Dienstag, 19. Juni 2012

69 Prüfer Reinert

Er lag auf einer schmalen Matratze, eingeengt zwischen zwei Wänden. Das Bett in der Kajüte war nicht breiter gewesen, aber dort hatte er in einer Nische gelegen. Hier lag er am Boden eingeklemmt in der Dunkelheit. Es verging eine geraume Zeit, bis ihm zu Bewusstsein kam, wo er lag und warum er hier gelandet war. Aber just im Moment, als ihm die ganzen Geschehnisse wieder in Erinnerung kamen, spürte er, da war jemand in seiner Nähe. An der Fußseite saß eine Person und wartete, dass er ihr Aufmerksamkeit schenkte. Mili, es ist Mili, sagte er sich. Ein glühend heißes Verlangen überkam ihn. Doch wenn sie bei seinen Füßen saß, war sie wohl nicht des Liebesspiels wegen gekommen. Er bog die Schulter hoch, winkelte den Arm an und stützte den Kopf mit der Hand. Als Mili sicher war, dass er ihr zugewandt war, hob sie an, ihre Geschichte zu erzählen. Wie schafft sie’s nur, mir überall hin zu folgen?, fragte er sich und hörte ihr gebannt zu. AS

Schon über ein Jahr arbeitete er in dieser Firma. Mal hatte er anspruchsvolle Arbeit, mal Fleißarbeit. Ihm gefiel diese Mischung. Da die Firma ziemlich groß war, stand er mit vielen Kollegen und Kolleginnen in Kontakt, ein weiterer Grund sich am richtigen Arbeitsplatz zu fühlen. Von den Kolleginnen mochte er am liebsten die Frauen aus Bolschoi. Sie waren nicht zimperlich, konnten kräftig zupacken, erwiesen sich aber als gemütvoll und mochten deftige Witze. Zwar hatten sie auch ihre Zipperlein, zeigten deswegen aber nicht den ganzen Tag ein griesgrämiges Gesicht. Nur eines störte ihn – dass sie niemals aufbegehrten.
An dem Morgen, da Prüfer Reinert in die Firma kam, lief Erduans Arbeit nicht gut. Die Chefin folgte einem Plan, der seines Erachtens nicht in die Praxis umzusetzen war. Er plädierte für einen Rahmen, der die vielen kleineren Möbelteile umfasste und ihnen Stabilität gab. Die Chefin wollte von diesem Rahmen nichts wissen.
„Ohne den Rahmen drum herum, wird das Ensemble einen zu unruhigen Eindruck machen“, erklärte er ihr, als sie an diesem Morgen vorbeikam, zum x-ten Mal. „Der Hauptpunkt aber ist die mangelnde Stabilität. Wenn man das Ensemble im Raum verschieben möchte, wird sich der fehlende Zusammenhalt als hinderlich erweisen.“
Sie machte es ganz kurz: „Einen Rahmen will ich nicht!“
Er nickte unmutig. Durch dieses klare Nein war seine Hoffnung, sie doch noch überzeugen zu können, zunichte. Jetzt galt es zu überlegen, wie er einzelnen Elementen die stabilisierende Rolle eines Rahmens übertragen konnte. Im Moment überforderte ihn diese Frage. Mal ne Pause machen, sagte er sich, vielleicht geht es danach leichter. Die Pausenzeit war schon vorbei, als er in den Aufenthaltsraum ging.
Aus dem Regen geriet er unter eine überfließende Regenrinne. So kam er sich vor, als er in den Raum trat. Obwohl die Zeit außerhalb der Pause lag, war der Raum voll von Mitarbeitern. Die Bolschoias, die sonst die Pausenzeiten pünktlich einhielten, saßen gedrängt beieinander und wirkten irgendwie bedrückt, also gar nicht, wie er sie sonst kannte. Beim Spülbecken goss ein Kollege heißes Wasser in den Abfluss. Das Wasser gurgelte und spuckte. Dabei kamen Haufen von Abfällen, die man achtlos in den Siphon gespült hatte, zum Vorschein. Kaffeesatz, Gemüsereste, Brotstücke und sogar Notizzettel. Schafft ihr das denn mindestens jetzt weg?, lag ihm auf der Zunge zu fragen. Oder spült ihr’s einfach wieder runter? Er hielt sich aber auf Abstand, ging zur Kaffeemaschine und ließ sich eine Tasse einlaufen.
„Wie steht es denn jetzt mit dem Möbel, Rahmen oder kein Rahmen?“, wurde gefragt.
„Kein Rahmen“, sagte er trocken. Er stockte. Just fiel ihm der Name seiner Chefin nicht ein. Sein Gedächtnis war überaus eigenwillig. Wenn es jemandem nicht gut gesonnen war, verweigerte es den Dienst. Luisa, Luisa hieß sie. Er schaute auf die Uhr. Es war schon Viertel vor Zwölf. Den letzten Schluck trank er stehend. Ein Blick ins Waschbecken zeigte, den Haufen hatte niemand entfernt. Seine Aufgabe war das nicht.
Wie er gehen wollte, sah er einen Prüfer bei den Bolschoias. Dieser kontrollierte ihre Stundenhefte. Ludmilla, Saskia und Olga saßen da wie gelähmt.
