu antworten.
Jasmus fuhr fort. „Es ist ja faszinierend, was er in seiner unermüdlichen Art zum Vorschein bringt. Aber mir scheint, je mehr es wird, umso abschreckender wird sein Projekt für die Journalisten. Sie schauen schon gar nicht mehr hin, was er ans Licht befördert, sondern nennen nur noch die Superlative und sagen, ein Verrückter sei am Werk, ein Künstler im Schaffensrausch – ohne Sinn und Verstand. Das Schlimmste ist, sie haben nicht ganz Unrecht.“
Plötzlich hatte Jasmus eine Idee. „Wir könnten Ruben anrufen.“ Er schaute auf die Uhr. „Schon zwölf. Vielleicht geht er doch noch dran. Probieren wir’s.“
Er nahm sein Handy, blätterte und wählte.
„Hallo Ruben.“
Durch den Hörer war eine tiefe Stimme zu vernehmen. Jasmus schwieg eine Weile. Dann sagte er. „Höre Ruben, ich hab hier einen Freund, einen Japaner. Ein Kenner der Musik dieses Japaners, von dem ich dir schon erzählt habe. Hast du nicht Lust, dich noch etwas zu uns zu gesellen. Er hat CDs dabei. Wir brechen jetzt hier im Restaurant Kreuz auf und werden gleich bei mir zu Hause sein.“ Wieder trat eine längere Pause ein. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst aufhören.“ Und nach einer Pause. „Also bis gleich.“
„Er kommt“, sagte Jasmus zu Tamura. „Erst war er nicht begeistert. Seine Stimme klang dunkel. Wohl hatte er zwei, drei Bier getrunken. Er müsse morgen früh an die Arbeit. Das hab ich ihm gleich mal ausgeredet. – Vielleicht können wir ihn dazu anhalten, in eine neue Arbeitsphase zu treten.“
Ruben war ebenso begeistert von dieser Musik wie sie beide. Trotz der schweren Lidern und der noch schwereren Zunge, blitzten seine Augen. „Ich habe da eine Idee“, sagte er und lachte in sich hinein. Vielleicht lassen sich diesem Raupenungetüm ja ein paar Schmetterlinge entzaubern.“ MLF