Wendys viertes virtuelles
Abenteuer
Die virtuelle Welt ermöglichte ihm, in der Wohnung eines Dichters
zu leben. Und zwar im x-ten Arrondissement südwestlich von Paris. Da wo auch
der Poet wohnte, der den Satz geprägt hat, der
Leser, nicht der Dichter sei die eigentliche Instanz der Literatur und auf
die Frage, wie er sich seinen Leser vorstelle, ergänzte, er denke sich als Leser.
Im Hof wuchsen an Spalieren satt gelbe Äpfel, Golden Delicious.
In der Reife so fortgeschritten, dass die Haut schon leicht runzelig schien und
kein bisschen Grün mehr durchschimmerte. Eigentlich eine unnatürliche Farbe für
Äpfel, so ein reines Gelb, dachte Wendy. Und doch hoffte er, in einem Moment,
da niemand im Hof war, einen probieren zu können.
Die Wohnung befand sich im dritten Stock und war sehr geräumig.
Die Stube, mit einfachen, aber geschmacksvollen Möbeln eingerichtet, war so gut
wie ungenutzt. Dagegen standen in der Küche mehrere Tisch voll mit
Gegenständen. Wendy musste, als er dies sah, an die vielen Notizen denken, die
sich nach den wenigen Tagen in der virtuellen Welt schon bei ihm angesammelt
hatten. Um ins Bad zu gelangen, das hinter der Küche lag, musste er erst einen
der Tische etwas zur Seite rücken. Er war aber voller Optimismus und dachte, in
die Wohnung eines Schriftstellers würden bestimmt bald Gäste kommen. Deshalb
ging er in die Stube und fing an, den Holztisch zu decken. Der Tisch war exakt
quadratisch. Auf jeder Seite platzierte er drei Gedecke und freute sich, dass
so zwölf seiner Gäste bewirtet werden könnten. Bei genauerer Betrachtung,
zeigte sich aber, dass die Seite für drei Gäste zu kurz war. Also begnügte er
sich damit, acht Gäste bewirten zu können. Mit einem Ohr offen für die Klingel
kehrte er in die Küche zurück. Doch es ging nicht die Türklingel, sondern das
Telefon.
Seine Tochter Sally. Wo bliebt ihr denn? Ihr wolltet doch kommen.
Es blieb still in der Leitung.
Ein schlechtes Omen. Was ist? Geht es dir nicht gut?
Schließlich rückte sie raus damit. „Krebsuntersuchung.“
Der Schreck fuhr ihm in die Glieder. Die große Angst, dass sich
Zellen unkontrolliert vermehren könnten, holte ihn wieder ein. Er hielt sich
für gefährdet und folglich auch seine Tochter.
„Eine Untersuchung nur“, sagte sie. Aber sie wünschte, dass er
dabei sei.
Das Anästhesie-Zentrum. In der virtuellen Welt war das ein Raum
wie ein großes Wartezimmer. Sally erwartete ihn. Er nahm sie zur Begrüßung in
den Arm. Sie wirkte ängstlich.
„Hast du Grund zur Befürchtung?“, fragte er.
Sie hob zaghaft die Schultern.
Die eine Seite des Raumes nahm ein riesiger Automat ein. Der
Eingang für die Patientin sah einem Passbildautomaten täuschend ähnlich. Sally
schlüpfte durch den schwarzen Vorhang hinein und setzte sich dahinter. Kaum saß
sie drin, fing das Gerät an zu schwingen und leise Geräusche von sich zu geben.
Am Display wurden die ersten Zeilen sichtbar. Klein und in einer maschinellen
Schrift, wie auf Endlospapier gedrucktes. Nach der ICD10 – Klassifikation
aufgelistete Krankheiten mit Disposition von Sally. Wendy versuchte die Zeilen
zu lesen und sich die Werte zu merken, aber es war unmöglich.
…
C50 Bösartige Neubildung der Brustdrüse ……… D - 0,0212
C51 Bösartige Neubildung der Labia majora pudendi ……… D - 0,0012
C76 Bösartige Neubildung der Achselhöhle, Thoraxkarzinom, Oberarmkarzinom
……… D - 0,0013
…
Die Ausdrücke waren ihm fremd und die Zeilen rückten viel zu
schnell voran. Irgendwo musste es doch eine Möglichkeit geben, die Ergebnisse
auszudrucken. Er war erst beruhigt, als er weiter oben eine Taste fand, die aufrecht
ausgerichtet war und auf der senkrecht ‚Druck‘ stand. Ihm kam die Zeit sehr
lange vor.
Endlich trat Sally leicht benommen aus dem Vorhang hervor. Der
Automat ratterte in gleicher Weise weiter und schrieb Zeile um Zeile. Sally
schien erleichtert. Der ängstliche Ausdruck war gewichen. Schließlich
verstummte der Apparat und die Taste ‚Druck‘ blinkte rot auf. Er drückte mit
dem Daumen darauf. Kurze Zeit später rutschte ein Heft in die Ausgabe-Öffnung.
