Freitag, 29. Juni 2012

77 „Herr Wendy Nil“

Während er im Gruppenraum den Hahn am Spülbecken abschraubte und einen neuen, leichter zu bedienenden, montierte, wurde am Tisch hinter ihm heftig diskutiert. Er hörte, dass für einen Film über ihre Einrichtung viel Material gesammelt worden war, aber dass es nicht mehr weiter ging. Aufhören oder weitermachen war die Frage. Darüber wurde gestritten.
Toni jobbte in einem Pflegeheim, für das er früher viel gearbeitet hatte. Nachdem er von Marks Kasse einmal getankt und zweimal Lebensmittel gekauft hatte, war ihm nicht mehr wohl dabei gewesen, ausschließlich auf Kosten seiner Freunde zu leben. Deshalb hatte er bei der Einrichtung, für die er früher die sanitären Anlagen gewartet hatte, nachgefragt, ob sie einzelne Arbeiten für ihn hätten. Es kam die Antwort, dass es viel zu reparieren gäbe. So kam es, dass er sich um verschiedene Reklamationen im Sanitärbereich kümmerte, die der Hausmeister auf einer Liste notiert hatte. Ihm gefiel diese Arbeit, weil er viele vom Personal kannte, inklusive der Leitung und auch einige Bewohner. Deshalb ließ ihn auch nicht kalt, was er mitbekam, während er den Hahn austauschte.
Holger, ein Pfleger mit rundem, glänzenden Gesicht und stark gelichtetem Haar, sagte zu den anderen. „Die Szenen, die gedreht wurden, sind doch alles in allem unbefriedigend. Was soll man sich da noch Arbeit mit machen.“
„Was heißt‚ ‚alles in allem unbefriedigend‘?“, unterbrach ihn eine Neue, die Toni nicht kannte, scharf. „Du hast doch zu einigen Szenen gesagt, dass du sie gut findest, oder etwa nicht?“
Eli, eine blasse Pflegerin – sie schien ziemlich müde zu sein – ergriff für Holger Partei. „Ich finde auch, das alles macht nicht richtig Sinn.“
Toni fand diese Haltung falsch. Aber er hütete sich davor, sich einzumischen. Er hatte andere Aufgaben. Aber dann stand Thorsten auf und kam zu ihm her. „Hey Toni, du kennst doch unsere Einrichtung gut. Was denkst du, sollen wir versuchen das Projekt abzuschließen oder sollen wir es besser an den Nagel hängen?“
Toni wischte sich die schmierigen Hände am Lappen ab und lehnte sich gegen die Ablage. „Was soll ich dazu sagen? Ich weiß ja nicht mal genau, um was es geht“, stieß er hervor.
Thorsten erklärte ihm in kurzen Worten das Projekt. „Es sind viele Szenen gedreht worden. Sie haben alle etwas mit unserer Welt hier zu tun. Alles Mögliche, was hier so passiert. Du weißt, in unserem Haus geschieht viel Ungewöhnliches, Rohrbruch mit eingeschlossen. Es hat Spaß gemacht, es ist aber auch viel Arbeit gewesen. Jetzt gibt es einen Haufen Filmmaterial, das es in Form zu bringen gilt. Ich finde, es wäre schade, dies alles in einen Schrank einzuschließen. Was sagst du dazu? Wäre doch ein Jammer, das jetzt alles ad acta zu legen, findest du nicht?“
Toni zögerte. Was sollte er dazu sagen? Er wusste genau, wie es war in dieser Einrichtung. Letztendlich ging doch immer die Arbeit vor. Da mochte noch so viel künstlerischer Ehrgeiz vorhanden sein. Im Grunde ging es ihm genau so. Er hatte bei Milis Geschichten auch den Faden verloren. Die Arbeit, die er hier machte, hüllte ihre Erzählungen noch zusätzlich in Nebel. Er hätte sich am liebsten gar nicht geäußert. Aber da ihn Thorsten explizit fragte, ließ er sich zu einer Aussage verleiten. Er trat näher an den Tisch und sah jeden einzeln an.
