Freitag, 30. März 2012

31 Der gefrorene Himmel i

Als Toni aufwacht, liegt seine nächtliche Gefährtin regungslos da. Er legt seine Hand auf ihre Taille und erschrickt. Ihr Körper ist starr. Erschrocken fährt er hoch. Doch sie atmet, ihre Brüste heben und senken sich. Seine Angst weicht und er betrachtet sie. Stirn und Nase, von perfekter Schönheit, strahlen eine Kälte aus, die ihn frösteln lässt. Ihr Mund dagegen und ihre Wangen verraten Leidenschaft und Unberechenbarkeit. Erst als sie die Augen öffnet und ihn anblickt, hat er seine Mili wieder und das Vertrauen kehrt zurück. Sie lächelt, zieht ihn an sich und sie lieben sich.
Daraufhin erzählt sie ihm die folgende Geschichte. AS


Die Wohnung des Freundes befindet sich im obersten Geschoss eines hohen, soliden Stadthauses. Lothar findet hier eine Bleibe für die Dauer einer Arbeit, die er sich vorgenommen hat. Es ist nicht ganz die Art zu wohnen, die ihm gefällt. Ein zweistöckiges Haus mit etwas Umschwung entspräche ihm mehr. Doch im ungenutzten Dachgeschoss darüber findet sich genügend Raum, eine Aufgabe anzupacken, die schon seit längerem ansteht. In dem fensterlosen Raum verwahrt er Material, das er über einen längeren Zeitraum gesammelt hat. Zwei Bekannte sind ebenfalls an den Aufzeichnungen interessiert und unterstützen ihn bei der Sichtung des Materials. Imelda, Psychologin und Analytikerin und Tamura, gebürtiger Japaner und Linguist. Die Interessen der beiden sind ziemlich verschieden. Während Imelda nach wertvollen Passagen sucht, an denen sie sich erbauen kann, prüft Tamura das Material auf Verwertbarkeit für eine eventuelle Veröffentlichung. Ideal für diese Arbeit ist der Dachraum nicht. Die Seiten sind abgeschrägt. Nur in der Mitte kann man aufrecht stehen. Das Material liegt in einem Dutzend Bananenkisten bereit. Tamura greift einen Ordner heraus und sagt.
„Wir müssen herausfinden, welcher Aufwand nötig ist, um die Texte ansprechend präsentieren zu können. Wichtig ist, potentielle Leser ins Auge zu fassen.“
Imelda entgegnet darauf. „Wenn die Inhalte für mich und für Lothar wertvoll sind, dann auch für die Leser, gewiss zumindest.“
Tamura, der sich mit ihrer Ausdrucksweise nicht leicht tut, schweigt dazu.
Da die Möbel fehlen, setzen sie sich auf den Boden und fangen an, jeder für sich, die über viele Jahre gesammelten Blätter zu sichten. Beim Licht der Glühbirne, die in der Fassung steckt, können sie nicht lesen. Lothar findet unten in der Wohnung eine stärkere Birne. Eine Stromsparleuchte, die angeblich 75 Watt erzeugt. Aber sie hat nicht die gleiche Strahlkraft wie eine herkömmliche.
Wenn etwas wie Heftklammern, Notizblätter, Klebstoff… fehlt, geht Lothar nach unten und holt es aus der Wohnung oder in einem Laden. Er sorgt auch für die Verpflegung.
Dabei kommt er jedesmal an der Glastür vorbei, durch die man vom Flur auf die schmale Dachterrasse gelangt. Da sein Freund ganz oben wohnt, zeigt sich ein weiter Ausblick. Nur ist das Wetter in diesen Tagen nicht danach, die Aussicht zu genießen. Der Himmel ist grau und hängt sehr tief. Dass dieser niedrige Himmel immer gleichbleibend starr wirkt, zieht schließlich Lothars Aufmerksamkeit auf sich. MLF

