Montag, 13. Mai 2013

157 Don’t Talk to the Pilot



Wie Tonke von einem gefeierten Autor den Schlüssel zu einem Rolls Royce erhielt, diesen dann aber freiwillig zurückgab.

Nach einem nicht enden wollenden Gang durch den feuchten, dämmrigen Wald erreichte Tonke endlich die sonnige Höhe. Von hier aus konnte er, zwischen vereinzelten Bäumen, deren Duft ihn umschwebte, den Blick in eine weite Landschaft schweifen lassen. An einer schlichten, alten Kapelle vorbei steuerte er auf die Gaststätte mit der Sonnenterrasse zu. Verstreut standen einige Chalets, die nur an den Wochenenden und in den Ferien bewohnt waren. An diesem schönen Ort hatte er schon öfters gerastet, wenn er ein Manuskript beendet hatte.
Von der Terrasse aus war weiter unten am Hang eine Ansammlung von alten Gebäuden zu sehen, die den Künstlern als Treff diente und ‚Kulturzentrum am Hang‘ hieß. Tonke arbeitete gelegentlich dort. Im Atrium stand ein großes Objekt von ihm, an dem er schon lange sich abmühte. Er war mit der monumentalen Plastik bisher aber kaum aus dem Modellstadium herausgekommen.
An diesem Tag hatte das Erreichen der Höhe für ihn eine besondere Überraschung parat. Er traf vor der Gaststätte einen Gast, der, wie schon an seinen asiatischen Gesichtszügen zu erkennen war, eine weite Reise hinter sich hatte. Er war der Verfasser anspruchsvoller Bücher, die trotz ihres schwierigen Inhalts in der ganzen Welt gelesen wurden. Nachdem sie sich gegenseitig begrüßt und Tonke sich vorgestellt hatte, schilderte er dem Autor die großen Schwierigkeiten, mit denen er auf dem verworrenen Pfad im Wald zu ringen hatte.
Der Schriftsteller zeigte volles Verständnis. Er habe sich selber oft durch den Wald schlagen müssen. Außerdem sei er beim Schreiben jeder seiner Romane an einen Punkt geraten, an dem er geglaubt habe, verzweifeln zu müssen.
In diesen Worten, kam zum Ausdruck, welche Anstrengung der Schriftsteller auf seine Bücher verwandte. Das führte dazu, dass Tonke sein Manuskript nochmal durchlas und entgegen seinem früheren Dafürhalten eine weitere Überarbeitung für nötig fand.
Der Schriftsteller bekräftigte ihn darin und bot ihm überraschend seinen Wagen an. So würde er schneller zu seiner letzten Arbeitsstation zurückfinden und zeitig wieder aus dem Wald hinaus sein können. Er ging ihm voraus zum Parkplatz hinab, blieb bei einem kostbaren Wagen stehen und überreichte ihm den Schlüssel. Überdies zeigte er ihm im Handschuhfach einen dicken Geldbeutel, den er dort liegen hatte. Er solle davon verwenden, so viel er brauche, und sich damit von anderen Verpflichtungen freihalten.
Tonke war betroffen, er konnte es kaum fassen, nahm aber das Angebot dankend an. Diese Großzügigkeit half ihm Zeit zu sparen und er würde, wenn er eifrig arbeitete, den Schriftsteller wieder treffen können, solange er sich noch in der Gegend aufhielt. Er wollte diese Gelegenheit nutzen und sich mit ihm noch eingehender austauschen.
Tonke hatte gleich erkannt, dass das ein besonderer Wagen war. Aber so richtig wurde ihm dies erst bewusst, als er mit dem schweren Gefährt auf dem engen Pfad im Wald fuhr. Es handelte sich, ungelogen, um einen Rolls Royce. Der Weg war zwar breit genug und er war auch nicht sumpfig. Trotzdem passte dieses strotzende Gefährt nicht so recht zu diesem Pfad. Komisch, dachte er, es ist als fordere der Wald ein schlichteres Fortbewegungsmittel als dieses.
Der gewundene Weg, den er gegangen und den er jetzt zurückfuhr, war gleichzeitig ein alter Passionsweg, der zur traditionsreichen Kapelle auf der Kuppe führte. Bei der vorletzten Station dieses Bußweges hielt Tonke an. Hier stand auch eine Herberge für Pilger, ein robustes Gebäude im Stil eines Jägerhauses. Hinter dem Haus war eine Lichtung, auf der eine ganz besondere Stimmung herrschte. Die Luft war von Feuchtigkeit gesättigt und von den Schatten des Waldes, der den begrenzten freien Raum nach allen Seiten hin umschloss, durchwoben.
In diesem Haus hatte Tonke die vermeintliche Endfassung erarbeitet. Hier hielt er auch jetzt und bezog Quartier, um eine verbesserte Version seines Buches zu schaffen. Dank dem unerschöpflichen Inhalt des Geldbeutels konnte er in ein größeres Zimmer umziehen und sich mit Vollpension, statt nur mit Halbpension verköstigen.
Trotz diesen Erleichterungen stellt sich die Überarbeitung seines Manuskripts – wie er nicht anders erwartet hatte – als ziemlich schwierig heraus. Es forderte wiederum seine ganzen Kräfte. Er musste sich das Ziel erst mal aus dem Kopf schlagen, um ganz in seiner Arbeit aufgehen zu können.
Andererseits musste er dem Schriftsteller Bescheid geben, dass es doch länger dauerte. Es galt auch abzuklären, wie lange er den Wagen noch behalten konnte.
Deshalb fuhr Tonke hoch zur Kuppe und von dort die lichte Seite des Berges hinab, zum Kulturzentrum am Hang. Dort residierte der berühmte Schriftsteller vorübergehend.