„Leute, sagte er, die Einzelszenen sind alle gefilmt. Jetzt gilt es sich dranzuhalten. Es lohnt sich. Dann wird aus der Sache ein rundes Ganzes. Ich wette da steckt viel drin, hundertprozentig.“
Alle hörten ihm zu. Selbst Holger, der vorher für Beenden plädiert hatte, wirkte überzeugt.
Toni sagte nichts weiter und ging an seine Arbeit zurück. Doch hinter ihm klang es jetzt anders. Eine Gruppe von dreien wurde gebildet, sie sollte sich mit dem Schnitt beschäftigen.
Als er wieder zu einer Reparaturarbeit ins Heim kam, traten die drei, die den Schnitt übernommen hatten, auf ihn zu. „Der Film ist fertig geworden“, riefen sie gleichzeitig. Die Neue – Margit – hatte eine Hülle in der Hand. Thorsten sprach.
„Wir suchen jemand, der den fertigen Film zur Abgabestelle bringt.“
„Warum geht ihr nicht selber hin?“, fragte Toni.
„Bei unseren Dienstzeiten ist es schwierig“, entgegneten sie.
Das hörte sich für Toni eher wie eine Ausrede an. Aber er tat ihnen den Gefallen gern. Schließlich fand er es toll, dass der Film doch noch fertig geworden war.
Er nahm die schwarze Hülle entgegen und warf einen Blick hinein. Auf der Scheibe stand, ‚Filmprojekt Pflegeheim…‘ und das Datum.
Er bemerkte, ob man sich nicht einen etwas originelleren Titel einfallen lassen könnte.
Doch Margit hielt dagegen, dass man einen solchen jederzeit nachreichen könne, falls der Film Anerkennung finde.
Am Ende der Ortschaft stand das Haus, bei dem er das fertige Werk überreichen sollte. Er stellte den Transit auf eine der Parkflächen, die alle frei waren. Das Ortsende machte auf ihn den Eindruck, als sei dieser Ort schon vor einer Weile verlassen worden. Immerhin traf er eine Frau an der Tür. Aber sie schickte ihn mit einer Armbewegung nach hinten. Der Weg um das Gebäude herum führte in einen Turm und nach einem Rechtsknick im Innern wieder aus diesem hinaus. Vor dem Eingang draußen traf er auf den Bürgermeister, einen großen, kräftigen Mann. Er musste ihn schon beobachtet haben, als er von vorne kam, denn er war nicht überrascht. Der Bürgermeister nahm die Hülle mit Inhalt beiläufig entgegen und steckte sie in eine Ledertasche, die auf einem kleinen, gelben Tisch stand. Irgendwie hatte Toni den Eindruck, dass er ihm – dem Boten – mehr Aufmerksamkeit schenkte, als dem Film selber. Er wollte gerade sagen, ich bin nur der Überbringer, als der Bürgermeister in ernsthaft ins Auge fasste und bemerkte.
„Du bist von der Norm abweichend, super wie gut du bist.“
Toni blieb der Mund offen.
Er fuhr auf den Parkplatz beim Sportgelände, wo er die meiste Zeit übernachtete und legte sich dort schlafen. In der Nacht kam Mili und teilte ihm die Geschichte von einem Herrn Wendy Nil mit, die seltsam zu seinen Erlebnissen im Pflegeheim passte. So traf Wendy Nil die Leitung des Pflegeheims und es kam Toni so vor, als wäre er selber an seiner Stelle. Will sie mir von etwas berichten, das auf mich zukommen könnte?, fragte er sich. AS

Wendy Nil saß mit dem abgedankten Leiter des Pflegeheims und dem neuen Chef an einem Tisch. Der Alte saß an der Stirnseite und der Neue, den Wendy nicht für wirklich fähig hielt, das Heim zu leiten, ihm gegenüber. Sie kamen auf Wälders zu sprechen, die in der Höhe eine Einrichtung führten, mit der das Pflegeheim in enger Beziehung stand. Wendy, der mit den Bewohnern von seiner früheren Arbeit her eng verbunden war, sagte.
