Wendys drittes virtuelles
Abenteuer
In Rain – gesprochen Rein – spielte sein nächstes Abenteuer. Ein
an einem sanften Sonnenhang gelegener, etwas charakterlos wirkender Ort. Wendy
erwartete nach dem aufregenden Abstecher nach Nordafrika eine ruhige,
beschauliche Tour. Wie sich zeigen sollte, hatte dieser heimische Ort aber auch
seine unkultivierten Stellen. Einem neuen Trend nach stehen diese unter
Naturschutz. Auf diese schien es der Chauffeur abgesehen zu haben, wohl nicht
ohne eine bestimmte Absicht. Der Mann am Steuer bestimmte den Ausflug. Wendy
saß auf der Rückbank und ließ sich chauffieren. Das erste Schutzgebiet lag noch
am Hang. Es bestand lediglich aus einem hinter Büschen versteckten Froschteich.
Der zweite Naturpark lag unten, wo der Rainer Hang in die Fläche
des Seetals übergeht und war deutlich größer. Hier hatte man ein offenes Gehege
geschaffen, in dem Wildtiere Unterschlupf fanden. Der Fahrer hielt an. Wendy
zögerte mit Aussteigen. Das Wetter hatte umgeschlagen. Während in Rain oben
noch die Sonne geschienen hatte, trieb jetzt der Wind dunkle Wolkenfetzen
vorbei, was zu stark wechselnden Lichtverhältnissen führt. Als der Fahrer
jedoch ausstieg, folgte er seinem Beispiel. Sie stellten sich an den Rand des
Naturparks und schauten auf das tiefer gelegene Gehege. Zwischendurch schaute
Wendy misstrauisch nach oben, da er einen plötzlichen Wolkenbruch befürchtete.
Auf der Erhebung direkt hinter dem Zaun zeigte sich schon bald
ein stattlicher Hase. Beim Anblick dieses Tiers erinnerte sich Wendy, dass er
sich in der virtuellen Welt befand, denn der Hase war deutlich größer als seine
reellen Verwandten. Er ähnelte in seinen Bewegungen einem Menschen. Ein Wesen,
halb Hase, halb Mensch, das ihn sehr vertraut anmutete. Doch bevor er
herausfand, an wen ihn der Hase erinnerte, war dieser schon verschwunden.
Er wollte weiter gehen, aber der Chauffeur blieb stehen und
blickte unverändert ins Gehege. Da erschien von der Seite der Erhebung her ein
Fuchs, genauer eine Füchsin. Sie platzierte sich genau dort, wo vorher der Hase
gestanden hatte. Sie präsentierte sich den beiden, mit ihrem schönen glatten
Fell, einem schlauen Gesicht und einer spitzen Schnauze. Auch sie war
überdurchschnittlich groß. Da näherte sich von hinten der Hase. Verglichen mit
der eleganten Füchsin, wirkte er jetzt noch tollpatschiger. Wendy wollte rufen.
Pass doch auf. Aber Tiere mussten wohl selber wissen, wie sie sich verhielten.
Er schien ein alter Hase zu sein, der sich womöglich einen Spaß daraus machte,
den Fuchs zu reizen und dann blitzschnell zu verschwinden. Der Hase schien
schmusig gestimmt und näherte sich dem Fuchs geradezu zärtlich. In dem Moment
aber drehte sich die Füchsin blitzschnell. Der Hase jagte davon, aber er kam
nicht weit. Nach wenigen Metern nur packte ihn die Schnauze und riss ihn in
Stücke, bis nur noch Teile von ihm herumlagen.
Wendy war erstarrt. Er war unfähig sich zu rühren. Die Füchsin
ist niemand anderes als diese virtuelle Frau, der er naiv vertraut hatte, sagte
er sich. Er war der Hase. Und die machte sich auch noch einen Spaß darauf, ihm
das grausige Schicksal, das ihm bevorstand vor Augen zu führen. – Andererseits,
in der Art wie der Hase sich angeschmust hatte, glaubte er Enzo, seinen
Geliebten zu erkennen, wenn er zärtlich gestimmt war. Es gab Momente, da er –
Wendy – wie eine Füchsin gestimmt war. Besonders, wenn er sich bei der Arbeit
wieder mal zu sehr unter Spannung gesetzt hatte. Wenn dann Enzo kam, treuselig
und unbedarft, nicht auf seine – Wendys – Stimmung achtend, so konnte es schon
sein, dass er auf ihn losging und kein Haar an ihm gerade ließ. Er schwankte,
ob er sich aufgrund des Gesehenen ein Gewissen machen sollte. Da hängte der
Chauffeur noch ein Kapitel dran.
Nach einer virtuellen Wandlung der Außenwelt in einen Innenraum
betraten sie an der Stelle des Geheges ein flaches Gebäude. Sie fanden dieses
in einem verrohten Zustand. Wie in einem Haus mit beschädigtem Dach standen
Pfützen, aber nicht von Wasser, sondern von Blut. Es bestand kein Zweifel,
woher das Blut kam. Ihm wurde bewusst, dass die Füchsin einen wirklichen
Schaden angerichtet hatte. Er machte sie verantwortlich für die Rohheit und
Verschmutzung dieses Raumes.
Wendy war hin und her gerissen zwischen den zwei Deutungen, die
sich ihm aufdrängten. Da er aber mit Enzo nie lange garstig war, konnte eine
solche Verrohung gewiss nicht von ihm stammen. Also neigte er doch wieder zur
anderen Version, die ihm ein schlimmes Ende in der virtuellen Welt prophezeite.
Die einzige Chance, diesem Schicksal zu entgehen, bestand darin, sich nicht
mehr auf die Abenteuer, zu denen ihn diese Frau verleitet hatte, einzulassen.
Langsam wurde der Raum um ihn dunkel. Wendy verlor die
Orientierung. Wenig später befand er sich wieder in seinem Stuhl. Im Gegensatz
zu den vorigen Malen fühlte er sich alles andere als angeregt und bereichert.
Ihn fröstelte. Er fühlte sich ganz und gar betrogen.
In der leisen Hoffnung, dass er doch noch zu einer anderen
Deutung fände, schrieb er alles minutiös auf. Der Start im schönen Rain. Der
Froschteich und das Wildgehege. Der Auftritt des Hasen und dann der Füchsin.
Und wie sie den Hasen in Stücke riss. Ihm war als sei er selber gevierteilt
worden. Er litt an Phantomschmerzen, wenn auch nicht so sehr an den Gliedern
als vielmehr im Gemüt. Die virtuelle Welt war ihm als ein Abenteuer, als eine
Bereicherung erschienen. Und jetzt glaubte er, darin den eigenen Tod entdeckt
zu haben.
Unten ging die Tür auf. Enzo kam nach Hause. Wendy durchfuhr es
heiß. Er hatte nicht gekocht. Mit schlechtem Gewissen ging er nach unten. Er
küsste seinen Freund, fasste ihn an, als müsste er sich vergewissern, dass er
real war. Es musste schnell gehen beim Kochen. Eigentlich hatte er
italienisches Mischgemüse machen wollen mit Nudeln. Stattdessen holte er
Maultaschen aus dem Kühlschrank und übergoss sie mit Brühe. Dazu bereitete er
einen Salat.
Nach dem Essen zog es ihn wieder in sein Zimmer. Er sagte zu
Enzo, dass er ein spannendes Buch lese.
Du bist so abwesend die letzten Tage, warf Enzo ihm vor.
Wendy hob die Schultern und wich dem Gespräch aus. Er ging aufs
Zimmer. Es war wie eine Sucht geworden, seine Aufenthalte in der virtuellen
Welt. Eigentlich hätte ihm das Rainer Abenteuer die Lust vertreiben können.
Aber hatte Muse nicht gesagt, du lebst dort so oder so. Die Vorstellung, dass
er in der virtuellen Welt starb, ohne es zu wissen und dann an den Folgen
irgendeiner Krankheit in der reellen Welt starb, war für ihn schrecklich. Wenn
sein virtuelles Leben – nach so kurzer Zeit, die er bewusst dabei gewesen war –
so wollte er auf jeden Fall bis zum Schluss dabei sein. Aus Angst, dass Enzo
ihn stören könnte, drehte er den Schlüssel der Zimmertür.
Es dauerte nicht lange, nachdem er sich im Sessel zurückgelehnt
hatte, da befand er sich wieder in Rain. Aber dieses Mal nicht in einem Wagen,
von einem Chauffeur herumgefahren, sondern als Mitarbeiter in einem Altenheim,
einem modernen, flachen Bau. Er verrichtete die gleiche Tätigkeit, die er als
Zivildienstler geleistet hatte. Es war früher Nachmittag, die Bewohner wurden
aus ihrem Mittagsschlaf geweckt und zum Kaffeetrinken in den Essensraum
gebracht. Normalerweise hätte er jetzt die Hilfsbedürftigen beschäftigt. Mit
ihnen ein Spiel gemacht, ihnen was vorgelesen oder einfach mit geplaudert. Aber
es fand eine Besprechung statt. Der Leiter der Einrichtung war auch in einer
religiösen Gemeinschaft engagiert und appellierte einmal mehr an die Tugenden
der Nächstenliebe.
