Wie Tonke von einem gefeierten Autor den Schlüssel zu einem Rolls
Royce erhielt, diesen dann aber freiwillig zurückgab.
Nach einem nicht enden wollenden Gang durch den feuchten,
dämmrigen Wald erreichte Tonke endlich die sonnige Höhe. Von hier aus konnte
er, zwischen vereinzelten Bäumen, deren Duft ihn umschwebte, den Blick in eine weite
Landschaft schweifen lassen. An einer schlichten, alten Kapelle vorbei steuerte
er auf die Gaststätte mit der Sonnenterrasse zu. Verstreut standen einige
Chalets, die nur an den Wochenenden und in den Ferien bewohnt waren. An diesem
schönen Ort hatte er schon öfters gerastet, wenn er ein Manuskript beendet
hatte.
Von der Terrasse aus war weiter unten am Hang eine Ansammlung von
alten Gebäuden zu sehen, die den Künstlern als Treff diente und ‚Kulturzentrum
am Hang‘ hieß. Tonke arbeitete gelegentlich dort. Im Atrium stand ein großes
Objekt von ihm, an dem er schon lange sich abmühte. Er war mit der monumentalen
Plastik bisher aber kaum aus dem Modellstadium herausgekommen.
An diesem Tag hatte das Erreichen der Höhe für ihn eine besondere
Überraschung parat. Er traf vor der Gaststätte einen Gast, der, wie schon an seinen
asiatischen Gesichtszügen zu erkennen war, eine weite Reise hinter sich hatte. Er
war der Verfasser anspruchsvoller Bücher, die trotz ihres schwierigen Inhalts
in der ganzen Welt gelesen wurden. Nachdem sie sich gegenseitig begrüßt und
Tonke sich vorgestellt hatte, schilderte er dem Autor die großen
Schwierigkeiten, mit denen er auf dem verworrenen Pfad im Wald zu ringen hatte.
Der Schriftsteller zeigte volles Verständnis. Er habe sich selber
oft durch den Wald schlagen müssen. Außerdem sei er beim Schreiben jeder seiner
Romane an einen Punkt geraten, an dem er geglaubt habe, verzweifeln zu müssen.
In diesen Worten, kam zum Ausdruck, welche Anstrengung der
Schriftsteller auf seine Bücher verwandte. Das führte dazu, dass Tonke sein
Manuskript nochmal durchlas und entgegen seinem früheren Dafürhalten eine
weitere Überarbeitung für nötig fand.
Der Schriftsteller bekräftigte ihn darin und bot ihm überraschend
seinen Wagen an. So würde er schneller zu seiner letzten Arbeitsstation zurückfinden
und zeitig wieder aus dem Wald hinaus sein können. Er ging ihm voraus zum
Parkplatz hinab, blieb bei einem kostbaren Wagen stehen und überreichte ihm den
Schlüssel. Überdies zeigte er ihm im Handschuhfach einen dicken Geldbeutel, den
er dort liegen hatte. Er solle davon verwenden, so viel er brauche, und sich damit
von anderen Verpflichtungen freihalten.
Tonke war betroffen, er konnte es kaum fassen, nahm aber das
Angebot dankend an. Diese Großzügigkeit half ihm Zeit zu sparen und er würde,
wenn er eifrig arbeitete, den Schriftsteller wieder treffen können, solange er
sich noch in der Gegend aufhielt. Er wollte diese Gelegenheit nutzen und sich
mit ihm noch eingehender austauschen.
Tonke hatte gleich erkannt, dass das ein besonderer Wagen war.
Aber so richtig wurde ihm dies erst bewusst, als er mit dem schweren Gefährt
auf dem engen Pfad im Wald fuhr. Es handelte sich, ungelogen, um einen Rolls
Royce. Der Weg war zwar breit genug und er war auch nicht sumpfig. Trotzdem
passte dieses strotzende Gefährt nicht so recht zu diesem Pfad. Komisch, dachte
er, es ist als fordere der Wald ein schlichteres Fortbewegungsmittel als
dieses.
Der gewundene Weg, den er gegangen und den er jetzt zurückfuhr,
war gleichzeitig ein alter Passionsweg, der zur traditionsreichen Kapelle auf
der Kuppe führte. Bei der vorletzten Station dieses Bußweges hielt Tonke an.
Hier stand auch eine Herberge für Pilger, ein robustes Gebäude im Stil eines
Jägerhauses. Hinter dem Haus war eine Lichtung, auf der eine ganz besondere
Stimmung herrschte. Die Luft war von Feuchtigkeit gesättigt und von den
Schatten des Waldes, der den begrenzten freien Raum nach allen Seiten hin
umschloss, durchwoben.