Sally hob es heraus. Innendrin war eine farbige Broschüre gesteckt. Sie
interessierte sich mehr für diese. Es war das Werbeblatt einer indischen
Gemeinschaft. Sally setzte sich in einen Stuhl. Er setzte sich daneben. Sie
reichte ihm das Dossier. Selber fing sie an in der indischen Broschüre zu
lesen. Das Dossier war mindestens fünf Seiten stark, klein gedruckt. Jede
mögliche krebsartige Erkrankung mit Disposition der Patientin. Wendy ging die
Zeilen durch. Aber wie schon am Bildschirm konnte er damit nicht viel anfangen.
…
C72.1 Bösartige Neubildung Cauda equina ……… D - 0,0212
C72.2 Bösartige Neubildung Nn. Olfactorii inkl. Bulbus
olfatrius ……… D - 0,0213
C72.3 Bösartige Neubildung N. opticus ……… D - 0,0114
…
Sally sah auf. Hast du gewusst, dass man durch Verzicht, die
meisten Gefährdungen umgehen kann?
Wendy nickte. Eine alte Technik. Die Inder sind Meister darin.
Wenn man sich aufs Leben gar nicht erst einlässt, hat man auch wenig zu
verlieren –oder gar nichts.
Und was ist damit?, fragte Wendy.
Statt zu antworten, nahm ihm Sally das Dossier ab und steckte es
achtlos in ihre Tasche.
Wozu die ganze Aufregung, wenn du die Liste gar nicht anschaust, fragte
Wendy. Es gelang ihm nicht den Ärger in der Stimme zu unterdrücken. Die Angst
steckte ihm noch immer in den Gliedern. Es gefiel ihm nicht, dass seine Tochter
wegen dieser farbigen Broschüre die Untersuchung vergaß.
Doch seine Tochter, die diese Untersuchung anscheinend nicht zum
ersten Mal über sich ergehen ließ, klärte ihn auf. „Hätte in einem Wert die
Disposition das zulässige Maß überschritten, dann hätte der Automat
Alarmzeichen erklungen und die Zeilen wären rot markiert, sagte sie lässig.“
Wendy griff in die Tasche und holte das Dossier nochmal hervor
und überflog hastig die Seiten. Erleichtert stellte er fest, dass nirgends rote
Zeilen zu sehen waren. Warum dann in den Laden gehen?
Vorkehren ist besser. Sally bestand darauf, sofort in den Laden
zu gehen, den die indische Gemeinschaft betrieb. Wie Töchter so sind, sie
lassen nicht mit sich reden.
- Immerhin war in der virtuellen Welt das mühsame sich mit dem
Auto durch die Stadt schlagen und die nervenaufreibende Parkplatzsuche nicht
nötig –
Sie befanden sich schon im indischen Laden und Sally hatte ihren
Korb schon voller Wurzeln und wog jede Art einzeln ab. Er musste zugeben, das
Wurzelgemüse sah sehr appetitlich aus – Gesundheit pur. Schließlich verließen
sie mit einer vollen Tüte die Kasse.
Irgendwie schien Wendy dieses indische Gemüse nicht zu bekommen.
Als er sich im Schlafzimmer des Dichters aufs Bett setzte, machte sich eine
unförmige Frau an ihn ran. Sie hatte sich ein argloses, kindliches Gemüt
bewahrt und verspürte großes Bedürfnis berührt zu werden. Wendy wollte dieses
unschuldige Wesen nicht zurückweisen und kam ihrem Körper wohl etwas zu nah.
Mit fatalen Folgen, wie sich schon bald zeigen sollte.
Die virtuelle Welt hielt also auch Tücken bereit, nicht nur
Erleichterungen.
Seine Tochter und ihre Kinder, die zu ihm gezogen waren, hielten
sich draußen auf dem Balkon auf. Er wunderte sich, dass sie so ruhig waren und
schaute nach. Sie spielten mit seltsamen Lebewesen. Tiere, die aus der Tiefsee
oder aus einem ihm unbekannten Bereich der virtuellen Welt zu stammen schienen.
Ihre Formen waren sehr ausgeprägt. Aber sie waren allesamt farblos, fast
durchsichtig wie Seepferdchen. Jedes der Kinder und auch seine Tochter spielten
mit einem der Wesen. Die meisten sahen aus wie tellergroße Ufos. Einzelne waren
aber auch kleiner und aufrecht wie zu dick geratene Schachfiguren. Aber allen
fehlte ganz und gar die Farbe. Wendy war erzürnt. Er verbot der Tochter und den
Kleinen mit diesen Tieren zu spielen und wollte mit dem Spuk aufräumen Doch sie
ließen sich nicht abhalten. Sie waren im Gegenteil ganz vernarrt in diese
sonderbaren Wesen.
Lass sie. Schau doch wie süß sie sind, sagte Sally. Sie sind
anhänglich.
Weg mit ihnen, rief er.
Tu ihnen ja nichts. Und als er beharrte, rief sie. Du bist ein
Unhold, geh weg. Die Kinder schrien.