Donnerstag, 29. März 2012

30 Das Gebäude auf tönernen Füßen j

Am nächsten Morgen fängt es gerade an zu dämmern, als er aufwacht. Er nutzt die Gelegenheit und bricht gleich auf. Als er oben ankommt, ist niemand da, nur Katzen streichen ums Haus. Er kniet sich nieder und wartet bis eine graue sich nähert. Sie lässt sich streicheln, geht aber bald weiter. Rechts vom Hauptgebäude führt eine Treppe auf das Dach des einstöckigen Anbaus. Unter der Treppe stehen Bottiche. Es sieht aus, als würden hier Versuche gemacht. Bei näherem Hinsehen hat er den Eindruck, dass die Experimente schon seit längerem aufgegeben worden sind. Er wartet noch eine Weile, aber niemand von den Bewohnern zeigt sich. Unbefriedigt kehrt er zu seinem Lager zurück.
Kermit sucht nach einem Vorwand, unter dem er eine Besichtigung des Hauses erbitten könnte. Aber es fällt ihm nichts ein. Plötzlich überkommt ihn ein Rappel, er greift ins Zelt, fasst einen Pantoffel und schleudert diesen in Richtung des Hauses. Der Pantoffel prallt auf einen der Stämme und verfehlt das Ziel. Aber er geht hinterher, greift ihn wieder auf, wirft erneut und schließlich hört er ein Klirren. Schrille Stimmen folgen als Echo. Er steigt hoch und sieht zwei Personen bei den Testbottichen. Die Glasscheibe auf einem der Gefäße ist zerschlagen.
„Sie haben unsere Versuchsstation beschädigt!“, rufen die beiden Personen gleichzeitig. Es sind seltsame Menschen, als hätten sie keine Persönlichkeit. Eine Frau und ein Mann, aber sie unterscheiden sich kaum. Ihre blassrote Kleidung – Hose und Jackett – unauffällig wie die Firmenkleidung von Büropersonal unterscheidet sich nicht. Ebenso die Frisur, rund am Kopf anschließend mit Stirnfranse. Kermit schaut den Bottich nochmal an. Er hat den ältesten der Versuchsreihe getroffen. Aber selbst die neueren scheinen nicht mehr in Benutzung zu sein. Er sieht, dass kein wirklicher Schaden entstanden ist, entschuldigt sich aber trotzdem.
„Tut mir leid. Es war nicht meine Absicht, Schaden zu verursachen. Aber ich wusste nicht, wie ich jemanden erreichen könnte. Ist es denn möglich, dieses Haus zu besichtigen?“
Die beiden schauen sich an. Entweder sind sie auf eine solche Frage nicht vorbereitet oder der Zwischenfall mit den Scherben hat sie aus ihrer Rolle geworfen. Schließlich fassen sie sich, verbeugen sich gleichzeitig.
„Aber selbstverständlich, sie können dieses Haus jederzeit besichtigen“, sagt die Person, die Kermit aufgrund ihrer weicheren Gesichtszüge für eine Frau hält. Sie macht aber keine Anstalten ihn ins Haus zu führen. Erst als er fragt. „Jederzeit – könnte das auch jetzt sein?“ Geht sie ihm voran zur Treppe. Der Mann greift nach einer Schaufel und kehrt die Scherben weg.
Über die Außentreppe erreichen sie die Dachterrasse des Anbaus. Die Tür zum Haus steht offen. Jetzt, da nur eine Person bei ihm ist, fühlt sich Kermit doch wieder unsicher, ob es wirklich eine Frau ist. Eigentlich ist es egal, denkt er, Hauptsache ich gelange ins Innere des Hauses. Drinnen steigt die Hausführerin – er hat sich entschieden, dass es die Frau ist – ihm voraus die Treppe hinab. Sie geleitet ihn unten durch eine große, altertümliche Küche in einen Zwischenraum und von diesem in den großen Raum auf der unteren Seite des Hauses. Die Führerin weist auf die Wände dieses Raumes. Kermit sind sie bereits ins Auge gefallen, er hätte ihres Hinweises nicht bedurft. Die Wände sind rötlich-braun wie Terrakotta-Gefäße. Sie werden von riesigen gebrannten Tonelementen gebildet. Wie um auf die Verwandtschaft mit Gefäßen hinzuweisen, sind sie in gewissen Abständen mit den Schleifen und floralen Mustern verziert, wie man sie von Keramik-Gefäßen kennt. Eigentlich bedürfte es des Tests gar nicht. Trotzdem klopft er, in einem Moment, da sich die Hausführerin umdreht, mit dem Knöchel an den Ton. Er ist sich schon im Voraus sicher. Tatsächlich ertönt der hohle Klang, den er vermutet hat. In diesem unteren Geschoss sind alle Wände so gebildet, das sieht er auf dem Rückweg. Das Gebäude steht auf tönernen Fußen. Wie wird es oben sein?, fragt er sich, denn beim Runtersteigen hat er nicht auf die Wände geachtet. Oben angekommen sieht er, die Wände sind da genauso. Die Hohlform erstreckt sich also über mindestens zwei Stockwerke. Ob es in den oberen Stockwerken auch so ist, lässt er offen. Er möchte nicht lästig fallen. Im Grunde hat er genug gesehen. Wieder draußen auf der Terrasse bedankt sich Kermit.
„Sehr freundlich, dass Sie mich haben eintreten lassen.“
„Wir sind jederzeit für Sie da. Wenn Sie Fragen haben, beantworten wir diese gerne. Sie dürfen jederzeit wiederkommen“, sagt die Führerin mit einer Stimme, die so hohl klingt wie die Wände.
Natürlich hat er Fragen. Wie ist es zu dieser Bauweise gekommen? Warum sind die Wände hohl? Widerspricht das nicht den Standards des modernen Datenschutzes? Und und und. Aber von einem Personal, das seine Sätze nur wiederholt, ohne sie zu bedenken, erwartet er keine Aufschlüsse.
Unten hat er sie wieder beide nebeneinander. Jetzt sieht er, dass es tatsächlich die Frau gewesen ist, die ihn begleitet hat. Ihr Jackett ist in Brusthöhe leicht ausgebeult, aber nur minimal. Kermit bedankt sich ein zweites Mal und geht.
Beim Zelt ruht er sich eine Weile aus, lässt den Besuch nochmal Revue passieren. Das Haus am Hang eines bewaldeten Sandhügels. Die Lamas mit Gesichtern von Frauen, die Katzen in der Morgendämmerung, das Personal ohne Persönlichkeit und die riesigen, gegossenen Gefäße als Mauern. Er hat das seltsame Gefühl, als hätte sich an seinem Leben etwas geändert. Unmerklich, aber nachhaltig. Als könnte er nie mehr ganz für sich sein. Weder wenn er es wünschte, noch wenn er das Alleinsein verfluchte. Ändern kann ich nichts, sagt er sich, aber es ist gut zu wissen, wie sich die Dinge verhalten.
Zufrieden mit seiner Erkundungstour – er glaubt gesehen zu haben, was es hier zu sehen gilt –bricht er das Zelt ab und beendet die Reise. MLF

Mittwoch, 28. März 2012

30 Das Gebäude auf tönernen Füßen i

Beim Einschlafen konnte es Toni kaum erwarten, bis er wieder in Milis Armen liegen würde. Doch als er nachts aufwachte und sie gegenüber sah, kam sie ihm irgendwie fremd vor. Er war selbst nicht richtig bei sich. Ein Teil von ihm schwebte über dem Bett und beobachtete, wie sie sich ihm darbot und wie er auf sie reagierte. Er glaubte einem Paarungstanz von Vögeln beizuwohnen. Ornithologen haben herausgefunden, dass das Männchen den Tanz fortsetzt, wenn das Weibchen durch eine Strohpuppe ersetzt wird. Während der stärksten Glut der Vereinigung wich dieses Gefühl. Aber nur um danach mit doppelter Intensität zurückzukehren.
Mechanisch schob sich seine Bettgefährtin auf dem Kissen nach oben. Selbst ihre Stimme klang fremd – irgendwie tönern – während sie die folgende Geschichte erzählte. AS