In diesem Haus hatte Tonke die vermeintliche Endfassung
erarbeitet. Hier hielt er auch jetzt und bezog Quartier, um eine verbesserte
Version seines Buches zu schaffen. Dank dem unerschöpflichen Inhalt des Geldbeutels
konnte er in ein größeres Zimmer umziehen und sich mit Vollpension, statt nur
mit Halbpension verköstigen.
Trotz diesen Erleichterungen stellt sich die Überarbeitung seines
Manuskripts – wie er nicht anders erwartet hatte – als ziemlich schwierig
heraus. Es forderte wiederum seine ganzen Kräfte. Er musste sich das Ziel erst
mal aus dem Kopf schlagen, um ganz in seiner Arbeit aufgehen zu können.
Andererseits musste er dem Schriftsteller Bescheid geben, dass es
doch länger dauerte. Es galt auch abzuklären, wie lange er den Wagen noch
behalten konnte.
Deshalb fuhr Tonke hoch zur Kuppe und von dort die lichte Seite
des Berges hinab, zum Kulturzentrum am Hang. Dort residierte der berühmte
Schriftsteller vorübergehend.
Der Gebäudekomplex bestand aus mehreren feudalen Bauten, die
einen langen, rechteckigen Innenhof umschlossen. Das Erdgeschoss des langen
Gebäudes linkerhand war von Arkaden untergliedert. Innendrin befand sich das
Atrium mit dem spiralförmigen Modell seiner Plastik. Im rechten Trakt wohnte
der Schriftsteller. Dort gab es auf der ganzen Länge nur einen Eingang.
Das Abpassen einer günstigen Gelegenheit, den Autor zu treffen,
versetzte Tonke in eine nervöse Spannung. Er wusste, dass sich der Autor von
der Öffentlichkeit möglichst fernhielt. Es hieß, er sei, als sein Roman Norwegian Wood zum Bestseller avancierte,
für mehrere Jahre aus seinem Land geflüchtet, um einer Vereinnahmung durch die
Medien und durch Neugierige auszuweichen. Bitter bemerkte Tonke, dass er jetzt auch
einer von denen war, die versuchten die Aufmerksamkeit des Schriftstellers auf
sich zu ziehen und ihn so von seiner Schreibtätigkeit ablenkten. Tonke nahm
sich vor zu warten, bis der Autor von sich aus zu einem Gespräch unter die
Arkaden kam. Man hatte ihm nämlich gesagt, dass der berühmte Schriftsteller
sich gelegentlich dort zeige. Ein tieferes Gespräch sei jedoch bisher nicht
zustande gekommen. Der gefeierte Autor sei äußerst zurückhaltend. Tonke meinte
einen gewissen Unmut herauszuhören, der sich gegen den berühmten Gast angestaut
hatte. Vielleicht war das unvermeidbar, wenn jemand, den man bisher aus der
Ferne verehrt hatte, plötzlich zum Greifen nah vor einem stand.
Zufällig stieß Tonke aber schon davor auf den zurückhaltenden
Schriftsteller. Er saß im überwölbten Eingang seines Wohntraktes. Tonke
vermutete, dass er nicht mochte, spontan angesprochen zu werden. Aber warum
zeigte er sich dann? Diese Gelegenheit musste er nutzen, schien ihm und er ging
in die Öffnung hinein. Der Autor saß dort im Schneidersitz und hielt einen
plastisch geformten Gegenstand in den Händen und betrachtete diesen, wie es schien.
Der gewölbte Eingang war einige Meter tief. Tonke trat ein paar Schritte näher
und beobachtete die Reaktion des Autors. Er schien ihn noch nicht bemerkt zu
haben. Näherkommend sah er, dass hinter der Hand, die den Gegenstand hielt, ein
aufgeschlagenes Buch lag. Der Schriftsteller betrachtete gar nicht den
Gegenstand, sondern las in einem Buch. Klar, der Autor war Vielleser. Er sagte
von sich, dass er unzählige Werke der Weltliteratur gelesen habe, manche sogar
zweimal. Als Tonke das durchschaute, zog er sich schnell zurück. Trotzdem traf
ihn noch ein abwehrender Blitz aus den Augen des Schriftstellers.
