Er lag auf einer schmalen
Matratze, eingeengt zwischen zwei Wänden. Das Bett in der Kajüte war nicht
breiter gewesen, aber dort hatte er in einer Nische gelegen. Hier lag er am
Boden eingeklemmt in der Dunkelheit. Es verging eine geraume Zeit, bis ihm zu
Bewusstsein kam, wo er lag und warum er hier gelandet war. Aber just im Moment,
als ihm die ganzen Geschehnisse wieder in Erinnerung kamen, spürte er, da war
jemand in seiner Nähe. An der Fußseite saß eine Person und wartete, dass er ihr
Aufmerksamkeit schenkte. Mili, es ist Mili, sagte er sich. Ein glühend heißes
Verlangen überkam ihn. Doch wenn sie bei seinen Füßen saß, war sie wohl nicht des
Liebesspiels wegen gekommen. Er bog die Schulter hoch, winkelte den Arm an und
stützte den Kopf mit der Hand. Als Mili sicher war, dass er ihr zugewandt war,
hob sie an, ihre Geschichte zu erzählen. Wie schafft sie’s nur, mir überall hin
zu folgen?, fragte er sich und hörte ihr gebannt zu. AS
Schon über ein Jahr arbeitete er in dieser Firma. Mal hatte er
anspruchsvolle Arbeit, mal Fleißarbeit. Ihm gefiel diese Mischung. Da die Firma
ziemlich groß war, stand er mit vielen Kollegen und Kolleginnen in Kontakt, ein
weiterer Grund sich am richtigen Arbeitsplatz zu fühlen. Von den Kolleginnen
mochte er am liebsten die Frauen aus Bolschoi. Sie waren nicht zimperlich,
konnten kräftig zupacken, erwiesen sich aber als gemütvoll und mochten deftige
Witze. Zwar hatten sie auch ihre Zipperlein, zeigten deswegen aber nicht den
ganzen Tag ein griesgrämiges Gesicht. Nur eines störte ihn – dass sie niemals
aufbegehrten.
An dem Morgen, da Prüfer Reinert in die Firma kam, lief Erduans
Arbeit nicht gut. Die Chefin folgte einem Plan, der seines Erachtens nicht in
die Praxis umzusetzen war. Er plädierte für einen Rahmen, der die vielen
kleineren Möbelteile umfasste und ihnen Stabilität gab. Die Chefin wollte von
diesem Rahmen nichts wissen.
„Ohne den Rahmen drum herum, wird das Ensemble einen zu unruhigen
Eindruck machen“, erklärte er ihr, als sie an diesem Morgen vorbeikam, zum
x-ten Mal. „Der Hauptpunkt aber ist die mangelnde Stabilität. Wenn man das
Ensemble im Raum verschieben möchte, wird sich der fehlende Zusammenhalt als
hinderlich erweisen.“
Sie machte es ganz kurz: „Einen Rahmen will ich nicht!“
Er nickte unmutig. Durch dieses klare Nein war seine Hoffnung,
sie doch noch überzeugen zu können, zunichte. Jetzt galt es zu überlegen, wie
er einzelnen Elementen die stabilisierende Rolle eines Rahmens übertragen
konnte. Im Moment überforderte ihn diese Frage. Mal ne Pause machen, sagte er
sich, vielleicht geht es danach leichter. Die Pausenzeit war schon vorbei, als
er in den Aufenthaltsraum ging.
Aus dem Regen geriet er unter eine überfließende Regenrinne. So
kam er sich vor, als er in den Raum trat. Obwohl die Zeit außerhalb der Pause
lag, war der Raum voll von Mitarbeitern. Die Bolschoias, die sonst die Pausenzeiten
pünktlich einhielten, saßen gedrängt beieinander und wirkten irgendwie bedrückt,
also gar nicht, wie er sie sonst kannte. Beim Spülbecken goss ein Kollege
heißes Wasser in den Abfluss. Das Wasser gurgelte und spuckte. Dabei kamen
Haufen von Abfällen, die man achtlos in den Siphon gespült hatte, zum Vorschein.
Kaffeesatz, Gemüsereste, Brotstücke und sogar Notizzettel. Schafft ihr das denn
mindestens jetzt weg?, lag ihm auf der Zunge zu fragen. Oder spült ihr’s
einfach wieder runter? Er hielt sich aber auf Abstand, ging zur Kaffeemaschine
und ließ sich eine Tasse einlaufen.
„Wie steht es denn jetzt mit dem Möbel, Rahmen oder kein Rahmen?“,
wurde gefragt.
„Kein Rahmen“, sagte er trocken. Er stockte. Just fiel ihm der
Name seiner Chefin nicht ein. Sein Gedächtnis war überaus eigenwillig. Wenn es
jemandem nicht gut gesonnen war, verweigerte es den Dienst. Luisa, Luisa hieß
sie. Er schaute auf die Uhr. Es war schon Viertel vor Zwölf. Den letzten
Schluck trank er stehend. Ein Blick ins Waschbecken zeigte, den Haufen hatte
niemand entfernt. Seine Aufgabe war das nicht.
Wie er gehen wollte, sah er einen Prüfer bei den Bolschoias. Dieser
kontrollierte ihre Stundenhefte. Ludmilla, Saskia und Olga saßen da wie
gelähmt.