Nach der beängstigenden Erfahrung über dem Atlantik, mit der Panik vor den fremden Flugzeugen und den Aggressionen gegen sie, ist Kermit nicht mehr so erpicht darauf, Expeditionen auf eigene Faust zu unternehmen. Mehrmals schon haben ihn solche Fahrten in einen Strudel kollektiver Ängste gerissen, die jedesmal in einem immer wieder anders gearteten, alptraumartigen Fiasko geendet haben. Im Bündner Erdbebengebiet hat Kermit einen Coach gefunden. [Luft wie Wasser, 21.02.] Der Bündner hat es nicht offen ausgesprochen, hat ihm aber indirekt zu verstehen gegeben, dass er ihm gerne bei seinen Entdeckungsreisen beistehen würde. Als der Coach ihm zu einem Aufenthalt an einen exotischen Ort, nahe am Meer rät, geht er auf den Vorschlag ein und reist dorthin.
Auf einem Hügel, der aus einer Düne entstanden ist, schlägt er sein Zelt auf. Ein leichter Wind weht durch die Bäume und trägt den Geruch des Meeres zu ihm. Um die Zeltschnüre spannen zu können, steckt er die Heringe hinter Wurzeln, damit sie in dem sandigen Boden Halt finden. Als das Zelt steht, breitet er eine Decke aus und ruht sich aus. Ähnlich wie im Bündner Erdbebengebiet ist auch hier das Gelände uneben und bewaldet. Der Untergrund ist allerdings ein sandiger und zwischen den anspruchslosen Kiefern finden sich einzelne Palmen. Was Kermit das Gefühl vermittelt auf einer exotischen Insel zu sein. Aber er ist nicht hier, um sich zu entspannen, sondern um auf Entdeckung zu gehen. Dessen ist er sich bewusst, auch wenn er noch keine Vorstellung davon hat, was es hier zu erkunden gilt.
Im Sitzen dringt sein Blick durch die Bäume und lässt ihn nicht weit entfernt ein Gebäude erkennen. Es steht an einem Hang, der deutlich höher ansteigt, als der Standpunkt, auf dem er sich eingerichtet hat. Auf dem Vorplatz vor dem Gebäude kann er Gestalten erkennen, die sich bewegen. Seine Neugierde ist geweckt. Er möchte erfahren, was es mit diesem Gebäude, in einem lichten Wald, auf unebenem Gelände, nicht weit vom Meer entfernt, auf sich hat.
Er trinkt noch einen Schluck Wasser aus der Flasche, rafft sich dann auf und rutscht in die Senke hinab, die ihn von dem größeren Hügel trennt. Sich an Pflanzen und Wurzeln haltend arbeitet er sich zum Weg hoch, der an dem Gebäude vorbei führt. Er erklimmt den Weg etwas unterhalb des Hauses. Dieser steigt nach rechts hin an und bildet den leicht geneigten Vorplatz des Hauses. Dort sieht er Tiere, von denen er nicht weiß, ob es Lamas oder kleine Kamele sind, und eine Hand voll Personen, die einfache Arbeiten verrichten und sich dabei unterhalten. Als Tourist, der zufällig einen Abstecher von der Küste aus macht, mag man ihn einschätzen. Die anwesenden Menschen scheinen ihn nicht zu bemerken oder sie sind vom Typ Einheimischer, die Touristen bewusst keine Aufmerksamkeit schenken. Umso neugieriger zeigen sich die drei Tiere. Sie fixieren ihn und folgen ihm mit ihren großen Augen. Er ist sich noch immer nicht sicher, um welche Gattung es sich handelt. Wenn sie sich nicht bewegten, würde er sie glatt für Stofftiere halten. Aber als er an ihnen vorbeigeht, drehen sie alle gleichzeitig ihren Kopf und verfolgen ihn weiter. Er hat das seltsame Gefühl, als wenn ihn Frauengesichter betrachteten. Unweit vom Haus steigt er wieder in den Wald hinab und kehrt zurück zum Zelt.
Dieser kurze Entdeckungsgang hat seine Neugierde keinesfalls gestillt, sondern sie vielmehr angefacht. Es ärgert ihn, dass er sich von den Blicken der Lamas – er hat sich entschieden, dass es Lamas sind – gefangen hat nehmen lassen und es versäumt hat, den Kontakt zu den anwesenden Personen zu forcieren. Am liebsten würde er gleich zurückkehren. Aber dies scheint ihm für seine Mission nicht günstig. Also ruht er sich aus, liest ein bisschen und lässt Zeit verstreichen. MLF

Dienstag, 27. März 2012

29 Der Zug des Herzens j


 „Es würde mich mal interessieren, was aus all den Stücken wird, die an meinem Platz zugeschnitten werden?“, fragt Erduan den Product Manager.
„Sie können mich gerne begleiten, wenn Sie interessiert sind. Ich muss sowieso etwas erledigen oben. Sollen wir gleich gehen?“, bietet dieser ihm an.
Erduan nickt mit Nachdruck.
Über einen langen Flur und einen Lift gelangen sie nach draußen und stehen unter einer lichten Überdachung vor einem Wirrwarr von Stellwänden. Als in der Ferne jemand auftaucht, tritt sein Begleiter unvermittelt in eine der Öffnungen. Kurze Zeit später hört Erduan von drinnen ein Wiehern und noch eines. Die Person in der Ferne scheint darauf zu reagieren, sie verschwindet ebenfalls in dieser labyrinthartigen Anlage.
Nach einer Zeitspanne kehrt der Product Manager zurück. Er trägt den Kopf eines Pferdes, samt Hals unter dem Arm. Erduan starrt halb misstrauisch, halb bewundernd auf diesen Kopf eines schönes silbergrauen Araberpferdes. Aufgrund des Wieherns, hat er geschlossen, dass es sich bei dieser Anlage um eine Pferdestallung handelt. Der Pferdekopf irritiert ihn.
Der Begleiter nimmt jetzt einen der Eingänge und winkt ihm zu folgen. Ein leises Schauern überkommt Erduan, als sie die labyrinthische Anlage betreten. Die hohen Wände lassen keinerlei Überblick zu. Nach wenigen Abzweigungen hat er schon jede Orientierung verloren. Der Begleiter bleibt schließlich vor einer unauffälligen Tür stehen. Er stellt den Pferdekopf mit dem Halsquerschnitt auf den Boden und schließt die Türe auf. Erst jetzt erkennt Erduan in diesem Kopf eine überdimensional große Springerfigur. Sie betreten einen einfachen Raum. In der Mitte des nur etwa zehn Quadratmeter großen Raumes steht ein einfacher Tisch, die Wand linkerhand ist von einem Regal verdeckt. Das ist die ganze Möblierung. Der Tisch ist aus hellem Birken- oder Ahornholz gefertigt. Die schlichte Platte überragt kaum die Zargen, die den vier glatten Beinen Stabilität geben. Sein Blick fällt auf ein Buch, das flach im Regal liegt. Das Cover ist aufwändig gestaltet, mit reliefartigen Vertiefungen. Er nimmt das Buch aus dem Regal und legt es auf die Tischplatte. Sodann schließt er die Augen und ertastet mit den Fingerspitzen die vielfältigen Formen. Dann schlägt er es auf und liest. ,Dem interessierten Leser erschließt dieses Buch viele Weisheiten und Geheimnisse‘.
Erduan zweifelt nicht, dass es sich um ein kostbares Buch handelt. Trotzdem schaut er skeptisch auf das Buch. Soll ich mir das wirklich antun, in diesem Buch zu lesen?, fragt er sich. Zum Product Manager gewandt, äußert er.
„Was nützen mir Weisheiten? Da werde ich doch bloß zu einem Stubengelehrten, zu einem Sophisten.“
Der Begleiter macht einen verwunderten Eindruck. Anscheinend kann er Erduans Zurückhaltung nicht verstehen.
Mehr seinem Begleiter zuliebe nimmt Erduan das Buch mit.
Aber das Buch hat eine große Wirkung auf ihn. Schon am Tag drauf – das Wochenende ist gekommen – geht er zum Bahnhof und steigt in den Zug ein. Der Zug trägt die Aufschrift le train du coeur und fährt nach Paris. MLF

