Montag, 19. März 2012

25 Das Haus in Semperach i

Toni glaubt, Mili sei da, aber sehen kann er sie nicht. Er versucht die Hand auszustrecken, schafft es aber nicht. Die Decke lastet auf ihm, als hätte sich ihr spezifisches Gewicht verändert. Nicht mehr Federn, sondern feuchte Späne füllen sie an. Spinnweben haben sich über das Bett gelegt. Mili kommt, sieht die Netze und geht wieder. Er schreit.
In dem Moment wacht er auf. Ihr Gesicht über ihm. Sie nähert sich und küsst ihn. Da ist der Spuk vertrieben. Sie lieben sich wie sonst. Sogar noch etwas doller.
Anschließend berichtet sie vom Haus in Semperach. AS


Das Haus, in dem Jasmus wohnt, ist wahrscheinlich so alt wie die Rückwand, die von der Stadtmauer Semperachs gebildet wird. Aber gerade deswegen kann er sich so schwer von diesem Haus trennen, weil es so gemütlich ist, mit den alten Mauern, der quietschenden Treppe und dem Rinnstein als einzige Waschmöglichkeit. Als er sich damals von zu Hause gelöst hat, ist er in diese WG eingezogen und da ist er immer noch. Neue Gesichter sind dazugekommen, aber ein paar von den alten gehören auch noch dazu, Martina zum Beispiel und Oliver. Ruben [Stadt Degerhöhe, 02.03.] macht ab und zu noch Zwischenhalt bei ihnen. Meist genießt Jasmus die bitter-süße Nostalgie dieses Lebens, manchmal stößt es ihm aber auch sauer auf. Dann träumt er von einem Abenteuerleben, möchte unterwegs sein wie die Fahrenden, verweilen und wieder aufbrechen. Das Städtchen am Sauersee ist bekannt, weil hier einst eine große Truppe waffenstarrender Habsburger ihren vermeintlichen Sieg gegen die Rütli-Partisanen vorab gefeiert hat.
Als Oliver ihn fragt, ob er mit zum Theater gehe, wehrt Jasmus erst ab. Er erwartet Ruben und Ingrid, die vom Land an der Rheinmündung zurückkehren. Aber als diese dann anrufen, sie schafften es heute wohl nicht mehr, willigt er ein. Das Städtchen besitzt kein extra Theatergebäude, dafür aber einen schönen alten Kinosaal. Kleinere Truppen ziehen es vor, in diesem Saal, statt in der Mehrzweckhalle im Neubaugebiet aufzutreten. Die beiden setzen sich erst in die Mitte des Zuschauerraums, rutschen dann aber mit den andern Gästen nach links, da die Bühne von einer Trennwand halbiert ist und nur auf der linken Seite gespielt wird.
„Wieso das?“, fragt Jasmus flüsternd. Ihm ist nicht klar, warum sie diese Beschränkung vorgenommen haben.
Oliver weist zur Bühne links und raunt, „die Fenster.“
Aber erst als sie zu spielen beginnen, wird ihm die Bedeutung der Fenster klar. Sie spielen ohne Beleuchtung und sind folglich aufs Licht von draußen angewiesen. Die Spieler tragen dunkle, asiatische Kleider wie Kampfsportler, aber aus dünnen Stoffen. Am Anfang kann Jasmus der Handlung gut folgen und er ist sogar recht angetan davon. Aber je dunkler es draußen wird, umso schwerer fällt ihm, dem Geschehen auf der Bühne zu folgen. Ihn drängt es zu rufen: Licht an!, aber er hält sich zurück. Schließlich sieht er gar nichts mehr. Als es längere Zeit still bleibt, erheben sich die Zuschauer und verlassen den Raum. Die Schauspieler stehn jetzt draußen im Flur, noch in den gleichen Kleidern. Was ihnen durch ihren lautlosen Abgang an Applaus verloren gegangen ist, möchten sie wohl in Form von Komplimenten wieder einheimsen. Jasmus drückt sich vorbei. Die Begeisterung, die einzelne zeigen, teilt er nicht.

Draußen vor dem Kino an der Straße sieht Jasmus eine Frau sitzen. Sie trägt einen bunten Rock, die nackten Füße in Flipflops. Ihr markantes Gesicht ist verlockend schön. Eine Fahrende, schießt ihm durch den Kopf. Da er nicht weiß, wie er sich ihr nähern soll, holt er seinen Geldbeutel hervor und entnimmt ihm mehrere fünfzig Cent Münzen. Als er ihr das Geld entgegenstreckt, zieht Oliver ihn weg. Einen Fünfziger kriegt sie zu fassen, die andern fallen zu Boden, rollen weg und verschwinden in einem Schacht.
„Was soll das?“, entrüstet er sich.
„Du spinnst ja wohl“, zischt Oliver zurück.
Ungern löst sich Jasmus von der Fahrenden. Er blickt zu ihr zurück. Aber Oli zieht ihn mit sich. Etwas weiter klärt ihn sein Mitbewohner auf: „Die sind alle krank, haben Läuse und Würmer, wenn nicht gar HIV.
„Ich wollt ja nicht gleich mit ihr ins Bett“, stößt Jasmus verärgert hervor. „Es hätte mich vielmehr interessiert….“ Er verstummt mitten im Satz. Ihm wird klar, dass er seine Pläne nicht mit Oliver teilen möchte. Er hat gehofft über diese Frau Kontakt zu Fahrenden zu finden. MLF

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