Wendys zweiunddreißigstes virtuelles Abenteuer
Es fing mit einer Bootsfahrt an.
Als Wendy mit Bea an den Fluss kam und die Boote darin sah,
machte er seiner Begleiterin zum Vorwurf.
„Du hättest mich doch schon öfter mit einem solchen fahren lassen
können.“
Bea reagierte gedämpft. Als fürchtete sie, dass ihm daraus Schwierigkeiten
entstehen könnten.
Durch ein weites Feld waren sie auf einen Flussabschnitt gestoßen,
der außerhalb der Stadt lag. Hinter dem Fluss breitete sich dichter Wald aus.
Etwas oberhalb von ihnen war eine Schnelle. Als Wendy dies sah, mochte er sich
nicht mehr zurückhalten. Ohne zu fragen, nahm er eines der Boote, zog es an
Land und schleifte es durch das Gras aufwärts bis er oberhalb der Flussschnelle
an ruhiges Wasser kam. Dort schob er das Boot hinein. Er bat seine Begleiterin
mit einzusteigen. Sie schien unschlüssig und stieg dann doch nicht dazu.
Es war später Nachmittag. Wendy schob sich durch das Gedränge
einer Kleinstadt. Er war zu beschäftigt, sich einen Weg zu bahnen, um festzustellen,
dass er an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit gelandet war. Ein
eleganter, wendiger Mann gesellte sich zu ihm. Der schien bemerkt zu haben,
dass er hier fremd war. Er ging voran und bahnte ihm den Weg.
„Kommen Sie“, sagte er, „ich will Ihnen etwas zeigen.“
Hinter dem Fremden her war das Fortkommen spürbar leichter. Sie
gelangten auf einen Platz des Städtchens. Hier war das Gedränge nicht mehr so
groß. Wendy bewunderte die altertümliche Bauweise der Häuser und sah den
unebenen Boden aus vielfach geflicktem Kopfsteinpflaster. Sein Begleiter hielt
vor einem Gebäude, dessen Türen offen standen. Wendy erkannte, dass es eine
Synagoge war.
„Treten Sie ein, ich möchte Ihnen unsere Synagoge zeigen“, sagte
der elegante Begleiter.
Wendy trat näher und sah von außen auf die Wände des gewölbten
Vorraumes. Sie waren über und über mit Bildern ausgelegt. Dieser Bilderreichtum
erinnerte ihn, dass er schon immer mal gerne eine Synagoge aufgesucht hätte. Aber
es war als zöge das Wasser des Stromes ihn weiter. Er lehnte dankend ab.
„Nicht jetzt, ein anderes Mal gerne“, sagte er und bedankte sich
bei seinem Begleiter für das Angebot.
Fast wehmütig lief er weiter, hinaus aus dem heimeligen
Städtchen.
Nur wenige Meter dahinter, getrennt durch einen Wall, lief eine
Vorortsstraße auswärts, gesäumt von eher nüchtern anmutenden Neubauten. Auf
einem leicht ansteigenden, asphaltierten Vorplatz hatten sich Menschen
aufgestellt und blickten auf die Straße. Aus ihrem Verhalten schloss Wendy, dass
hier demnächst eine Parade oder ein Umzug stattfinden würde. Er war gespannt,
was es hier zu sehen geben würde. Er verspürte das Bedürfnis sich zu setzen.
Aber die Stühle lagen am Boden. Mit viel Mühe gelang es ihm die Metallbeine
eines Stuhles gerade zu richten, so dass er sich setzen konnte. Aber just in
dem Moment kam Bea, seine Begleiterin, daher. Er wunderte sich, sie konnte doch
nicht mitten in der Fahrt in sein Boot gestiegen sein? Wahrscheinlich war sie
in einem eigenen Boot unterwegs. Sie setzte sich auf seinen Stuhl und er hatte
mit einem weiteren die Mühe ihn zum Stehen zu bringen. Kaum dass er saß, begann
der Umzug.
Wie sich herausstellte, war es kein Umzug, sondern ein Auszug.
Ein riesiger Tross armseliger, verlumpter Menschen, mit Handwagen und
Ochsenkarren schoben sich durch die Straße. Das war kein schöner Anblick,
vielmehr ein Bild schrecklicher Armut. Menschen in Massen, stöhnend, weinend,
gebeugt unter der Last ihrer ärmlichen Habe, die sie in altmodischen Koffern
oder in Tüchern auf dem Rücken trugen. Ein endloser Tross der Armut zog vor
ihren Augen fort. Oben auf einem Wagen lag ein großer, flacher Korb. Der hatte
sich quergestellt und drohte runter zu fallen. Wendy rannte hin und richtete
ihn gerade. Von der Bäuerin, die die Ochsen führte, erhielt er ein.
„Gott dank Ihnen, Sie sind ein guter Mensch.“
Den Husaren auf den Pferden dahinter, die den Tross antrieben,
schien seine Einmischung nicht zu gefallen. Zu seiner Verwunderung herrschte
ihn einer mit seinem Namen an.
„Wendy, was hast du hier verloren. Was hältst du hier
Maulaffen feil, du Schwätzer, du Besserwisser“, beschimpft er ihn.
Wendy drehte sich erstaunt zu seiner Begleiterin um. Woher kennt
der mich, wollte er fragen.
Aber seine Aufmerksamkeit wurde von etwas anderem angezogen. Von
etwas, das weit hinter dem Tross und hinter dem Städtchen sich zeigte. Er sah
in der Ferne einen Elefanten, der vorbeijagte. Auf dem Elefant saß ein Reiter.
Der schien es sehr eilig zu haben. Das Tier rannte nicht wie ein Elefant rennt,
sondern bewegte sich im Galopp. Und noch etwas stach Wendy in die Augen. Der
Reiter trug in seiner Faust eine Autoachse. Die Richtung, in der Reiter und
Elefant strebten, war eindeutig. Dort hinten auf der Anhöhe lag Liechtenstein.
Zur Autowerkstätte in Liechtenstein jagten sie hin.
Wendy war von diesem Anblick so gefesselt, dass er Bea außer Acht
gelassen hatte. Jetzt wandte er sich ihr zu.
„Hast du das gesehen?“, rief er.
„Nein, was?“, fragte sie.
„Den Reiter, den Elefanten.“
Sie wiegte den Kopf hin und her.
„Stell dir vor, da hinten im Feld jagt ein riesiger Elefant im
Galopp wie ein Pferd vorbei. Der Reiter hält in seiner Pranke die Achse eines
Autos.“
Sie hörte ihm gebannt zu. Es war nicht zu übersehen, dass sie
stolz war auf seine Scharfsichtigkeit.
„Das musst du in den Bergen melden, das müssen die dort oben
erfahren“, sagte sie und schien nach einer Möglichkeit zu suchen, wie sich ihre
Empfehlung umsetzen ließe. Nach einer Weile sagte sie. „Du kennst doch Thomas,
der den Preis der Zeitcos für die beste Arbeit in Ulmenholz gewonnen hat.“
Wendy nickte.
„Er wird morgen geehrt, dort oben. Du könntest dich zu der Gruppe
gesellen, die hochgeht. Dann lernst du schon mal die Örtlichkeit kennen.“
Wendy war einverstanden. „Ja, wenn die mir erlauben mitzugehen,
so schließe ich mich gerne an.“
Mit ihrem letzten Satz allerdings dämpfte sie seine
erwartungsvolle Stimmung. „Die Hoffnung, dass sie wahrnehmen, was du hier
erfahren hast, ist nicht groß. Aber probieren solltest du’s.“ MLF
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