Mittwoch, 19. September 2012

99 Krebsdisposition



Wendys viertes virtuelles Abenteuer

Die virtuelle Welt ermöglichte ihm, in der Wohnung eines Dichters zu leben. Und zwar im x-ten Arrondissement südwestlich von Paris. Da wo auch der Poet wohnte, der den Satz geprägt hat, der Leser, nicht der Dichter sei die eigentliche Instanz der Literatur und auf die Frage, wie er sich seinen Leser vorstelle, ergänzte, er denke sich als Leser.
Im Hof wuchsen an Spalieren satt gelbe Äpfel, Golden Delicious. In der Reife so fortgeschritten, dass die Haut schon leicht runzelig schien und kein bisschen Grün mehr durchschimmerte. Eigentlich eine unnatürliche Farbe für Äpfel, so ein reines Gelb, dachte Wendy. Und doch hoffte er, in einem Moment, da niemand im Hof war, einen probieren zu können.
Die Wohnung befand sich im dritten Stock und war sehr geräumig. Die Stube, mit einfachen, aber geschmacksvollen Möbeln eingerichtet, war so gut wie ungenutzt. Dagegen standen in der Küche mehrere Tisch voll mit Gegenständen. Wendy musste, als er dies sah, an die vielen Notizen denken, die sich nach den wenigen Tagen in der virtuellen Welt schon bei ihm angesammelt hatten. Um ins Bad zu gelangen, das hinter der Küche lag, musste er erst einen der Tische etwas zur Seite rücken. Er war aber voller Optimismus und dachte, in die Wohnung eines Schriftstellers würden bestimmt bald Gäste kommen. Deshalb ging er in die Stube und fing an, den Holztisch zu decken. Der Tisch war exakt quadratisch. Auf jeder Seite platzierte er drei Gedecke und freute sich, dass so zwölf seiner Gäste bewirtet werden könnten. Bei genauerer Betrachtung, zeigte sich aber, dass die Seite für drei Gäste zu kurz war. Also begnügte er sich damit, acht Gäste bewirten zu können. Mit einem Ohr offen für die Klingel kehrte er in die Küche zurück. Doch es ging nicht die Türklingel, sondern das Telefon.
Seine Tochter Sally. Wo bliebt ihr denn? Ihr wolltet doch kommen.
Es blieb still in der Leitung.
Ein schlechtes Omen. Was ist? Geht es dir nicht gut?
Schließlich rückte sie raus damit. „Krebsuntersuchung.“
Der Schreck fuhr ihm in die Glieder. Die große Angst, dass sich Zellen unkontrolliert vermehren könnten, holte ihn wieder ein. Er hielt sich für gefährdet und folglich auch seine Tochter.
„Eine Untersuchung nur“, sagte sie. Aber sie wünschte, dass er dabei sei.

