Der Wunsch, sich eine Zeitung zu besorgen, trieb ihn nach
draußen. Durch einen breiten, flachen Tunneleingang geriet Toni in einen großen
Raum. Gemessen an der Weite der Fläche war die Decke sehr niedrig. Wie ein
horizontaler Schnitt im Berg, so kam ihm der Raum vor. Er dachte an die
Ausgrabungen alter Städte, bei denen mit jeder Schicht eine andere Zeit zum
Vorschein kam. Dieser Raum hier entspricht unserer Zeit, sagte er sich. Er sah
keinen Menschen, bis ihm ein Zeitungsverkäufer entgegenkam.
Die Tatzen-Zeitung abonnieren, die Zeitung für Studenten, sehr
günstig, rief ihm der Händler zu.
‚Tatz‘, das ist doch meine Zeitung, dachte Toni und trat näher.
Die Zeitung hatte eine seltsame Form. Es sah aus, als hätte ein großes Tier die
vier Ecken abgebissen – ein Bär zum Beispiel, was zur Form eines Tatzenkreuzes geführt
hatte.
„Wie viel?“, wollte Toni wissen.
„Nur hundertfünfzig im Monat.“
Toni glaubte nicht richtig zu hören. Dann brächte er für diese Zeitung nicht nur viel Zeit, sondern
auch noch viel Geld.
Der Verkäufer schien seine Bestürzung zu bemerken. „Für Studenten und Minderbetuchte nur hundertzehn“, verbesserte er das Angebot.
Der Verkäufer schien seine Bestürzung zu bemerken. „Für Studenten und Minderbetuchte nur hundertzehn“, verbesserte er das Angebot.
Toni nahm ein Exemplar entgegen und sagte, er werde es sich
überlegen. In Wirklichkeit fand er den Preis unannehmbar.
In der Nähe ragte ein großer, silberglänzender Pfosten aus dem
Boden. Er lehnte sich an diesen und fing an in der Zeitung zu blättern. Auf den
ersten Blick schien sie bloß Inserate zu enthalten. Der typische Eindruck, den
das Vielerlei einer Zeitung weckt. Er war nahe dran sie wegzuwerfen. Aber er
fasste sich. Als er sie innen umwandte, stieß er auf einen großen Artikel und
fand, von innen nach außen lesend, noch weitere solche Artikel mit Bildern
illustriert. Aber so richtig befriedigten ihn die Artikel, die er überflog,
auch nicht. Ich bin wohl nicht in der richtigen Stimmung, sagte er sich.
Am silbernen Pfosten war ein Pfeil angebracht, Toni folgte der
Richtung, in die dieser wies. Aus dem flachen Bau im Berg gelangte er auf ein
Feld und in diesem an ein ummauertes, rechteckiges Gelände von der Größe
mehrerer Fußballplätze. Er ging bis zur Mauer. Von dieser sah er in einen
weitläufigen Hof hinab, der einen burgähnlichen Komplex umschloss, von dem aber
nur das Erdgeschoss stand. Wie ihm schien, war dieses einzige Geschoss eine
Ruine. Von hinten auf das Gelände gestoßen, folgte er nun der Mauer in Richtung
zum Eingang an der Stirnseite gegenüber. Zwischendurch hielt er an und schaute
hinunter auf die Anlage. Sie wirkte verschlungen wie ein Labyrinth. Dann
entdeckte er etwas, das sein Interesse besonders weckte. An den Wegen waren Karten
aufgestellt, Spielkarten, und zwar mannshohe. Anscheinend handelte es sich bei
diesem Terrain um ein raffiniertes Spielfeld. Toni hegte die Vermutung, dass es
das Spiel war, von dem die Zeitungen berichteten und die Figuren auf den Karten
eine wichtige Rolle spielten. Die Welt der Politik und der Gesellschaft als ein
Labyrinth in Ruinen – eine nicht gerade schmeichelhafte Darstellung der
Gesellschaft, dachte er. Und doch nicht ganz unpassend, am deutlichsten wohl zu
sehen, wie sich Realpolitik von den Wahlprogrammen unterschied. Aber auch
andere an der Gesellschaft Beteiligte mussten sich damit abfinden, dass ihre
guten Vorsätze sich nur bruchstückhaft umsetzen ließen. Was hilft es mir, wenn
ich all diese Figuren auf den Karten kenne, wenn sie doch immer nur das gleiche
Spiel treiben. Das war der Eindruck, der sich ihm hier einprägte. Er hegte den
Verdacht, dass ihm jemand seine Zeitung abspenstig machen wollte, ihn drängte
darauf zu verzichten.
Er war nicht der einzige Neugierige, der von der Mauer auf die Anlage
hinabsah. Einen Mann sprach er an. „Ist ja interessant, ein Spiel, nicht wahr?“
„Ja, wenn es nur alle als ein Spiel sehen würden“, gab der
Angesprochene zur Antwort. Er schien sich über den Kontakt zur freuen und
stellte sich mit Namen vor. „Ich heiße Oppermann.“
Toni zuckte kurz zusammen. Oppermann, ob das der Oppermann war,
der Mark beraten hatte? „Toni ist mein Name“, sagte er mit Verzögerung. Er sah
sich den Mann genau an, um ihn beschreiben zu können, wenn er Mark fragte.
Nicht sehr groß, kräftig, ein runder Kopf, fast kahl, wie Gorbatschow, dachte
er.
„Viele nehmen dieses Spiel viel zu ernst“, bemerkte Oppermann. Er
wies Toni auf etwas hin, das er von seinem Standpunkt aus nicht sehen konnte.
„Sehn Sie dort vorne das Tor, Toni?“
Von der Burganlage bis zum Eingang war noch ein langes Stück
begrünter Hof. Das Tor vorne war ihm aber schon aufgefallen. Er nickte.
„Wer von dort reinkommt, sieht die Figuren anfangs nicht klar.
Sie erscheinen verschwommen wie auf einem Polizeibild. Erst nach und nach – auf
die Burg zulaufend – schärfen sich die Bilder auf den Karten. Wer von außen
reinkommt, muss sich erst eingewöhnen. Und dann führte ihn der Weg in ein
labyrinthisches Ruinenfeld. Was halten Sie davon, Toni?“
Er zögerte, schließlich folgerte er, dass das Zeitungslesen, so
betrachtet, als ein Verwirrspiel erscheine.
Oppermann stimmte zu, indem er nüchtern bemerkte, ihm gehe nichts
verloren, wenn er dieses Spiel nicht allzu genau verfolge. MLF
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