Er konnte nichts ausrichten. Nachdem er die erste Abscheu
überwunden hatte, musste er zugeben, dass sie auch auf ihn eine gewisse
Faszination ausübten. Am meisten aber beeindruckte ihn, wie gut die Enkelkinder
jetzt beschäftigt waren.
Wendy spürte, dass es Zeit war diese schönen Räume, wie sie sonst
nur Dichter bewohnen, zu verlassen. Er hatte, wie Muse gesagt hatte, seinen Schwerpunkt
doch im Reellen und musste zurück. Er packte die Gegenstände ein, die er für
die Reise schon bereit gelegt hatte. Gerne hätte er auch einen der gelben Äpfel
aus dem Hof mitgebracht. Aber er wusste nicht, wie er da runter kommen konnte.
Manches ging viel einfacher in der virtuellen Welt. Anderes dagegen, das in der
reellen Welt ein Kinderspiel war, erwies sich hier als unmöglich.
Mit seinem Koffer landete er an einem alten, verratzten Bahnhof,
der noch im dichten Wald drin lag. Weit konnte es nicht sein bis zur Stadt.
Dieser Bahnhof schien seit Urzeiten nicht mehr benutzt worden zu sein. Eine
Geisterstation des Wilden Westens hätte er gesagt, wenn er sich nicht zwischen
Bäumen befunden hätte. Es fehlte jede Infrastruktur, keine Träger, keine Taxis,
keine Busse. Notgedrungen ließ er seinen Koffer, der plötzlich untragbar schwer
geworden war, stehen und ging erst mal zu Fuß los.
Er hatte ein Stück Wald zu durchqueren, bei dem Baum an Baum so
dicht standen, dass er sich kaum hindurch zwängen konnte. Kein Zweifel, dass
diese absichtlich so gepflanzt worden war. Niemand sollte von der Stadt aus den
Bahnhof im Wald sehen können. (Und vielleicht auf die Idee kommen, diesen
wieder nutzbar machen zu wollen. Und das bei der leeren Stadtkasse) Groß war
die Distanz nicht, ein zwei-, dreihundert Meter nur. Aber wie sollte er die
schweren Koffer durch die engen Stämme schaffen.
Wendy war ratlos. Er könnte den Koffer liegenlassen. In diesem
verlassenen Bahnhof würde er niemanden stören. Nur zwei Schritte und er befände
sich außerhalb des Waldes. Direkt dahinter sah er die Umrisse des modernen
Bahnhofs. Aber so einfach wollte er sich’s nicht machen.
Also ging er im Bogen zurück. Irgendwie musste sich doch ein Weg
finden, seinen Koffer ins Freie zu bekommen.
Auf dem Rückweg durch den Wald stieß er auf Brisette, eine alte
Bekannte, der er lieber aus dem Weg gegangen wäre. Sie war vom Typ jener
Enthusiasten, die glaubten mit ihren Fürzen die Welt retten zu können. Ihr
Markenzeichen war eine Stirnfranse, die über die Augen reichte.
Was machst du für ein Gesicht?, herrschte sie ihn mit kehliger
Stimme an.
Er schilderte ihr seine Notlage.
Genau dafür habe ich gesorgt, sagte sie triumphierend und führte
ihn zu einer Schneise im Wald von der Nähe des verlassenen Bahnhofs bis an den
Rand der Stadt. Durch diese zog sich ein Fließband, das sie durch drehen des
Schalters zum Laufen brachte. Das Laufband aus schwarzem Gummi hatte Brisette
mit hellen Kacheln versehen. Sie waren in der Größe alle exakt gleich.
Und was willst du dafür, fragte er misstrauisch.
Was hast du denn mitgebracht aus der virtuellen Welt?, fragte sie
begierig.
Wendy öffnete seinen Koffer. Zum Vorschein kamen lauter Kacheln.
Sie griff schnell hinein und breitete sie auf der Ablage aus. Sie suchte sich
die hellen aus und legte die dunklen zur Seite. Dann ließ sie das Band laufen,
bis zu der Stelle, an der noch Kacheln fehlten. Sie nahm etwas Leim und bevor
Wendy sich wehren konnte, klebte sie die Ausgewählten aufs Band. Als er
ernüchtert die Dunkeln einpacken wollte, kam Brisette ihm zuvor. Mit einer
kraftvollen Bewegung, die er ihr gar nicht zugetraut hätte, wischte sie die
dunklen Kacheln vom Tisch, wo sie auf einen Haufen von Scherben fielen.
Jetzt sind sie zerbrochen und mein Koffer ist leer, rief Wendy
entrüstet aus.
Aber sie lachte ihn nur aus. Die sind wertlos. Wer will denn so
dunkle Kacheln. Die hätte dir eh niemand abgekauft.
Sie setzte das Fließband in Gang und wollte seinen Koffer darauf
stellen. Er aber riss ihn an sich und ging davon, ohne noch ein Wort zu sagen.
Er schimpfte auf sich selber, dass er sich auf diese Enthusiastin eingelassen
hatte. MLF
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen