Freitag, 13. Juli 2012

84 Ein raffinierter Spiegel

Ein großzügiger Wohnraum. Die Wände aus dunklen Balken und Naturstein. Ein gemauerter Ofen. Ein Tisch aus massivem Holz, wohl zehn Zentimeter dick. Die eine Wand ganz aus Glas. Durch diese sah er in die Waldlichtung. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er in einem fremden Haus war. Ich bin doch durch den Wald gegangen, überlegte er. Wenn er durch den Wald lief, schaltete er oft die Vernunft aus und überließ sich seinem Instinkt, wie ein Reiter die Führung seinem Pferd überlässt. Sein Gespür hatte ihn in dieses Haus geführt. Die Türe musste offen gestanden haben, sonst hätte er nicht so völlig unbewusst hinein gefunden. Also konnte es auch nicht schlimm sein, wenn er sich umsah. Die Glaswand bestand aus vielen Glasstücken, die mit flüssigen Metallnähten zu einer Fläche verbunden worden waren. Wie er sich dieses Flickwerk genauer anschaute, sah er durch das Glas in der Lichtung draußen den Künstler. Der musste ihn, just in diesem Moment, auch entdeckt haben, denn er kam näher. Er schien überrascht und zornig. Durch ein schräg gestelltes Klappfenster hörte Toni ihn rufen.
„Was erlaubst du dir! Wer hat dir gestattet, bei uns einzudringen?“
Toni hatte ihn gleich erkannt. Winter, ein bekannter Bildhauer. Bekannt, war vielleicht übertrieben, aber er kannte ihn jedenfalls. Bevor er etwas antworten konnte, rief Winter, dem Tonis Blick auf die Machart des Glases aufgefallen war.
„Das Glas ist noch provisorisch. Das richtige ist bestellt. Es kommt demnächst.“
Eine große Frau trat vom Flur her in den Raum, Frau Winter. Sie zeigte sich erfreut über den Besucher. Im Gegensatz zu ihrem Mann erkannte sie Toni.
„Schön, dass Sie zu uns kommen. Ich habe mich schon oft gefragt, warum Sie nicht mal bei uns reinschauen.“
Sie war eine strahlende Frau mit glatten kastanienbraunen Haaren, die sich zu einem Schwanz nach hinten gefasst hatte. Schön war sie durch ihr glattes, ausgewogenes Gesicht und durch ihre starke Ausstrahlung. Ihr lag am Austausch mit andern, das spürte Toni, was in diesem Haus im Wald wohl oft zu kurz kam.
„Es ist purer Zufall, aber ein glücklicher Zufall“, sagte Toni.
„Sie haben es gut getroffen, entgegnete sie, die Kinder sind auch da.“
Und gleichzeitig mit ihrem Mann, der durch einen Nebenraum hereinkam, stand plötzlich die Tochter neben ihnen. Sie war von ihrer Erscheinung nicht so strahlend wie die Mutter. Mindestens einen Kopf kleiner als diese, dafür war der Kopf auffällig dick. Worin kein Zweifel bestand, war, dass sie Toni verehrte. Mit ihren Blicken verschlang sie ihn geradezu. Sie war schon eine reife Frau mit üppigen Brüsten, die neben dem dicken Kopf das auffälligste Merkmal von ihr waren.
Toni ging auf die Wand zu und sagte bewundernd. „Da haben Sie sich ja ein schönes Haus bauen lassen.“
„Vieles haben wir selber gemacht“, antwortete sie. Toni fuhr mit seiner Hand über die rauen Steine und das dunkle Holz. Dann ging er zum Ofen und setzte sich auf die gemauerte Bank. Schließlich landeten sie am Tisch, der aus zwei oder drei Mittelbrettern einer riesigen Buche gefügt war.
„Wie hast du uns denn gefunden?“, fragte der Bildhauer, jetzt schon vertraulicher.
Toni erklärte, dass er sich im Wald meist seinem Gespür überlasse. Und das habe ihn zu dieser Lichtung geführt. Bis ins Haus hinein, denn unbewusst folge er meistens der Neugier, wenn er sich nicht am Zügel halte. „Tut mir leid, dass ich hier eingedrungen bin“, entschuldigte er sich nachträglich.
„Ist doch überhaupt kein Problem“, entgegnete Frau Winter, „wir führen ein offenes Haus.“
Als er ausgetrunken hatte, stand Toni auf und verabschiedete sich. Sie begleiteten ihn vor die Tür.

Draußen kamen ihnen mehrere braune Windhunde entgegengerannt. Stattliche Tiere mit langhaarigem Fell. Sie drängten sich an ihn und er strich einem nach dem andern über Kopf und Hals. Dabei fiel ihm auf, dass im Braun silberne Fäden waren.
Winter holte eine Stellleiter und schnürte sich einen klappbaren Spaten mit einer silbernen Schaufel um den Fußknöchel des linken Beins. Toni schaute ihm verwundert zu und fragte sich, was er damit vorhatte. Der Bildhauer stieg bis zur obersten Stufe hoch, dort hängte er den umgeklappten Spaten ein und ließ sich auf waghalsige Weise die Leiter hinabhängen.
„Bodo“, rief er einen der Hunde. Dieser rannte zur Leiter und richtete sich auf, indem er auf den Vorderpfoten die Tritte hinaufstieg. In dieser ungewöhnlichen Lage zupfte ihm der Bildhauer die silbernen Haare aus. Der Hund ließ es geschehen. Als er mit ‚Bodo‘ fertig war, rief er den nächsten, ‚René‘.
Frau Winter lotste Toni in den nächsten Bau, in dem ihr Sohn, wie sie sagte, am Computer arbeite. Das Foyer dieses einstöckigen Gebäudes hatte in der Decke einen gewölbten Plexiglas-Einsatz. Toni machte Frau Winter ein Kompliment.
„Sie halten das alles im Schuss, ziehen Kinder groß und sind noch künstlerisch tätig. Das ist beachtlich.“
Sie antwortete nicht, aber er spürte, dass ihr die Anerkennung gut tat. Während die Mutter nach dem Sohn ging, stand die Tochter plötzlich ganz dicht vor ihm. Er hatte schon die ganze Zeit eine große Gespanntheit an ihr bemerkt. Das Kompliment an die Mutter hatte sie die Beherrschung verlieren lassen. Mit ihren weit ausladenden Brüsten stieß sie an ihn und schaute ihm von unten direkt in die Augen. Toni geriet in ziemliche Verlegenheit. Mit ihrem dicken Kopf war sie nicht gerade eine Schönheit. Und er war gar nicht auf eine Liebelei zu einer Frau eingestellt. Als der Sohn kam, wandte sich Toni von der Tochter weg ihm zu. Der Sohn schien nur der Mutter zuliebe gekommen zu sein. Er wirkte entsprechend zerstreut. Offensichtlich hatte sie ihn aus einer konzentrierten Tätigkeit herausgerissen. Er hatte noch einen jüngeren Bruder auf dem Arm. Oder war das gar sein Sohn? Merkwürdig, dachte Toni, ob der Junge ihn bei der Arbeit nicht störte?
„Darf ich fragen, was Sie am Computer arbeiten?“, fragte Toni.
„Ich schreibe einen Blog“, gab er zur Antwort.
„Worüber?“, hakte Toni nach.
„Die Geschichten stammen von meiner Schwester. Seit dem Winter erzählt sie jeden Tag eine. Ich setze sie um.“
Toni drehte sich bewundernd der Tochter zu. Sie gefiel ihm mit einem Mal viel besser.
„Was sind das für Geschichten?“, fragte er sie.
„Hast du die von heute Morgen schon getippt?“, wandte sie sich an ihren Bruder.
„Sie liegt noch im Drucker.“ Er setzte den Jungen ab und sagte ihm, er soll sie aus dem Druckerfach holen. Das Kind konnte plötzlich laufen und kehrte kurz danach mit drei Blättern zurück.
Als Toni sah, dass es ein längerer Text war, faltete er das Papier und steckte es in seine Tasche. Der Junge stand nun bei der Tochter. „Mama, was will der Mann mit der Geschichte?“, hörte Toni ihn sagen.
Er will sie lesen, entgegnete sie und strich ihm über den dicken Kopf. Toni betrachtete den Kopf des Sohnes und der Tochter und dann wieder den des Kindes. Da ahnte er, was sich hier ihm Wald abgespielt haben musste.
Er verabschiedete sich von der Mutter und von den beiden. Der Kleine wagte sich vor und reichte ihm sein Händchen. Draußen war der Bildhauer noch immer am Auszupfen von grauen Haaren.

Auf dem Rückweg überließ Toni sich wieder seinem Gespür. Dieses führte ihn sicher zu Marks Bus zurück. Er legte sich auf die noch ausgeklappte Liege und wollte die Geschichte der Tochter hervorholen. War aber zu müde und schlief ein. Als er nach dem Aufwachen etwas gegessen hatte, fiel ihm der Text wieder ein. Er holte ihn aus der Tasche und schlug ihn auf.
‚Im Waldhaus von Winters‘ war die Überschrift. ‚Ein großzügiger Wohnraum. Die Wände aus dunklen Balken …‘ MLF

Das war doch der Raum, in dem er sich vorgefunden hatte. Die Glaswand aus Stücken zusammengefügt, der Bildhauer draußen, die Frau, die zu ihm trat, die Tochter – alles genau wie er es erlebt hatte. Tonis Hand zitterte, während er weiterlas. Die Leiter, die seltsamen Namen der Tiere, das Foyer mit dem gewölbten Kunstglas in der Decke. Die Tochter, die in die Offensive ging und zum Schluss der Kleine, der ihm die Blätter überreichte, die er jetzt in der Hand hielt und der möglicherweise das Kind eines Geschwisterpaares war.
Langsam wurde ihm bewusst, dass er in einen raffinierten Spiegel geblickt hatte. AS

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