Das Anästhesie-Zentrum. In der virtuellen Welt war das ein Raum wie ein großes Wartezimmer. Sally erwartete ihn. Er nahm sie zur Begrüßung in den Arm. Sie wirkte ängstlich.
„Hast du Grund zur Befürchtung?“, fragte er.
Sie hob zaghaft die Schultern.
Die eine Seite des Raumes nahm ein riesiger Automat ein. Der Eingang für die Patientin sah einem Passbildautomaten täuschend ähnlich. Sally schlüpfte durch den schwarzen Vorhang hinein und setzte sich dahinter. Kaum saß sie drin, fing das Gerät an zu schwingen und leise Geräusche von sich zu geben. Am Display wurden die ersten Zeilen sichtbar. Klein und in einer maschinellen Schrift, wie auf Endlospapier gedrucktes. Nach der ICD10 – Klassifikation aufgelistete Krankheiten mit Disposition von Sally. Wendy versuchte die Zeilen zu lesen und sich die Werte zu merken, aber es war unmöglich.
C50 Bösartige Neubildung der Brustdrüse ……… D - 0,0212
C51 Bösartige Neubildung der Labia majora pudendi ……… D - 0,0012
C76 Bösartige Neubildung der Achselhöhle, Thoraxkarzinom, Oberarmkarzinom ……… D - 0,0013
Die Ausdrücke waren ihm fremd und die Zeilen rückten viel zu schnell voran. Irgendwo musste es doch eine Möglichkeit geben, die Ergebnisse auszudrucken. Er war erst beruhigt, als er weiter oben eine Taste fand, die aufrecht ausgerichtet war und auf der senkrecht ‚Druck‘ stand. Ihm kam die Zeit sehr lange vor.
Endlich trat Sally leicht benommen aus dem Vorhang hervor. Der Automat ratterte in gleicher Weise weiter und schrieb Zeile um Zeile. Sally schien erleichtert. Der ängstliche Ausdruck war gewichen. Schließlich verstummte der Apparat und die Taste ‚Druck‘ blinkte rot auf. Er drückte mit dem Daumen darauf. Kurze Zeit später rutschte ein Heft in die Ausgabe-Öffnung. Sally hob es heraus. Innendrin war eine farbige Broschüre gesteckt. Sie interessierte sich mehr für diese. Es war das Werbeblatt einer indischen Gemeinschaft. Sally setzte sich in einen Stuhl. Er setzte sich daneben. Sie reichte ihm das Dossier. Selber fing sie an in der indischen Broschüre zu lesen. Das Dossier war mindestens fünf Seiten stark, klein gedruckt. Jede mögliche krebsartige Erkrankung mit Disposition der Patientin. Wendy ging die Zeilen durch. Aber wie schon am Bildschirm konnte er damit nicht viel anfangen.
C72.1 Bösartige Neubildung Cauda equina ……… D - 0,0212
C72.2 Bösartige Neubildung Nn. Olfactorii inkl. Bulbus olfatrius ……… D - 0,0213
C72.3 Bösartige Neubildung N. opticus ……… D - 0,0114
Sally sah auf. Hast du gewusst, dass man durch Verzicht, die meisten Gefährdungen umgehen kann?
Wendy nickte. Eine alte Technik. Die Inder sind Meister darin. Wenn man sich aufs Leben gar nicht erst einlässt, hat man auch wenig zu verlieren –oder gar nichts.
Und was ist damit?, fragte Wendy.
Statt zu antworten, nahm ihm Sally das Dossier ab und steckte es achtlos in ihre Tasche.
Wozu die ganze Aufregung, wenn du die Liste gar nicht anschaust, fragte Wendy. Es gelang ihm nicht den Ärger in der Stimme zu unterdrücken. Die Angst steckte ihm noch immer in den Gliedern. Es gefiel ihm nicht, dass seine Tochter wegen dieser farbigen Broschüre die Untersuchung vergaß.
Doch seine Tochter, die diese Untersuchung anscheinend nicht zum ersten Mal über sich ergehen ließ, klärte ihn auf. „Hätte in einem Wert die Disposition das zulässige Maß überschritten, dann hätte der Automat Alarmzeichen erklungen und die Zeilen wären rot markiert, sagte sie lässig.“
Wendy griff in die Tasche und holte das Dossier nochmal hervor und überflog hastig die Seiten. Erleichtert stellte er fest, dass nirgends rote Zeilen zu sehen waren. Warum dann in den Laden gehen?
Vorkehren ist besser. Sally bestand darauf, sofort in den Laden zu gehen, den die indische Gemeinschaft betrieb. Wie Töchter so sind, sie lassen nicht mit sich reden.
- Immerhin war in der virtuellen Welt das mühsame sich mit dem Auto durch die Stadt schlagen und die nervenaufreibende Parkplatzsuche nicht nötig –
Sie befanden sich schon im indischen Laden und Sally hatte ihren Korb schon voller Wurzeln und wog jede Art einzeln ab. Er musste zugeben, das Wurzelgemüse sah sehr appetitlich aus – Gesundheit pur. Schließlich verließen sie mit einer vollen Tüte die Kasse.

Irgendwie schien Wendy dieses indische Gemüse nicht zu bekommen. Als er sich im Schlafzimmer des Dichters aufs Bett setzte, machte sich eine unförmige Frau an ihn ran. Sie hatte sich ein argloses, kindliches Gemüt bewahrt und verspürte großes Bedürfnis berührt zu werden. Wendy wollte dieses unschuldige Wesen nicht zurückweisen und kam ihrem Körper wohl etwas zu nah. Mit fatalen Folgen, wie sich schon bald zeigen sollte.
Die virtuelle Welt hielt also auch Tücken bereit, nicht nur Erleichterungen.
Seine Tochter und ihre Kinder, die zu ihm gezogen waren, hielten sich draußen auf dem Balkon auf. Er wunderte sich, dass sie so ruhig waren und schaute nach. Sie spielten mit seltsamen Lebewesen. Tiere, die aus der Tiefsee oder aus einem ihm unbekannten Bereich der virtuellen Welt zu stammen schienen. Ihre Formen waren sehr ausgeprägt. Aber sie waren allesamt farblos, fast durchsichtig wie Seepferdchen. Jedes der Kinder und auch seine Tochter spielten mit einem der Wesen. Die meisten sahen aus wie tellergroße Ufos. Einzelne waren aber auch kleiner und aufrecht wie zu dick geratene Schachfiguren. Aber allen fehlte ganz und gar die Farbe. Wendy war erzürnt. Er verbot der Tochter und den Kleinen mit diesen Tieren zu spielen und wollte mit dem Spuk aufräumen Doch sie ließen sich nicht abhalten. Sie waren im Gegenteil ganz vernarrt in diese sonderbaren Wesen.
Lass sie. Schau doch wie süß sie sind, sagte Sally. Sie sind anhänglich.
Weg mit ihnen, rief er.
Tu ihnen ja nichts. Und als er beharrte, rief sie. Du bist ein Unhold, geh weg. Die Kinder schrien.
Er konnte nichts ausrichten. Nachdem er die erste Abscheu überwunden hatte, musste er zugeben, dass sie auch auf ihn eine gewisse Faszination ausübten. Am meisten aber beeindruckte ihn, wie gut die Enkelkinder jetzt beschäftigt waren.
Wendy spürte, dass es Zeit war diese schönen Räume, wie sie sonst nur Dichter bewohnen, zu verlassen. Er hatte, wie Muse gesagt hatte, seinen Schwerpunkt doch im Reellen und musste zurück. Er packte die Gegenstände ein, die er für die Reise schon bereit gelegt hatte. Gerne hätte er auch einen der gelben Äpfel aus dem Hof mitgebracht. Aber er wusste nicht, wie er da runter kommen konnte. Manches ging viel einfacher in der virtuellen Welt. Anderes dagegen, das in der reellen Welt ein Kinderspiel war, erwies sich hier als unmöglich.

