Dienstag, 5. Juni 2012

61 Modellstadt zerstört j

Einen Tag vor Bekanntgabe der Preisträger sah er von draußen zu, wie die Vorbereitungen für den festlichen Akt getroffen wurden. Dabei bemerkte er, dass es graduell dunkler wurde. Eine dünne Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben. Er konnte auf die leuchtende Scheibe am südwestlichen Himmel schauen, ohne geblendet zu werden. Da sah er etwas ganz Ungewöhnliches – neben der Sonne war eine Sanduhr.
„Bei der Sonne ist eine Sanduhr“, rief er den Anwesenden zu. Manche drehten sich um, aber niemand drückte sein Erstaunen aus. Tommy schaute noch genauer hin und da sah er, dass unweit der Sanduhr die ganze Modellstadt, die sie als Gedankenarbeiter geschaffen hatten, dort oben stand, säuberlich angeordnet. Jella hatte also ihr gemeinsames Gedankenprojekt hochgesandt. Von ihm aus gesehen lag sie unterhalb der Sonne. Wenn die Modellstadt bei dieser Entfernung so deutlich zu sehen war, so bedeutete das, dass sie zu voller Größe angewachsen war. Dies verstand er als ein gutes Omen. Manche Häuserreihen wirkten zwar etwas papieren, aber mit gutem Willen konnte er darin klar die Wirklichkeit gewordenen Vorsätze erkennen. Wie er die Häuser dort oben sah, war er doch beeindruckt, was diese Gruppe geleistet hatte.
Die Andern reagierten nicht. Ob sie die Stadt nicht erkannten oder ihre Bedeutung nicht begriffen? Er ging weiter. Blieb aber schon bald wieder stehen. Er konnte sich nicht sattsehen, an diesem fantastischen Gebilde. Doch jetzt fiel ihm noch etwas anderes auf. Ein großer weißer Wagen fuhr auf diese Stadt zu. Er schien fast zu groß für die Straßen. Tommy hatte kein gutes Gefühl dabei. Seitlich und in der Front waren drei schwarze Profile eingelassen, die vorne herausragten. Der große weiße Wagen mit den schwarzen Ausbeulungen fuhr direkt in die Stadt hinein, ohne Rücksicht auf Verluste.
„Halt!“, schrie er unwillkürlich. Er dachte an all den Fleiß und die Liebe, die Jella und ihre Mitstreiter darauf verwendet hatten. Aber sein Aufschrei half nichts. Er musste zusehen, wie ganze Häuserreihen weggeschoben wurden. Das Gebäude mit seiner neuen Wohnung stürzte ein. Eingreifen konnte er nicht. Niemand von da unten.
Aber er fasste den Entschluss den Wagen wenigstens zu fotografieren. Jella und ihre Gruppe mussten wissen, was da vorgegangen war. Sie hatten in ihrem Eifer wohl nicht bedacht, dass etwas, das jemand in Gedanken erschuf, von anderen wieder zerstört werden konnte. Das wollte er ihnen anhand eines Bildes beweisen. Seinen Apparat hatte er jedoch zuhause gelassen. Bis er diesen geholt hätte, wäre die Stadt schon längst zerstört und der Wagen wieder verschwunden. In seiner Nähe hielten sich zwei junge Frauen auf, Kunsttherapeutinnen. Die eine hatte eine Kamera umhängen. Er wies nach oben, bat, drängte sie, ein Bild zu machen. „Ich brauche ein Zeugnis“, rief er eindringlich.
Widerwillig zeigte sie sich schließlich bereit. Sie hob den Bändel über die Schulter, entfernte den Linsenschutz, drehte die Entfernung auf die liegende Acht, stellte Lichtempfindlichkeit und Brennweite ein. Aber just, als sie die Kamera anhob, stand plötzlich eine trennende Nebelwand vor ihnen und zwar nicht waagrecht, sondern aufrecht vom Boden hoch wie eine Wand. Bei genauerem Hinsehen waren es sogar zwei Nebelschichten mit lichtem Zwischenraum innerhalb. Tommy hatte sowas überhaupt noch nie gesehen. Er trat in die erste Schicht, passierte sie und blieb zwischen den beiden Wänden kurz stehen. Dann drang er durch die zweite Schicht. Aber bis er drüben war, breitete sich dahinter dichter Nebel aus. MLF

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