„Ich bin so dankbar, dass ich das alles erleben konnte, dass ich Menschen von hier in ihren letzten Stunden begleiten durfte.“
Der alte Leiter ließ in einem Bericht seine Zeit Revue passieren und fügte noch hinzu. „Am Haus-Parlament habe ich wenig teilgenommen.“ In dem Moment, da er dies aussprach, fiel er nach hinten und schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Wendy sah an der Wand eine schwarze Spur, die der von der Maus glich, die vor der Katze geflüchtet und in einer Spalte verendet war. Da wusste er, dass der Leiter tot war. Der neue Chef und er verharrten eine ganze Weile bewegungslos auf ihren Plätzen, wohl wissend, dass sie aufspringen und den Notarzt rufen sollten.
Der Vorfall im Pflegeheim führte zu einem großen Trubel. Klar, nun da der alte Leiter überraschend gestorben war, brachen die Angriffe los, die gegen diese Einrichtung schon lange geplant worden waren.
Der Umbruch trug Wendy einen Job bei Wälders an einer Bewertungsmaschine ein. Das war eine große Anlage, vergleichbar der Gepäckausgabe an einem Flughafen, nur viel komplexer. Er hatte Protokoll zu führen. Erst waren sie zu zweit. Aber dann brachte sein Kollege noch einen Jungen mit, der sich in diese Arbeit einlernen sollte. Es war ein dicklicher Junge, so ein richtiger frisch-vom-Bauch weg-Typ. Wendy wies ihm den Platz ganz rechts zu.
Durch diese Arbeit lernte er auch den Innenbereich bei Wälders kennen, der hinter einer Schleuse, die zu passieren war, begann. Er gelangte in eine riesige Versorgungseinrichtung, in der Unzählige am Arbeiten waren.
Nach dort war auch ein Reporter vorgedrungen, der, wie Wendy hörte, wegen dem Vorfall gegen das Heim ermittelte. Er konnte sich denken, um welchen ‚Vorfall‘ es sich handlte. Gewiss hatte der neue Chef verraten, welches der letzte Satz des Leiters gewesen war. Er kannte in etwa die Haltung des Reporters. Man warf dem Heim vor, dass es die Menschen bevormunde und ging so weit zu behaupten, dass die Menschen nur krank seien, weil man sie entmündigt hätte. Wendy stellte sich dem Reporter entgegen.
„Was haben Sie gegen das Heim anzuführen?“, fragte er.
„Das Heim vermag den Menschen keine Perspektive zu geben. Es nimmt ihnen die Initiative. Die Menschen werden darin krank – wenn sie’s nicht schon sind. Es ist eine sinnlose Zeit, die sie dort verbringen. Im Grunde ist es nur ein Warten auf den Tod.“
Wendy war aufgewühlt, er fürchtete, dass ihm beim Sprechen der Atem wegbliebe. „Mir scheint, Sie werfen etwas, das im Menschen angelegt ist, dem Heim vor. Die Menschen werden nicht alt, weil sie ins Heim müssen, sondern weil sie alt sind, brauchen sie Hilfe und Schutz. Das Leben – dieses im eigenen Saft Schmoren – mag mühsam erscheinen, aber es hat sicher einen Sinn.“
Jetzt sah er wie der Reporter nach Atem rang und keine Worte mehr fand.
Wieder im Pflegeheim, bekam Wendy von vielen Angestellten ein positives Feedback. „Ist ja toll. Super, dass du unsere Arbeit in Schutz genommen hast. Das freut uns sehr.“ Er spürte, dass man ihn achtete.
Er geriet durch sein Engagement aber auch in Schwierigkeiten. Man drohte ihm mit einem Prozess, weil er in der Auseinandersetzung mit dem Reporter etwas gegen einen Herrn in einem schwarzen Wagen gesagt habe.
„Mir ist schon viel angedroht worden“, entgegnete er darauf nüchtern.
Einmal ging er von Wälders Versorgungseinrichtung oben, statt mit der Bahn, zu Fuß nach unten. Da geriet er auf dem Weg abwärts in eine bizarre Anlage mit unzähligen Kränen. Sie war so riesig, dass ihm unheimlich zu Mute wurde. Er schlüpfte durch diesen Bereich hindurch und gelangte schließlich in den Park, der an die Ebene anschloss. Da wurde ihm erst bewusst, was für eine riesige Sache Wälders Versorgungs-Einrichtung war, dass deren Gelände sogar bis ganz nach unten reichte. MLF

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