„Das Glück in unserem Beruf ist doppelt, sagte er, es kommt
sowohl zu denen Hilfe erfahren und zu den anderen, die helfen.“
Wendy saß ganz hinten. Als er eine Frage stellen wollte,
überraschte ihn der Redner mit dem Vorwurf. „Sie sind das Gegenteil.“
Nach der Besprechung fing ihn die Gruppenleiterin im Flur ab. Sie
nahm ihn am Arm und entschuldigte sich so indirekt für ihren Vorgesetzten. Sie
führte ihn zu einer Künstlerin, die mit einer Gruppe von Bewohnern Kunst
machte. Einige malten Bilder, andere plastizierten, wieder andere bastelten mit
Krepppapier. Wendy ging herum und lobte den Einsatz der Bewohner. Aber im Innern
hatte er ein Gefühl, als würde er an einem Abgrund stehen. Und tatsächlich
wurde es dunkel um ihn.
Er stand jetzt in einem Blumengeschäft an der Hauptstraße in
Rain. Es galt den Schmuck für das Begräbnis auszuwählen. Er hatte keinen
Zweifel mehr, um wessen Begräbnis es sich handelte. Er sagte zur Floristin.
„In jedem Kranz muss eine Rose sein. Das ist der Wunsch meiner
Mutter. Sie wird auch unter den Trauergästen sein.“
Wendy saß lange im Stuhl, bis er endlich anfing aufzuschreiben.
Als er fertig war, ließ er das letzte Blatt obenauf liegen. Denn er sagte sich,
wenn ich heute Nacht sterbe, wird Enzo diese Zeilen lesen und er wird erkennen,
dass mein Schicksal unabänderlich war. Er war sich sicher, dass er damit seinem
Freund den Abschied erleichtern konnte. Sollte er auch einen Kranz hinlegen
wollen, würde er hoffentlich daran denken, ihn auch mit einer Rose zu
schmücken.
Wendy war in Gedanken so in sein unausweichliches Schicksal
verstrickt, dass er nicht hörte, wie Enzo zu seinem Zimmer kam. Dieser drückte
die Klinge und wäre fast mit dem Kopf gegen die Tür gestoßen. Erschrocken fuhr
Wendy auf und drehte schnell den Schlüssel.
Was ist los mit dir?, rief Enzo entgeistert. Warum schließt du
die Tür ab?
Wendy behauptete, dass er den Schlüssel versehentlich gedreht
habe. Aber Enzo sah ihn misstrauisch an. Da er aber sah, in welchem Zustand
sich befand, zog er ihn an seine Brust.
Was ist nur los mit dir?, wiederholte er. Du sollst nicht solche
Sachen lesen, die dir so sehr zusetzen.
Enzo hatte früh aufzustehen und wollte sich verabschieden.
Macht es dir etwas aus, wenn ich auch jetzt schon ins Bett
komme?, fragte Wendy kleinlaut.
Kannst du denn um diese Zeit schon schlafen?, fragte Enzo
skeptisch. Er fürchtete, dass sein Freund ihn nicht schlafen ließe.
Bestimmt, antwortete Wendy, und wenn nicht, werde ich mich ganz
ruhig verhalten.
Es dauerte lange bis er einschlief. Er war sich nicht sicher, ob
er nochmal aufwachen würde.
Am Morgen war der Platz neben ihm leer. Klar, Enzo war früh
aufgebrochen. Etwas war anders als sonst. Ah, da erinnerte er sich an die
Abschiedsstimmung vom Abend. Aber es fiel ihm nicht sofort ein, was ihn dazu
bewogen gehabt hatte. Er stand auf und ging ins Bad. Dann bereitete er das
Frühstück. Er zog sich an, putzte die Zähne, frisierte sich und ging dann zur
Arbeit. Mitten an der Arbeit fiel ihm die Füchsin wieder ein. Auch das Blut.
Und die Wahl der Blumen fürs Begräbnis. Aber es war alles weit weg. Fast als
sei er gestorben und wieder neu geboren worden. MLF
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