Mit seinem Koffer landete er an einem alten, verratzten Bahnhof, der noch im dichten Wald drin lag. Weit konnte es nicht sein bis zur Stadt. Dieser Bahnhof schien seit Urzeiten nicht mehr benutzt worden zu sein. Eine Geisterstation des Wilden Westens hätte er gesagt, wenn er sich nicht zwischen Bäumen befunden hätte. Es fehlte jede Infrastruktur, keine Träger, keine Taxis, keine Busse. Notgedrungen ließ er seinen Koffer, der plötzlich untragbar schwer geworden war, stehen und ging erst mal zu Fuß los.
Er hatte ein Stück Wald zu durchqueren, bei dem Baum an Baum so dicht standen, dass er sich kaum hindurch zwängen konnte. Kein Zweifel, dass diese absichtlich so gepflanzt worden war. Niemand sollte von der Stadt aus den Bahnhof im Wald sehen können. (Und vielleicht auf die Idee kommen, diesen wieder nutzbar machen zu wollen. Und das bei der leeren Stadtkasse) Groß war die Distanz nicht, ein zwei-, dreihundert Meter nur. Aber wie sollte er die schweren Koffer durch die engen Stämme schaffen.
Wendy war ratlos. Er könnte den Koffer liegenlassen. In diesem verlassenen Bahnhof würde er niemanden stören. Nur zwei Schritte und er befände sich außerhalb des Waldes. Direkt dahinter sah er die Umrisse des modernen Bahnhofs. Aber so einfach wollte er sich’s nicht machen.
Also ging er im Bogen zurück. Irgendwie musste sich doch ein Weg finden, seinen Koffer ins Freie zu bekommen.
Auf dem Rückweg durch den Wald stieß er auf Brisette, eine alte Bekannte, der er lieber aus dem Weg gegangen wäre. Sie war vom Typ jener Enthusiasten, die glaubten mit ihren Fürzen die Welt retten zu können. Ihr Markenzeichen war eine Stirnfranse, die über die Augen reichte.
Was machst du für ein Gesicht?, herrschte sie ihn mit kehliger Stimme an.
Er schilderte ihr seine Notlage.
Genau dafür habe ich gesorgt, sagte sie triumphierend und führte ihn zu einer Schneise im Wald von der Nähe des verlassenen Bahnhofs bis an den Rand der Stadt. Durch diese zog sich ein Fließband, das sie durch drehen des Schalters zum Laufen brachte. Das Laufband aus schwarzem Gummi hatte Brisette mit hellen Kacheln versehen. Sie waren in der Größe alle exakt gleich.
Und was willst du dafür, fragte er misstrauisch.
Was hast du denn mitgebracht aus der virtuellen Welt?, fragte sie begierig.
Wendy öffnete seinen Koffer. Zum Vorschein kamen lauter Kacheln. Sie griff schnell hinein und breitete sie auf der Ablage aus. Sie suchte sich die hellen aus und legte die dunklen zur Seite. Dann ließ sie das Band laufen, bis zu der Stelle, an der noch Kacheln fehlten. Sie nahm etwas Leim und bevor Wendy sich wehren konnte, klebte sie die Ausgewählten aufs Band. Als er ernüchtert die Dunkeln einpacken wollte, kam Brisette ihm zuvor. Mit einer kraftvollen Bewegung, die er ihr gar nicht zugetraut hätte, wischte sie die dunklen Kacheln vom Tisch, wo sie auf einen Haufen von Scherben fielen.
Jetzt sind sie zerbrochen und mein Koffer ist leer, rief Wendy entrüstet aus.
Aber sie lachte ihn nur aus. Die sind wertlos. Wer will denn so dunkle Kacheln. Die hätte dir eh niemand abgekauft.
Sie setzte das Fließband in Gang und wollte seinen Koffer darauf stellen. Er aber riss ihn an sich und ging davon, ohne noch ein Wort zu sagen. Er schimpfte auf sich selber, dass er sich auf diese Enthusiastin eingelassen hatte. MLF

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