„Schreibfehler, lauter Schreibfehler“, stieß dieser mit der unangenehmen, spitzen Stimme eines Pedanten hervor. „Das schreibt ihr alles neu. Davor gibt’s keinen Lohn!“ Mit dem Kugelschreiber strich er ihre Stunden durch oder riss sogar die Seite ein.
 „Nein, ojeh, das können wir doch nicht. Deutsch nicht Muttersprache“, riefen Olga und Saskia gleichzeitig. Ludmilla stand der Mund offen. Sie schien parallelisiert zu sein. Die Stimme klang gefühllos, als fehlte dem Prüfer die Fähigkeit zu empfinden überhaupt.
Erduan war im Begriff, an die Arbeit zurückzukehren. Er schaute aus Distanz zu. Es ging ihn ja nichts an. Aber dann wurde ihm die Vorgehensweise dieses Pedanten doch zu bunt. Er schätzte seine tüchtigen Kolleginnen, die er scherzhaft Bolschoias nannte. Ihnen wegen einer solchen Spitzfindigkeit den Lohn vorzubehalten, war eine Unverschämtheit. Er trat näher, ohne dass der Prüfer ihn bemerkte. Jetzt war ihm auch klar, warum die Kolleginnen sich außerhalb der Pause im Aufenthaltsraum aufhielten. Sie waren bestellt worden. Im Gegensatz zu anderen Mitarbeitern – wie ihm zum Beispiel – hielten sie sich nämlich strickt an die Zeiten.
Der Prüfer richtete sich auf und sah ihn skeptisch an.
„Wofür soll das gut sein?“, fragte Erduan so neutral wie möglich.
Der schien die Frage nicht zu begreifen. Er war wohl nicht gewohnt, dass man sein Urteil hinterfragte. Die Bolschoias sahen Erduan ängstlich an. Sein Eingreifen schien sie zu beunruhigen.
„Die Stunden sind geleistet worden“, sagte Erduan unbeirrt. „Was ändert das, wie sie geschrieben werden?“
Der Prüfer suchte nach einer passenden Antwort. „Es werden Kontrollen gemacht“, gab er in gewichtigem Ton zu bedenken. „Wenn da etwas nicht stimmt, sieht es für die Firma schlecht aus.“
„Ach so, konterte Erduan spitz, wenn das für die Firma so wichtig ist, dann muss man ihnen halt täglich eine halbe Stunde einräumen, um ihre Rapporte in Schönschrift zu schreiben. Auf jeden Fall gehört dies zur Arbeitszeit.“
Er stellte seine Tasse zu den andern ungespülten und schickte sich an, in den Fabrikraum zurückzukehren. Doch als er den Dreckhaufen in der Spüle sah, konnte er nicht vorbeigehen. Er holte den Mülleimer, stülpte sich eine Plastiktüte über die rechte Hand und beförderte den Dreck häppchenweise in den Eimer.
Am Ausgang traf er den Prüfer. Dieser trat ihm entgegen, anscheinend hatte er auf ihn gewartet.
„Wie meinen?“, sagte der Prüfer in einem Ton, der absolut nicht zu den akribischen Sätzen von davor passte.
Der will sich einschmeicheln, dünkte Erduan. Er schien an ihm interessiert zu sein. Das gab es wohl nicht oft, dass ihm jemand entgegentrat. Erst jetzt bemerkte Erduan, dass er ihn ja kannte. Das war ja der Frieder Reinert. Er hatte ihn gar nicht auf Anhieb erkannt. Im grauen Anzug wirkte er größer als sonst. Vor allem seine Augen wirkten riesig. Das kam von einer Brille, deren Gläser in einem ungewöhnlich breiten, flachen Rahmen steckten.
Damit er nebenraus nichts sieht, dachte Erduan.
Reinert reichte ihm ein Stück Schokolade. Ein Toblerone-Dreieck, mit einem linsenförmigen Loch in der Mitte. Er übergab es ihm irgendwie neckisch. Das löste die Spannung. Also ein bisschen Humor hat er doch, fand Erduan erleichtert. Da sie sich nun gegenseitig erkannt hatten, sprachen sie sich per Du an.
„Wie gefällt dir der Job?“, fragte er mit Schokolade im Mund.
Reinert strahlte. „Bin total happy“, sagte er. „Immer im Warmen. Stell dir vor, im Winter, wenn’s kalt ist draußen. Du gehst vom klimatisierten Auto in die geheizten Firmen.“ Doch mit einmal wurde er nachdenklich, fast trübsinnig.
„Weißt du, ich habe Krebs – am Ohr“, gestand der Prüfer. „Er drehte den Kopf zur Seite und fasste sich ans Ohrläppchen.
Erduan war gerührt, ob seiner Offenheit.
Reinert hielt ihm auch seine Hand hin und wies auf eine Vernarbung. „Probe entnommen, etwas entfernt“, bemerkte er lakonisch und stieß hervor. „Hat schon gestreut.“
„Das tut mir aber leid, sagte Erduan ehrlich. Trotzdem konnte er die Krankheit nicht als Entschuldigung für sein Auftreten gelten lassen. MLF

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