Endlich kam der Augenblick, da der Autor sich unter den Arkaden
zeigte. Tonke freute sich, dass jetzt der Moment gekommen war, sich mit ihm
auszutauschen. Als ein gutes Omen erachtete er, dass der Schriftsteller sich
für die Spiralfigur interessierte, die Tonke dort aufgebaut hatte. Obwohl sie zu
zwei Dritteln aus Styropor bestand und nur im oberen Bereich bekleidet war,
stellte sich der Autor doch darunter und betrachtete sein riesiges Objekt, das
einer Wendeltreppe nicht unähnlich war, eingehend. Er hatte wieder den
Gegenstand dabei, den er beim Lesen in der Hand gedreht hatte. Erst jetzt
erkannte Tonke, dass es ein Flügelteil seiner Spiralplastik war, das wohl
heruntergefallen war. Die Anwesenden wurden unruhig. Sie warteten darauf, dass
der Schriftsteller zum Austausch kam. Doch der ließ sich Zeit.
Schließlich kam er doch in die Runde.
Doch wie sich bald herausstellte, war ein Austausch kaum möglich.
Sobald eine Frage formuliert wurde, verzog der Autor das Gesicht oder betrug
sich wie eine Kratzbürste. Jetzt lernte auch Tonke seine Flausen kennen, vor
denen man ihn schon gewarnt hatte. Aber Tonke bemerkte, dass es nicht bloß
Launen waren, sondern eine heftige psychische Abwehrreaktion. Sein Gesicht
wurde unwillkürlich zur Fratze verzogen und der Körper verformte sich. Das
musste sehr schmerzhaft sein. Tonke fiel vor allem auf, dass er unter massiven
Rückenschmerzen litt. Er kannte dies zu gut aus eigener Erfahrung.
Es regnete Kritik auf den sonst hochgelobten Schriftsteller.
Warum er nicht offen rede? Was er mit solchen Sperenzien bezwecke? Ob ein Autor
seiner Leserschaft nicht Rede und Antwort schuldig sei?
Tonke glaubte ihn in Schutz nehmen zu müssen und rief in die
Runde. „Picasso said: Don’t talk to the pilot”
Dieser Satz brachte die Kritiker zum verstummen und führte dazu,
dass der Autor sich ihm zuwandte. Um ihn weiter zu ermuntern, sagt er noch.
„Sie sind für mich der wichtigste Autor überhaupt.“ Was nicht geschmeichelt
war, sondern tatsächlich stimmte. Aber als er ihn fragte, ob er ein neues
Projekt in Arbeit habe (nach 1Q84), reagierte er ihm gegenüber genau so brüsk
wie gegen die anderen.
In den Verlagsbulletins stehe doch alles drin, sage er
kurzangebunden.
Da sah Tonke, dass man mit ihm nicht warm werden konnte. Ein paar
Worte hatten sie zwar gewechselt, doch zu wenige. Es lohnte sich für ihn nicht
zu bleiben.
Der Autor bemerkte, dass er aufbrach und sagte in verbindlichem
Ton. „Sie sind der erste, dem es gelungen ist, mir etwas mitzuteilen.“
Tonke fühlte sich geehrt. Der Meister hatte ihm geschmeichelt.
Aber mehr als eine Floskel sah er darin nicht. (Erst später kam ihm der
Gedanke, der Schriftsteller könnte das Flügelteil seiner Spiralplastik gemeint
haben.)
Als er den Raum unter den Arkaden verließ, fiel ihm der
Autoschlüssel ein. Er machte nochmal kehrt und überreichte dem Schriftsteller
den Schlüssel und bedankte sich mit einer Verbeugung. Einen Moment hielt er
inne und fragte sich, ob er auch an alles gedacht habe, was er von ihm erhalten
hatte. Es war alles. Mehr war es nicht gewesen.
Vor dem Gebäude draußen strich er mit den Fingerspitzen nochmal
über den dunkelgold gefärbten Wagen. Etwas wehmütig trennte er sich von diesem
und stieg den Sonnenhang hoch. Bis zur Kuppe musste er laufen, dort hatte er
vor ein paar Tagen, als er vom Wald kam, sein Fahrrad abgestellt. Aber als er
auf dem Rad saß und den Waldweg hinunter fuhr, sog er tief den feuchten Duft
des Waldes ein. Er war erleichtert. Das war doch ein viel passenderes Fortbewegungsmittel
für diesen Pfad. In der Herberge wechselte er wieder in das kleine Zimmer und begnügte
sich mit der sparsameren Essensvariante. Dies, obwohl er noch ein paar Scheine
aus dem dicken Geldbeutel gehortet hatte, bevor er diesen wieder ins
Handschuhfach zurücklegte. Bald würde ihn die Geldnot wieder in den Klauen
halten. Aber solange sie ihm noch fernblieb, war er erleichtert kein gefeierter
Autor zu sein. MLF
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