Der Gebäudekomplex bestand aus mehreren feudalen Bauten, die einen langen, rechteckigen Innenhof umschlossen. Das Erdgeschoss des langen Gebäudes linkerhand war von Arkaden untergliedert. Innendrin befand sich das Atrium mit dem spiralförmigen Modell seiner Plastik. Im rechten Trakt wohnte der Schriftsteller. Dort gab es auf der ganzen Länge nur einen Eingang.
Das Abpassen einer günstigen Gelegenheit, den Autor zu treffen, versetzte Tonke in eine nervöse Spannung. Er wusste, dass sich der Autor von der Öffentlichkeit möglichst fernhielt. Es hieß, er sei, als sein Roman Norwegian Wood zum Bestseller avancierte, für mehrere Jahre aus seinem Land geflüchtet, um einer Vereinnahmung durch die Medien und durch Neugierige auszuweichen. Bitter bemerkte Tonke, dass er jetzt auch einer von denen war, die versuchten die Aufmerksamkeit des Schriftstellers auf sich zu ziehen und ihn so von seiner Schreibtätigkeit ablenkten. Tonke nahm sich vor zu warten, bis der Autor von sich aus zu einem Gespräch unter die Arkaden kam. Man hatte ihm nämlich gesagt, dass der berühmte Schriftsteller sich gelegentlich dort zeige. Ein tieferes Gespräch sei jedoch bisher nicht zustande gekommen. Der gefeierte Autor sei äußerst zurückhaltend. Tonke meinte einen gewissen Unmut herauszuhören, der sich gegen den berühmten Gast angestaut hatte. Vielleicht war das unvermeidbar, wenn jemand, den man bisher aus der Ferne verehrt hatte, plötzlich zum Greifen nah vor einem stand.
Zufällig stieß Tonke aber schon davor auf den zurückhaltenden Schriftsteller. Er saß im überwölbten Eingang seines Wohntraktes. Tonke vermutete, dass er nicht mochte, spontan angesprochen zu werden. Aber warum zeigte er sich dann? Diese Gelegenheit musste er nutzen, schien ihm und er ging in die Öffnung hinein. Der Autor saß dort im Schneidersitz und hielt einen plastisch geformten Gegenstand in den Händen und betrachtete diesen, wie es schien. Der gewölbte Eingang war einige Meter tief. Tonke trat ein paar Schritte näher und beobachtete die Reaktion des Autors. Er schien ihn noch nicht bemerkt zu haben. Näherkommend sah er, dass hinter der Hand, die den Gegenstand hielt, ein aufgeschlagenes Buch lag. Der Schriftsteller betrachtete gar nicht den Gegenstand, sondern las in einem Buch. Klar, der Autor war Vielleser. Er sagte von sich, dass er unzählige Werke der Weltliteratur gelesen habe, manche sogar zweimal. Als Tonke das durchschaute, zog er sich schnell zurück. Trotzdem traf ihn noch ein abwehrender Blitz aus den Augen des Schriftstellers.