Montag, 26. März 2012

29 Der Zug des Herzens i

Durch ein Labyrinth aus Hecken irrt Toni. Er geht und geht und kommt doch nie ans Ziel. Zwischendurch hört er fremdartige Laute. Doch wenn er stehen bleibt und horcht, sind die Rufe schon verhallt und er fühlt sich noch orientierungsloser als zuvor. Schließlich landet er in einer Sachgasse, die den Zuschnitt eines Zimmers hat. Die Mitte nimmt eine breite, niedere Hecke ein. Sie ist wie ein Bett geformt. Er kann nicht mehr und legt sich darauf. Das Bett ist ziemlich piksig, doch die Erschöpfung zieht ihn in den Schlaf. In dem Moment wacht er in seinem wohlig weichen Bett auf – endlich erlöst. Doch dann sieht er, dass Mili nicht da ist. Die ganze Einsamkeit des Labyrinths umklammert ihn von neuem. Da entdeckt er ihr Ohr. Es ragt aus der Decke hervor, hinter der sie sich versteckt hält. Vom Glück der Befreiung überwältigt fällt ihr Toni in die Arme und sie lieben sich. Anschließend erzählt ihm Mili die folgende Geschichte. AS

In einer Nische aus Stellwänden schneidet er Plattenstücke auf Maß. Die Längen und Breiten, die zu sägen sind, werden per Digitalanzeige im oberen Bereich der vorderen Stellwand übermittelt. Es sind fünf Maß-Paare, die aufleuchten. Wenn er ein Stück zugeschnitten hat, löscht er dessen Maße per Knopfdruck und ein neues Paar wird unten dazugefügt. Er zieht die nächste Platte vom Rollwagen auf die Maschinenfläche. Von mehreren Saugnäpfen wird sie mittels Luft-Unterdruck fixiert. Je nach Ausrichtung tippt er erst das Längsmaß oder das Quermaß ein. Zwei rotierende Sägeblätter bewegen sich gleichzeitig, das eine besäumt, das andere schneidet auf Maß. Ein Hörschutz ist für eine solche Arbeit unverzichtbar.
Auf Einladung von Intrade (international trade and design) arbeitet Erduan vorübergehend in einem großen Produktionswerk in Frankreich mit. Nachdem sie ihm mit der Reise durch Japan ein solch tolles Erlebnis beschert haben, hat er nicht gewagt, diese Forderung abzulehnen.
„Aber wissen Sie, das sind monotone Tätigkeiten“, hat der Product Manager gesagt.
„Ich bin mir dessen bewusst“, hat Erduan darauf entgegnet und leer geschluckt.
Trotzdem ist er einmal mehr davon betroffen, was es heißt, Tag um Tag Stückzahlen zu machen. Schon bald ist die Vorstellung von dem, was aus diesen Teilen, die er da auf einen halben Millimeter genau ablängt, einmal werden soll, verschwunden. Da die Maße nicht immer zu den Platten passen, häuft sich im Eck seiner Nische ein ganzer Berg von Plattenresten an. Nach drei Seiten hin ist er an seiner Maschine abgeschirmt. Nur nach links nimmt er wahr, in was für einer riesigen Schreinerei er arbeitet. So langsam sollte er wissen, was mit den Resten zu tun ist. Da sind einige Arbeiter in seiner Nähe – hauptsächlich Ausländer. Aber er glaubt nicht, dass einer von ihnen ihm Auskunft geben kann. Dann kommt die Durchsage:
„Abschnitte entsorgen!“
Nun gut, wenn die das so anordnen. Mir soll es recht sein, sagt er sich erleichtert.
Als er in der Arbeitspause den Product Manager trifft, der ihm diese Arbeit ermöglicht hat, sieht er die Gelegenheit gekommen, mehr davon zu erfahren, woran er mitarbeitet. MLF

Freitag, 23. März 2012

28 Eindringlinge im langen Raum j


Während der Mann sich die Bilder an der Wand anschaut und zwischendurch begierig an der Zigarette zieht, schleicht sich René in den Putzraum und füllt einen Eimer mit Wasser. Möglichst unauffällig tritt er ins lange Flurzimmer. Als er ihnen nahe kommt, holt er aus. Den Mann und die eine Frau trifft er auf Anhieb, der Rest wirft er auf die noch trockene Frau. Fluchtartig verlassen sie den Raum. Aber der Mann ist frech genug, die Schachtel mit den restlichen Zigaretten mitzunehmen.
Das sind die einzigen Zigaretten, die er noch im Haus hat. Und heute Abend … „Halt“, schreit René. Er rennt hinter ihnen her und gerät in einen großen, düsteren Raum, direkt an den seinen angrenzend. Sich umschauend glaubt er in einer Räuberhöhle zu sein. Würde mich nicht wundern, wenn hier einiges zum Vorschein käme, was mir in letzter Zeit so alles abhanden gekommen ist, denkt er. Aber er hat nur die Schachtel im Auge, die will er wieder. Er packt den Kerl am Handgelenk. Der wehrt sich, aber René entwindet sie ihm. Da wechselt der Dieb seine Taktik und fängt an zu jammern und zu betteln. „Nur eine noch“, fleht er. Da wird René endlich klar, was den zu ihm reingetrieben hat. Der ist süchtig. Die Sucht und die Langeweile hat sie alle drei in meinen Raum gedrängt, sagt er sich.
René wirft ihm einen Glimmstängel hin, den dieser geschickt auffängt. „Aber lasst euch ja nicht wieder blicken, sonst …“, droht er. Dreht sich um und kehrt in seinen Raum zurück. Drinnen nimmt er ein Holz und zwängt es unter die Klinge. Jetzt lässt sich die Tür von außen nicht mehr öffnen.
Die ganze Aufregung hat ihn dermaßen aus der Fassung gebracht, dass er nicht anders kann, er muss sich eine Zigarette anzünden. Die mit Nikotin angereicherte Luft einziehend, beruhigt er sich zusehends. Zwischendurch schaut er argwöhnisch zur Tür, so ganz vertraut er seiner Sperre nicht. Wenn die nur nicht wiederkommen. MLF

Donnerstag, 22. März 2012

28 Eindringlinge im langen Raum i

Toni verspürte ein großes Verlangen nach Mili. Aber jedes Mal, wenn er sich ihr zuwenden wollte, sank er wieder in den Schlaf zurück. Als er schließlich doch aufwachte, sah er, dass sie sich entfernte. Die Angst sie zu entbehren, vertrieb den letzten Schleier. Sie drehte sich um, schlüpfte zu ihm und sie liebten sich.
Anschließend erzählte Mili Folgendes. AS


