Als ausländischer Gast zu Besuch in China genoss Otis eine
privilegierte Behandlung. Zum Höhepunkt des Empfangs befanden sie sich in
Schiffen auf dem Wasser. Auf einem speziellen Boot bereiteten ihm gegenüber zwei
Künstlerinnen, vor dem Hintergrund einer bizarren städtischen Skyline, eine
Performance vor. Rechts von Otis stand der Regent auf einem herrschaftlich
glitzernden Schiff, umgeben von seinem Stab. Ausnahmsweise hatte der Regierende
den Auftritt einer landsmännischen Künstlerin erlaubt. Die strikte Zensur, die
sonst die Artisten in die Verborgenheit drängte, wurde zum Gefallen des fremden
Gastes gelockert. Bei den Künstlerinnen handelte es sich um Gitta, die Schwester
von Otis und eine chinesische Artistin, mit der sie befreundet war. Ihr
schwimmender Untersatz war ein Floß von einer länglichen Nierenform. Mit etwas
Grün ausgelegt, suggerierte der Untersatz eine schwimmende Insel. Otis hörte
munkeln, dass sie nackt auftreten würden.
Gut, dachte er, schau ich mir gerne an. Doch, was er zu sehen
bekam, war Zauberei.
Er sah wie die fremde Künstlerin alles, was sie vor sich aufgehäuft
hatte, umfasste. Sie bewegte ihre flinken Hände darüber wie eine
Klavierspielerin oder eine Datentypistin. Die Finger waren, wie er deutlich
sah, von der fortgesetzten Aufgabe wund. Ihre Gesichtszüge waren nicht
asiatisch, vielmehr erkannte er in ihr den Typ Künstlerin, wie man sie in
seiner Heimat oft als Artistinnen in Zirkusshows sieht. Straff gespannte Haut
über den Wangenknochen, ein festes Kinn und ein kühler, unbeirrbarer Blick. Die
dunkelbraunen Haare, glatt nach hinten gefasst, verstärkten noch die Taffheit,
die sie ausstrahlte. Und doch war da zugleich etwas sehr Sanftes in ihrem
Gesicht und in ihren feinen Gliedern. Sie fuhr mit ihren Händen über den
geordneten Haufen vor sich. Plötzlich geschah’s. Vor ihr tanzte ein Vorhang aus
kleinen schwarzen Wolken, in Abstand zueinander. Genau besehen, tanzten die
Wölkchen nicht, sondern schwebten in der Luft. In genauen Abständen, ein großes
Raster bildend, vier Meter hoch und mehrere Meter breit. Gebannt starrten alle
auf diese schwarzen Wölkchen. Da erst wurde das Eigentliche sichtbar. In diesem
Raster erschienen Büsche und kräftige Bäume, ein dichter, sattgrüner Wald nahm
Gestalt an. Von schwarzen Wattewolken wurde ein Wald beschworen. Ein magischer
Wald. Es herrschte vollkommene Stille, wie es sie sonst nur im Schlaf gibt.
Selbst das Schlagen der Wellen an die Boote war verstummt. Als wäre sogar das Meer
von dieser Erscheinung gebannt.
Otis spürte wie die Spannung stieg, die Künstlerin würde sie
nicht ewig halten können. Also schlug er die Handflächen aufeinander. Tosender
Applaus setzte ein, während die schwarzen Wölkchen wie zahme Tiere nacheinander
in die Arme der Künstlerin zurückglitten und das Bild des Waldes langsam
verblasste.
Einen zusätzlichen Tag seines Aufenthalts nutzend, besuchte er
ein berühmtes, am Rand des städtischen Molochs gelegenes Mahnmal. Mit einem
aktuellen Reiseführer in der Hand schlug er sich selber zu dem bekannten
Monument durch.
Er stand vor einem gewaltigen Sockel der staatlichen Autobahn.
Darin steckte, in nur wenigen Metern Höhe, ein Frauenkopf. Das war das berühmte
Mahnmal zum Gedenken an die Hexenverbrennung. Die prominente chinesische Bildhauerin
hatte das plastische Relief so gestaltet, als wäre beim Bau der Autobahn der
Kopf von oben herab in den noch weichen Beton, des nach unten breiter werdenden
Sockels gefallen und hätte sich dabei tief eingegraben. Wie ein gefallener
Komet mit Schweif sah der Kopf aus. Die Spur des sich Eingrabens beim
Herabfallen stellten die Haare der Unglücklichen dar.
Im Stadtzentrum war noch eine Abschlussveranstaltung zu Ehren des
Gastes anberaumt. Um rechtzeitig zurück zu sein, stieg Otis die Stufen zur
Autobahn hoch und versuchte so in die chinesische Stadt zurück zu gelangen.
Doch er verstieg sich in Bergen von aufgetürmten Autobahnstücken. Nicht mal aus
der Ferne konnte er den Kern der chinesischen Metropole ausmachen. Es war
unmöglich dorthin zu gelangen. Enttäuscht kehrte er zurück. Verwirrt und
erschöpft setzte er sich auf eine niedere Mauer zu Füßen des Mahnmals.
Da trat ein Führer an ihn heran.
„Would you like
to go back to town?“, fragte er in erstaunlich deutlichem Englisch.
Otis schüttelte den Kopf, er habe es probiert, es sei unmöglich.
Der Führer wehrte den Einwand mit den Händen gestikulierend ab. „Come on, I’ll show you the way.“
Argwöhnisch richtete sich Otis auf und folgte ihm.
Der Fremde ging ihm voran um den Autobahnsockel herum. Einige
Schritte weiter stießen sie auf einen schmalen hohen Bogen. Durch diesen sah er
tatsächlich die städtischen Gebäude aus Stahl und Glas. Otis konnte es kaum
fassen, aber die Arkade erwies sich als Eingang in die chinesische Großstadt.
Noch einige Schritte weiter und sie näherten sich dem zentralen Platz auf dem
die Schlussveranstaltung ihm zu Ehren stattfand.
Man hatte für die chinesische Künstlerin ein paar nützliche Dinge
auf einen simplen Marktkarren gelegt. Jeans, T-Shirt, Bluse, ein Paar Schuhe,
Shampoo, Zahnpasta und zwei Schachteln Zigaretten. Für diese Habseligkeiten
wurde Geld gesammelt. Es fehlte ihr am Nötigsten. Ganz oben lagen Gutscheine
für den Friseur, für den Fahrradladen und die Apotheke. Auf diesen waren Beträge
in Euro gemalt.
Die Befürchtung beschlich ihn, sie könnte ihn, den ausländischen
Gast, rupfen wollen. Doch die Preise schienen ihm moderat und er half gern. MLF
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