Endlich kam der Augenblick, da der Autor sich unter den Arkaden zeigte. Tonke freute sich, dass jetzt der Moment gekommen war, sich mit ihm auszutauschen. Als ein gutes Omen erachtete er, dass der Schriftsteller sich für die Spiralfigur interessierte, die Tonke dort aufgebaut hatte. Obwohl sie zu zwei Dritteln aus Styropor bestand und nur im oberen Bereich bekleidet war, stellte sich der Autor doch darunter und betrachtete sein riesiges Objekt, das einer Wendeltreppe nicht unähnlich war, eingehend. Er hatte wieder den Gegenstand dabei, den er beim Lesen in der Hand gedreht hatte. Erst jetzt erkannte Tonke, dass es ein Flügelteil seiner Spiralplastik war, das wohl heruntergefallen war. Die Anwesenden wurden unruhig. Sie warteten darauf, dass der Schriftsteller zum Austausch kam. Doch der ließ sich Zeit.
Schließlich kam er doch in die Runde.
Doch wie sich bald herausstellte, war ein Austausch kaum möglich. Sobald eine Frage formuliert wurde, verzog der Autor das Gesicht oder betrug sich wie eine Kratzbürste. Jetzt lernte auch Tonke seine Flausen kennen, vor denen man ihn schon gewarnt hatte. Aber Tonke bemerkte, dass es nicht bloß Launen waren, sondern eine heftige psychische Abwehrreaktion. Sein Gesicht wurde unwillkürlich zur Fratze verzogen und der Körper verformte sich. Das musste sehr schmerzhaft sein. Tonke fiel vor allem auf, dass er unter massiven Rückenschmerzen litt. Er kannte dies zu gut aus eigener Erfahrung.
Es regnete Kritik auf den sonst hochgelobten Schriftsteller. Warum er nicht offen rede? Was er mit solchen Sperenzien bezwecke? Ob ein Autor seiner Leserschaft nicht Rede und Antwort schuldig sei?
Tonke glaubte ihn in Schutz nehmen zu müssen und rief in die Runde. „Picasso said: Don’t talk to the pilot”
Dieser Satz brachte die Kritiker zum verstummen und führte dazu, dass der Autor sich ihm zuwandte. Um ihn weiter zu ermuntern, sagt er noch. „Sie sind für mich der wichtigste Autor überhaupt.“ Was nicht geschmeichelt war, sondern tatsächlich stimmte. Aber als er ihn fragte, ob er ein neues Projekt in Arbeit habe (nach 1Q84), reagierte er ihm gegenüber genau so brüsk wie gegen die anderen.
In den Verlagsbulletins stehe doch alles drin, sage er kurzangebunden.
Da sah Tonke, dass man mit ihm nicht warm werden konnte. Ein paar Worte hatten sie zwar gewechselt, doch zu wenige. Es lohnte sich für ihn nicht zu bleiben.
Der Autor bemerkte, dass er aufbrach und sagte in verbindlichem Ton. „Sie sind der erste, dem es gelungen ist, mir etwas mitzuteilen.“
Tonke fühlte sich geehrt. Der Meister hatte ihm geschmeichelt. Aber mehr als eine Floskel sah er darin nicht. (Erst später kam ihm der Gedanke, der Schriftsteller könnte das Flügelteil seiner Spiralplastik gemeint haben.)
Als er den Raum unter den Arkaden verließ, fiel ihm der Autoschlüssel ein. Er machte nochmal kehrt und überreichte dem Schriftsteller den Schlüssel und bedankte sich mit einer Verbeugung. Einen Moment hielt er inne und fragte sich, ob er auch an alles gedacht habe, was er von ihm erhalten hatte. Es war alles. Mehr war es nicht gewesen.
Vor dem Gebäude draußen strich er mit den Fingerspitzen nochmal über den dunkelgold gefärbten Wagen. Etwas wehmütig trennte er sich von diesem und stieg den Sonnenhang hoch. Bis zur Kuppe musste er laufen, dort hatte er vor ein paar Tagen, als er vom Wald kam, sein Fahrrad abgestellt. Aber als er auf dem Rad saß und den Waldweg hinunter fuhr, sog er tief den feuchten Duft des Waldes ein. Er war erleichtert. Das war doch ein viel passenderes Fortbewegungsmittel für diesen Pfad. In der Herberge wechselte er wieder in das kleine Zimmer und begnügte sich mit der sparsameren Essensvariante. Dies, obwohl er noch ein paar Scheine aus dem dicken Geldbeutel gehortet hatte, bevor er diesen wieder ins Handschuhfach zurücklegte. Bald würde ihn die Geldnot wieder in den Klauen halten. Aber solange sie ihm noch fernblieb, war er erleichtert kein gefeierter Autor zu sein. MLF

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