Der Tag davor ist etwas lang gewesen und gut geschlafen hat er auch nicht. Nachdem er sich in den frühen Morgenstunden von Enrico verabschiedete, hat er sich zu Hause schlafen gelegt. Ist aber auf Grund seines sonstigen Rhythmus‘ viel zu früh aufgewacht. Er bleibt an diesem Tag die ganze Zeit im Flur hängen, der als Wohnraum eingerichtet ist. Am Anfang und am Ende ist der Raum geknickt. Dadurch erscheint er endlos. Während René an seinem Arbeitstisch sitzt, nisten sich im vorderen Bereich drei Personen ein. Er nimmt sie beiläufig wahr – jedesmal, wenn sie aus dem Knick hervortreten. Es sind zwei Frauen und ein Mann. Da sie sich ruhig verhalten, unternimmt er nichts. Aber dann spaziert eine der Frauen zur Kommode an der rechten Wand vor dem Knick. Ohne zu fragen greift sie nach einer der schönen roten Bommeln, mit denen er das Möbel geschmückt hat. Wie kann die es wagen, fragt er sich brüskiert, dringt hier ein und bedient sich auch noch an der Deko. Der Ärger wühlt ihn auf und stört den süßen Nachklang von der Nacht zuvor. Erzürnt geht er zu den Dreien und weist sie aus dem Raum.
Weil er nicht ausgeschlafen ist, fällt es ihm schwer sich zu konzentrieren. Doch schließlich findet er den Faden und kommt voran. Aber die drei sind schon wieder da. Die andere Frau schreitet – als wäre sie bei ihm zuhause – zur Garderobe. Sie hängt seinen grauen Anzug ab und dreht ihn hin und her. Macht sogar Anstalten ihn anzuprobieren.
Jetzt wird’s René zu bunt. Er rennt hin. Sie wirft den Anzug weg und verlässt gemeinsam mit den andern den Raum. Er ist erleichtert. Als er den grauen Anzug aufliest und ihn glattstreicht, überfällt ihn ein unerklärlicher Trübsinn. Die schöne Stimmung vom Vortag ist endgültig verweht. Er fühlt sich wie ein Gefangener in diesem langen Raum.
Wieder macht er sich an die Arbeit. Als er endlich in Fluss kommt, sieht er, wie der Mann, ganz cool zur Ablage bei der Garderobe schreitet, sich eine Zigarette aus seiner, Renés, Schachtel holt und sie in den Mund steckt. In René zieht sich alles zusammen. Er hat am Vorabend den Stengeln etwas zu arg zugesprochen und hat sich deshalb vorgenommen, bis zum Abend nicht zu rauchen und muss jetzt zuschauen, wie ein anderer genüsslich vor seinen Augen raucht. Statt aufzuschreien, guckt René auf die Uhr. Es ist gerade Mittag. Enrico müsste inzwischen auch auf sein. Er wählt seine Nummer.
„Pronto“, tönt es von der andern Seite des Äthers. Enricos Stimme klingt verschlafen.
„Hab ich dich geweckt?“, fragt er entschuldigend.
„Nein, nein, bin eben aufgestanden. Und – wie hast du geschlafen?“
René schweigt, er will nicht klagen. „So lala. Aber hör mal. Ich werde dauernd gestört hier, von zwei Frauen und einem Mann. Erst nimmt die eine ein schönes Stück von meiner Deko, dann will die andere meinen grauen Anzug anprobieren und jetzt erdreistet sich der Mann und raucht eine meiner Zigaretten.“
„Jag sie doch fort“, rät Enrico und gähnt.
„Das versuch ich doch die ganze Zeit, aber sie kommen immer wieder.“
„Ah, verstehe, das kenn ich. Wahrscheinlich hast du einen Hang-over. Das ist die Sorte Leute, die das spüren. Die nutzen das gnadenlos aus. Da hilft nur eins, kalte Milch. Damit kriegst du sie fort, die hassen sie.“
„Ich hab keine Milch im Haus.“
„Dann versuch’s mit Wasser.“
„Okay, ich versuch’s. Danke. Ich ruf dich am Abend an.“ René legt auf.  MLF

Mittwoch, 21. März 2012

27 Anna überreicht den Schlüssel

Als er Mili an sich ziehen wollte, legte sie sich zur Seite und streckte ihm ihren knackigen Popo entgegen. Mit der linken Hand reichte sie ihm eine kleine Plastikflasche. Da er nicht begriff, drehte sie sich ein Stück zurück, spritzte mit der rechten auf die Linke und fuhr damit über Tonis erregtes Glied. Das fühlte sich angenehm kühl an, wenn er auch nicht verstand, warum sie plötzlich ein Gleitmittel benötigten. Sie fuhr sich mit der Hand durch die Pofalte und nahm wieder die seitliche Haltung an. Als er versuchte, wie üblich in sie einzudringen – von hinten – griff sie nach seinem festen Glied und führte es weiter zurück, bis er vor ihrem Anus stand. Erst jetzt begriff er, was sie ihm zeigen wollte. Während er langsam den Schließmuskel überwand, ließ sie ihn nochmal austreten und strich üppig glitschiges Gel auf die pralle Eichel. Er war überrascht, wie anders sich das Eindringen anfühlte. Sie wies ihn an, seinen Penis parallel zur Wirbelsäule zu führen. Vor lauter Lernen fand er nicht zum Höhepunkt. Aber als Mili sich ihm zudrehte und sein Glied anfasste, brachte sie ihn mit wenigen Bewegungen zum Erguss. Dann streichelte sie ihn, wie man einen gelehrigen Schüler liebkost.
Mili rückte das Kissen zurecht, rutschte hoch und begann zu erzählen. AS

