Wendys einunddreißigstes virtuelles Abenteuer
Ein Engländer war zu Besuch bei ihm. Wendy erzählte ihm, dass er
gerne mal das muslimische Zentrum besichtigen würde. Er berichtete, wie er
damals, als er mit dem Zug in der Stadt angekommen war, von der Überführung aus
einen großen Komplex aus unterschiedlichen, grünen Gebäudeteilen gesehen hatte.
Sie erschienen ihm wie ineinander gefügte, rechteckige Zelte. Und dass ihn
diese Gebäudeeinheit, die er für ein muslimisches Zentrum gehalten,
angesprochen hatte.
Also, worauf wartest du, sagte der Engländer, jetzt sind die
interkulturellen Wochen, die Moschee ist zur Besichtigung offen. Sie gingen
zusammen los. Aber der Engländer ging einen Umweg und er lief immer schneller,
so dass Wendy nicht mehr mithalten konnte. Wäre ich nur meinen eigenen Weg
gegangen, sagte er sich. Er lief weiter, bis er an den Rand des Stadtzentrums zurückkam.
Hier arbeitete Pius, ein Bekannter von ihm, in einem Lokal mit sozialer
Ausrichtung.
Wendy trat ein, bestellte ein Getränk und zog dazu Paranüsse aus
der Tasche und legte sie auf den Tresen. Er bot Pius von den Nüssen an und
berichtete ihm, dass er die Moschee besuchen wolle. Aber Pius wich erschrocken
zurück und machte ein Gesicht, als hielte er ihn für einen Abtrünnigen.
„Was ist?“, fragte Wendy neckend, „hast du Angst, dass ich nach
dem Besuch zum Islam konvertieren werde?“
„Mit solchen Dingen sollte man nicht spaßen“, entgegnete Pius
ernst. „Du weißt, dass die Muslime ihren Propheten und Kriegsführer mehr
verehren als den Erlöser.“
Wendy überlegte, ob er Pius von seinem Abenteuer vom Vortag
berichten sollte, aber er ließ es lieber bleiben. Er zahlte das Getränk und
packte die restlichen Paranüsse wieder ein.
An der Stelle, wo er damals den großen Komplex in verschiedenen
Grüntönen gesehen hatte, standen jetzt moderne Stadtgebäude. Aber er sah eine
Tafel ‚Interkulturelle Woche‘, die nach rechts hoch wies. Er folgte dieser
Straße und stieß schon bald auf die Moschee der Stadt. Von außen ein eher nüchterner
Bau. Die Tür war angelehnt, er konnte eintreten.
Im Vorraum zog er die Schuhe aus und drückte dann die Tür zum
Gebetsraum auf. Ein großer, von einer Kuppel überdachter Raum, nahm ihn in
Empfang. Es schien nicht, als hätte die offene Tür viele Menschen angezogen.
Drei, vier Neugierige drehten sich nach ihm um. Von den Muslimen schien sich
niemand für diesen Anlass von der Familie trennen zu wollen. Wendy stellte sich
an das Pult des Vorlesers und fand den Koran aufgeschlagen. Zweisprachig. Er
las ein paar Zeilen und blätterte dann weiter.
Die andern Besucher waren in den nach hinten angrenzenden Raum entschwunden.
Er erinnerte sich, draußen im Vorraum ein Schild gesehen zu haben. ‚Muslimische
Kunst und Gebrauchsgegenstände‘. Von diesem Nebenraum kam ein Mann zurück und
trug einen Stab, auf dem sich ein komplexes Gebilde drehte. Wendy löste sich
vom muslimischen Buch der Bücher und ging auf ihn zu.
„Was haben Sie denn da Schönes gefunden?“, fragte er.
„Ein Spielzeug“, war die Antwort.
Wendy erkannte, was es war. „Das ist aber eher etwas für
Erwachsene“, sagte er, „ein Cupido, eine Figur, die das Begehren der Menschen
darstellt.“
„Gibt es die auch im Islam?“, fragte der Mann verwundert. „Ich
kenne sie nur aus der Antike.“
„Mir scheint auch, dass sich der Künstler nicht ganz an den
Rahmen der muslimischen Kunst gehalten hat“, räumte Wendy ein. „Eigentlich ist
die Darstellung menschlicher Figuren in ihrer Tradition ja untersagt.“
Der Halter des Stabes stoppte die drehenden Figuren. Wendy sah
eine Frau und ihr Begehren. Aber bevor er die Plastik genauer studieren konnte,
drehte dieser schon weiter. Nun sah Wendy den Mann. Sein Begehren war so
ausgedrückt, dass ihm drei Frauen zu Füßen lagen.
Wendy lachte. „Gut getroffen, die im muslimischen Glauben
bewahrte Tradition erlaubt den Männern, mehrere Frauen an sich zu binden.“
„Und wie steht es mit Ihnen?“, fragte der Mann. „Wäre das für Sie
nicht ein Grund zu konvertieren?“
Wendy sah ihn erstaunt an. Dann lachte er. „Bei den Lebensformen
halte ich mich lieber an die modernen. In meinem Fall müssten es drei Männer
sein. Das würde mir die muslimische Tradition wohl kaum bewilligen.“ MLF
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