„Schreibfehler, lauter Schreibfehler“, stieß dieser mit der
unangenehmen, spitzen Stimme eines Pedanten hervor. „Das schreibt ihr alles
neu. Davor gibt’s keinen Lohn!“ Mit dem Kugelschreiber strich er ihre Stunden
durch oder riss sogar die Seite ein.
„Nein, ojeh, das können
wir doch nicht. Deutsch nicht Muttersprache“, riefen Olga und Saskia
gleichzeitig. Ludmilla stand der Mund offen. Sie schien parallelisiert zu sein.
Die Stimme klang gefühllos, als fehlte dem Prüfer die Fähigkeit zu empfinden
überhaupt.
Erduan war im Begriff, an die Arbeit zurückzukehren. Er schaute
aus Distanz zu. Es ging ihn ja nichts an. Aber dann wurde ihm die
Vorgehensweise dieses Pedanten doch zu bunt. Er schätzte seine tüchtigen
Kolleginnen, die er scherzhaft Bolschoias nannte. Ihnen wegen einer solchen
Spitzfindigkeit den Lohn vorzubehalten, war eine Unverschämtheit. Er trat
näher, ohne dass der Prüfer ihn bemerkte. Jetzt war ihm auch klar, warum die
Kolleginnen sich außerhalb der Pause im Aufenthaltsraum aufhielten. Sie waren
bestellt worden. Im Gegensatz zu anderen Mitarbeitern – wie ihm zum Beispiel –
hielten sie sich nämlich strickt an die Zeiten.
Der Prüfer richtete sich auf und sah ihn skeptisch an.
„Wofür soll das gut sein?“, fragte Erduan so neutral wie möglich.
Der schien die Frage nicht zu begreifen. Er war wohl nicht
gewohnt, dass man sein Urteil hinterfragte. Die Bolschoias sahen Erduan
ängstlich an. Sein Eingreifen schien sie zu beunruhigen.
„Die Stunden sind geleistet worden“, sagte Erduan unbeirrt. „Was
ändert das, wie sie geschrieben werden?“
Der Prüfer suchte nach einer passenden Antwort. „Es werden
Kontrollen gemacht“, gab er in gewichtigem Ton zu bedenken. „Wenn da etwas
nicht stimmt, sieht es für die Firma schlecht aus.“
„Ach so, konterte Erduan spitz, wenn das für die Firma so wichtig
ist, dann muss man ihnen halt täglich eine halbe Stunde einräumen, um ihre
Rapporte in Schönschrift zu schreiben. Auf jeden Fall gehört dies zur
Arbeitszeit.“
Er stellte seine Tasse zu den andern ungespülten und schickte
sich an, in den Fabrikraum zurückzukehren. Doch als er den Dreckhaufen in der
Spüle sah, konnte er nicht vorbeigehen. Er holte den Mülleimer, stülpte sich
eine Plastiktüte über die rechte Hand und beförderte den Dreck häppchenweise in
den Eimer.
Am Ausgang traf er den Prüfer. Dieser trat ihm entgegen,
anscheinend hatte er auf ihn gewartet.
„Wie meinen?“, sagte der Prüfer in einem Ton, der absolut nicht
zu den akribischen Sätzen von davor passte.
Der will sich einschmeicheln, dünkte Erduan. Er schien an ihm
interessiert zu sein. Das gab es wohl nicht oft, dass ihm jemand entgegentrat.
Erst jetzt bemerkte Erduan, dass er ihn ja kannte. Das war ja der Frieder
Reinert. Er hatte ihn gar nicht auf Anhieb erkannt. Im grauen Anzug wirkte er größer
als sonst. Vor allem seine Augen wirkten riesig. Das kam von einer Brille,
deren Gläser in einem ungewöhnlich breiten, flachen Rahmen steckten.
Damit er nebenraus nichts sieht, dachte Erduan.
Reinert reichte ihm ein Stück Schokolade. Ein Toblerone-Dreieck, mit
einem linsenförmigen Loch in der Mitte. Er übergab es ihm irgendwie neckisch.
Das löste die Spannung. Also ein bisschen Humor hat er doch, fand Erduan
erleichtert. Da sie sich nun gegenseitig erkannt hatten, sprachen sie sich per
Du an.
„Wie gefällt dir der Job?“, fragte er mit Schokolade im Mund.
Reinert strahlte. „Bin total happy“, sagte er. „Immer im Warmen.
Stell dir vor, im Winter, wenn’s kalt ist draußen. Du gehst vom klimatisierten
Auto in die geheizten Firmen.“ Doch mit einmal wurde er nachdenklich, fast
trübsinnig.
„Weißt du, ich habe Krebs – am Ohr“, gestand der Prüfer. „Er
drehte den Kopf zur Seite und fasste sich ans Ohrläppchen.
Erduan war gerührt, ob seiner Offenheit.
Reinert hielt ihm auch seine Hand hin und wies auf eine
Vernarbung. „Probe entnommen, etwas entfernt“, bemerkte er lakonisch und stieß
hervor. „Hat schon gestreut.“
„Das tut mir aber leid, sagte Erduan ehrlich. Trotzdem konnte er
die Krankheit nicht als Entschuldigung für sein Auftreten gelten lassen. MLF
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