Bodo ist etwas durcheinander, weil er am Abend etwas Besonderes vorhat. Im Laufe des Morgens geht er in den Hof der Schule, wo er früher Hausaufgabenhilfe erteilt hat. Die Schüler spielen draußen unter den Bäumen. Als sie ihn sehen, rufen sie „Bodo, Bodo …“ und umringen ihn.
Zwei Orientalen führen eine kleine Bar, deren Tür zum Hof hin offen ist. Sie bieten kleine Snacks an. Das weckt Bodos Appetit. Er hätte Lust auf einen Imbiss, möchte aber nicht alleine essen. Also bestellt er für seine jungen, orientalischen Freunde ein paar Portionen mehr. Doch während er wartet, verschwinden die Schüler nach und nach. Die Pause ist um. Wenn ich’s schlecht treffe, wird gar niemand hier sein, fürchtet er. Ein Lehrer geht vorbei.
„Wann ist denn die nächste Pause?“, fragt Bodo.
Der Lehrer schaut ihn argwöhnisch an. „Wieso?“, fragt er unfreundlich.
Bodo gibt ihm die Erklärung.
Da antwortet dieser ziemlich schroff. „Manche Orientalen finden Kebab schlecht.“
Jetzt kommt von Bodo ein „Wieso?“
Der Lehrer zeichnet mit den Händen die Form des Kebabfleisches nach. Bodo kommt es vor, als würde er einen überdimensionierten Phallus beschreiben. Dann geht der Lehrer.
Bodo ist enttäuscht. Sein Angebot scheint gar nicht erwünscht zu sein.
Als er die Bar betritt, ist der Laden voll. Der orientalische Gastwirt ruft gegen den Lärm an. „Tut mir leid, siehst ja selber, was hier los ist. Aber gleich fangen wir an.“
„Ach, lass mal, die Schüler sind weg. Ein andermal“, ruft Bodo zurück.
„Kein Problem“, ruft der Wirt und winkt mit der Hand.
Als Bodo den Park durchquert, trifft er auf eine Person, die er immer gern sieht. „Anna, du hier, das ist ja eine Überraschung.“ Er braucht Anna nur zu sehen und die Welt ist für ihn wieder in Ordnung.
Sie schaut ihn geheimnisvoll an und sagt, „ich habe dir etwas mitgebracht.“
„Oh, darf ich es sehen?“, fragt er überrascht.
Da zieht sie einen schönen, langen Schlüssel aus ihrer Tasche. „Der ist für dich. Willst du ihn ausprobieren?“
Bodo schaut sie verwundert an. „Ein Schlüssel.“ Er denkt an schöne Räume voller Schätze, die er sich aufschließen kann. Ein Strom des Glücks überkommt ihn. Aber gleichzeitig regen sich Zweifel. „Ist der nicht zu dünn?“, fragt er. „Der wirkt so zerbrechlich.“
Sie schaut ihn aufmunternd an.
„Meinst du, ja?“, fragt er, noch immer zögernd. Schließlich nimmt er ihn an. Bedankt sich und geht seines Weges.
An diesem Abend ist er mit Enrico verabredet. Deshalb geht er zwei Zentimeter neben seinen Schuhen. Als er neulich zu ihm ziehen wollte, hat es ja nicht geklappt. Plötzlich hat er im Wasser gelegen und musste einen Rückzieher machen. [17, Der Ball fällt ins Wasser]
Am Nachmittag trifft Bodo auf Paul. Der ist auf dem Weg ins Café und lädt ihn ein mitzugehen. Bodo wehrt ab. „Ich hab heut noch nichts geschafft.“
„Solche Tage gibt’s“, sagt Paul und zieht ihn mit sich.
Sie setzen sich an einen kleinen Tisch und ordern Kaffee. Als er Paul verrät, was Anna ihm geschenkt hat, meint dieser: „Jetzt kanns Schicksal besser an dich ran. Du bist jetzt freier.“
„Wie meinst du?“, fragt Bodo verblüfft.
Aber Paul lacht nur. „Du wirst schon sehen.“ Mehr ist nicht aus ihm rauszukriegen.
Endlich ist Abend. Er wird von Enrico freudig willkommen geheißen.
„Ich habe dich so ersehnt.“
Enrico ist ziemlich draufgängerisch. Das lange Warten hat ihn richtig aufgeladen. So ist Bodo noch nie geküsst worden. Zur Feier seines ersten Besuches öffnet der Gastgeber eine Flasche Schaumwein. Sie setzen sich aufs Sofa und stoßen an. Dann holt Bodo den Schlüssel hervor.
„Schau mal, was mir Anna überreicht hat.“
Enrico staunt. „Wow, der ist ja toll“, ruft er. Zum Glück stellt er keine dummen Fragen, wer diese Anna ist. Der Schlüssel verzaubert sie beide. Sie baden im Glück ihres ersten Zusammenseins. Bodo ist, als habe sich ein Teil von ihm, der lange in einem Schrank gesteckt hat, wieder mit ihm vereint. MLF

Dienstag, 20. März 2012

26 Dachlandschaften

Toni war ganz in seine Fantasien verstrickt. Er nahm Mili, die neben ihm lag, gar nicht wahr. Beim Aufwachen war er so prall, dass er gleich anfing sich zu reiben und zu winden. Innehaltend und wieder neu sich anfassend, steigerte er die Lust. Als er Mili doch bemerkte, war es schon zu spät, es gab kein Zurück mehr. Er empfand sie sogar als Störenfried. Vor Lust stöhnend ergoss er sich auf seine Bauchdecke. Zu sich kommend, sah er, dass sie pikiert war.
Sie aber überwand ihre Enttäuschung, rutschte hoch und erzählte die folgende Geschichte. AS


Während er sich früher oft Sorgen gemacht hat, weil er zu wenig Rückmeldungen auf die Internetseite, die er für eine Frau unterhält, bekommen hat [Gemeinschaft falsch gebildet, 24.02.] kommen die Kommentare in letzter Zeit in solcher Vielzahl, dass er sie oftmals nur überfliegen kann. Für die Beantwortung nimmt er sich inzwischen mehr Zeit, als für die Bearbeitung der Texte der Frau selber.
Als Lothar eines Tages auf die Internetseite schaut und einen Eintrag öffnet, sieht er, dass etwas Endloses dranhängt. Erst glaubt er noch irgendwelche Bilder oder Grafiken zu erkennen, aber je weiter er blättert, umso mehr verwandelt sich das Ganze in eine endlose Dachlandschaft. Was der Geier habe ich hier ausgelöst? Er lehnt sich zurück und überlegt. Aber er kann sich das Phänomen in keiner Weise erklären.
Da fällt ihm Bruno Schuhmacher ein, der Dachdecker, bei dem er gelegentlich aushilft, wenn einer aus dessen Truppe krank ist oder wenn es ein großes Dach zu decken gilt. Der Dachdecker ist gar nicht verwundert. Er führt ihn zu seiner Halle und öffnet das Tor. Die Stirnseite eines Dachdeckerlastwagens steht ihnen entgegen. Das Fahrzeug sieht einem großen Löschfahrzeug nicht unähnlich. Links und rechts von der Fahrerkabine sind große Rollen angebracht. Von der rechts zieht Schuhmacher ein Band von roten Kunststoffziegeln. „Ziegel am Meter, die sind handelsüblich“, sagt er beiläufig.
„Aha, okay…“, Lothar verstummt. Gut zu wissen, dass es so etwas gibt. Wobei ihm sein Gefühl sagt, dass er sein Dach doch lieber in herkömmlicher Weise decken würde. Aber wie dem auch sei, es geht ja um die Klärung des Phänomens auf seiner Webseite. Für den Dachdecker scheint es damit geklärt. Er dagegen muss sich wohl noch eine Weile den Kopf darüber zerbrechen.
Schuhmacher nimmt ihn mit zu seinem Haus hoch. Durch eine Tür in der Umfriedung gelangen sie auf die Terrassenseite. Viele Besucher sind schon da. Was sind das für Leute? Was machen die hier?, fragt er sich. Die Terrasse grenzt an einen Skihang. Obwohl nur wenig Schnee liegt, nutzen einige die Gelegenheit auf ihren Skiern rumzurutschen. Das lockt Lothar gewaltig. Als passionierter Skifahrer kann er der Versuchung nicht widerstehen. An der Hausmauer findet er ein Paar passender Schuhe.
„Darf ich die mal ausleihen?“, fragt er.
Der Dachdecker scheint zwar nicht gerade begeistert, aber er nickt. Lothar kann es kaum erwarten, seine Kunst zu zeigen. Was die andern können, werde ich leicht überbieten, dessen ist er sich sicher. Er schickt sich eben an, den Hang hoch zu steigen, als eine Frau ihn ruft. Sie, für die er die Webseite betreibt – ausgerechnet jetzt. Das ist jetzt aber ungünstig, er hat jetzt keine Zeit mit ihr zu reden. Ihn zieht es nach oben, damit er endlich zeigen kann, wie er fährt. Sie versteht nicht, warum er nicht wartet und folgt ihm. Ja, wetteifert gar mit ihm. Diese ehrgeizige Frau, diese vorwitzige Nudel, denkt er, der werd ich’s zeigen. Er stapft mit gespreizten Beinen in V-Haltung noch schneller. Sie fällt hin und ruft um Hilfe. Er denkt nicht dran, umzukehren. Wahrscheinlich hat sie sich absichtlich fallen lassen, um ihn abzulenken. Aber er lässt sich nicht zurückhalten. Jetzt ist er am Zug. MLF

Die freiere Version mit dem Titel ‚Text und Kommentare‘ hat Mili zurückgewiesen. AS

Montag, 19. März 2012

25 Das Haus in Semperach j


„Na, wie ist euer Stück gewesen?“, fragt Martina, als sie zurück sind im Haus an der Mauer.
Jasmus schaut Oli fragend an. „Gut, sehr gut“, entgegnet dieser. „Na ja“, stößt Jasmus hervor. „Solange es hell gewesen ist, habe ich’s ja ganz gut gefunden. Aber danach ist es mir zu anstrengend geworden. Am Schluss habe ich gar nichts mehr mitgekriegt. Ich weiß nicht, warum die auf die Theaterbeleuchtung verzichten.“
„Das ist doch gerade das Besondere“, fällt ihm Oli ins Wort, „ein natürliches Spiel ohne all dieses künstliche Zeug.“
Jasmus schweigt. Er kennt Oliver lange genug. Über die Jahre werden Beziehungen zu einem Getriebe. Jeder stellt ein Rädchen dar, dessen Funktionsweise man genau kennt (Darum ist es auch so heikel, wenn eines plötzlich anders dreht). Wenn Oli diesen Ton draufhat, kommt man eh nicht gegen ihn an. Das weiß er. Aber das sind kleine Sorgen, er kennt sie ja, seine Pappenheimer. Was ihm dagegen richtig Kummer bereitet, sind die Tiere.
Sie haben ein neues Tier in der WG. Eine Maus ist ihnen zugelaufen, so groß wie ein Meerschweinchen. Sie beansprucht extrem viel Aufmerksamkeit. Dadurch sind die Katze und der Hase etwas ins Hintertreffen geraten. Als Jasmus die beiden zu sich nimmt, um ihnen ein paar Streicheleinheiten zu geben, stellt er Bissspuren an ihrem Fell fest. Komisch, das ist neu, die werden sich doch nicht plötzlich streiten, nachdem sie sich all die Jahre so gut vertragen haben. Als er sie näher untersucht, sieht er, dass sie richtig angefressen sind. Schrecklich. Aber er wird abgelenkt.
Ruben und Ingrid treffen jetzt doch noch ein. Er hört, wie sie unten die Tür öffnen und in die Küche treten. Er geht nach unten.
„Ist euch am Hasen und an der Katze etwas aufgefallen?“, fragt er, statt einer Begrüßung.
Sie schauen ihn befremdet an. Haben wohl mit einem anderen Empfang gerechnet oder sind von der langen Fahrt noch benommen.
In dem Moment fällt ihm ein, wer hinter diesen Bissspuren stecken könnte – die Maus. Es muss diese Maus sein, die sich hier in den Mittelpunkt drängt und sich bei allen einschmeichelt. Er will aber kein vorschnelles Urteil fällen. Er weiß ja, dass Katzen und Hasen auch keine Lämmer sind. Er nimmt sich vor wachsam zu sein. Aber er muss nicht lange warten. Schon beim Frühstück am nächsten Morgen, als alle ihr Brot kauen und ihren Kaffee schlürfen, sieht er, wie die Maus in einem unbeobachteten Moment blitzschnell den Hasen anfällt und sich wieder auf ihren besonderen Platz begibt, als wäre nichts gewesen.
„Da, jetzt hab ich’s gesehen“, ruft er laut aus. „Die muss jetzt weg, ich habe sie ertappt.“
Es dauert eine ganze Weile, bis die andern verstehen, wovon er redet. Keiner will an Katze und Hase auch nur einen Kratzer gesehen haben. Aber schließlich sind sie doch recht betroffen und glauben ihm sogar, als er schildert, wie die Maus vorgegangen ist. Doch als er eine Kiste holt und die Maus hineinsteckt, gibt es ein großes Hallo.
„Was, das arme Tier!“ „Gerade eine Maus, die so gefährdet ist.“ „Sieh doch, was für ein schönes Tier.“ „Die werden sich schon arrangieren. Hase und Katze müssen sich halt wehren.“ Und viele Einwände mehr, jeder am Tisch findet seinen eigenen Grund, warum dieses Tier nicht ausgesetzt werden darf. Oli bietet an, sie in seinem Zimmer zu halten. Martina droht, dass sie den Tierschutzbund anruft, wenn er nicht…
Jasmus, den all diese Argumente nicht überzeugen, versucht es auf eine neue Weise:
„Das ist rührend von euch. Und wer weiß, vielleicht würden sich die drei sogar eines Tages vertragen. Aber eine Maus, die stark genug ist, es mit einem Hasen und einer Katze aufzunehmen, braucht die Freiheit. Sie wird sich dort auch behaupten können. Wir müssen ihr unbedingt die Freiheit wiedergeben.“
Endlich willigen sie ein.
Er wirft sich eine Jacke um und fährt gleich los, bevor es sich jemand anders überlegt. Diese Tiere sind ziemlich klug, das weiß er. Deshalb fährt er bis hinter Wohlhusen. Dort, denkt er, wird sie ein anderes nettes Plätzchen finden. MLF

25 Das Haus in Semperach i

Toni glaubt, Mili sei da, aber sehen kann er sie nicht. Er versucht die Hand auszustrecken, schafft es aber nicht. Die Decke lastet auf ihm, als hätte sich ihr spezifisches Gewicht verändert. Nicht mehr Federn, sondern feuchte Späne füllen sie an. Spinnweben haben sich über das Bett gelegt. Mili kommt, sieht die Netze und geht wieder. Er schreit.
In dem Moment wacht er auf. Ihr Gesicht über ihm. Sie nähert sich und küsst ihn. Da ist der Spuk vertrieben. Sie lieben sich wie sonst. Sogar noch etwas doller.
Anschließend berichtet sie vom Haus in Semperach. AS


Das Haus, in dem Jasmus wohnt, ist wahrscheinlich so alt wie die Rückwand, die von der Stadtmauer Semperachs gebildet wird. Aber gerade deswegen kann er sich so schwer von diesem Haus trennen, weil es so gemütlich ist, mit den alten Mauern, der quietschenden Treppe und dem Rinnstein als einzige Waschmöglichkeit. Als er sich damals von zu Hause gelöst hat, ist er in diese WG eingezogen und da ist er immer noch. Neue Gesichter sind dazugekommen, aber ein paar von den alten gehören auch noch dazu, Martina zum Beispiel und Oliver. Ruben [Stadt Degerhöhe, 02.03.] macht ab und zu noch Zwischenhalt bei ihnen. Meist genießt Jasmus die bitter-süße Nostalgie dieses Lebens, manchmal stößt es ihm aber auch sauer auf. Dann träumt er von einem Abenteuerleben, möchte unterwegs sein wie die Fahrenden, verweilen und wieder aufbrechen. Das Städtchen am Sauersee ist bekannt, weil hier einst eine große Truppe waffenstarrender Habsburger ihren vermeintlichen Sieg gegen die Rütli-Partisanen vorab gefeiert hat.
Als Oliver ihn fragt, ob er mit zum Theater gehe, wehrt Jasmus erst ab. Er erwartet Ruben und Ingrid, die vom Land an der Rheinmündung zurückkehren. Aber als diese dann anrufen, sie schafften es heute wohl nicht mehr, willigt er ein. Das Städtchen besitzt kein extra Theatergebäude, dafür aber einen schönen alten Kinosaal. Kleinere Truppen ziehen es vor, in diesem Saal, statt in der Mehrzweckhalle im Neubaugebiet aufzutreten. Die beiden setzen sich erst in die Mitte des Zuschauerraums, rutschen dann aber mit den andern Gästen nach links, da die Bühne von einer Trennwand halbiert ist und nur auf der linken Seite gespielt wird.
„Wieso das?“, fragt Jasmus flüsternd. Ihm ist nicht klar, warum sie diese Beschränkung vorgenommen haben.
Oliver weist zur Bühne links und raunt, „die Fenster.“
Aber erst als sie zu spielen beginnen, wird ihm die Bedeutung der Fenster klar. Sie spielen ohne Beleuchtung und sind folglich aufs Licht von draußen angewiesen. Die Spieler tragen dunkle, asiatische Kleider wie Kampfsportler, aber aus dünnen Stoffen. Am Anfang kann Jasmus der Handlung gut folgen und er ist sogar recht angetan davon. Aber je dunkler es draußen wird, umso schwerer fällt ihm, dem Geschehen auf der Bühne zu folgen. Ihn drängt es zu rufen: Licht an!, aber er hält sich zurück. Schließlich sieht er gar nichts mehr. Als es längere Zeit still bleibt, erheben sich die Zuschauer und verlassen den Raum. Die Schauspieler stehn jetzt draußen im Flur, noch in den gleichen Kleidern. Was ihnen durch ihren lautlosen Abgang an Applaus verloren gegangen ist, möchten sie wohl in Form von Komplimenten wieder einheimsen. Jasmus drückt sich vorbei. Die Begeisterung, die einzelne zeigen, teilt er nicht.

Draußen vor dem Kino an der Straße sieht Jasmus eine Frau sitzen. Sie trägt einen bunten Rock, die nackten Füße in Flipflops. Ihr markantes Gesicht ist verlockend schön. Eine Fahrende, schießt ihm durch den Kopf. Da er nicht weiß, wie er sich ihr nähern soll, holt er seinen Geldbeutel hervor und entnimmt ihm mehrere fünfzig Cent Münzen. Als er ihr das Geld entgegenstreckt, zieht Oliver ihn weg. Einen Fünfziger kriegt sie zu fassen, die andern fallen zu Boden, rollen weg und verschwinden in einem Schacht.
„Was soll das?“, entrüstet er sich.
„Du spinnst ja wohl“, zischt Oliver zurück.
Ungern löst sich Jasmus von der Fahrenden. Er blickt zu ihr zurück. Aber Oli zieht ihn mit sich. Etwas weiter klärt ihn sein Mitbewohner auf: „Die sind alle krank, haben Läuse und Würmer, wenn nicht gar HIV.
„Ich wollt ja nicht gleich mit ihr ins Bett“, stößt Jasmus verärgert hervor. „Es hätte mich vielmehr interessiert….“ Er verstummt mitten im Satz. Ihm wird klar, dass er seine Pläne nicht mit Oliver teilen möchte. Er hat gehofft über diese Frau Kontakt zu Fahrenden zu finden. MLF

Freitag, 16. März 2012

24 Brautzug im Schutz des hotel de ville j

Auf dem Weg quer durch Echazstadt stand ihm fortwährend dieser Heiratszug vor Augen. Irgendwie beunruhigte ihn, was er gesehen hatte. Da hat einer eine wunderschöne Braut und kommt doch nicht voran. Geschieht ihm Recht, dachte er, der ist dieser Braut eh nicht gewachsen.

Vor dem Aufnahmezimmer in der Agentur musste er kaum warten. Schon saß er im Zimmer der Beraterin gegenüber. Das war doch mal ein gutes Zeichen. Weniger angenehm war, wie sie ihn mit ihren Augen abscannte. Er konnte ihre Blicke förmlich lesen: Hat der ein Alkoholproblem? Nimmt er womöglich Drogen? Ist er geistig unterbelichtet? Leidet er an Depressionen? Ihre Augen trafen ihn wie Laserstrahlen und die Lippen hatten die Spannung von Federstahl.
„Haben Sie denn keine Arbeit?“, fragte sie schließlich.
„Doch, schon“, antwortete Tommy und um wenigstens ihre letzte Vermutung zu entkräften, legte er extra Feuer in seine Stimme. „Ich arbeite schon seit mehreren Jahren in der gleichen Firma und bin dort so unentbehrlich, dass sie mir nicht mal erlauben, nebenher zu jobben. [Keine Aushilfen, 05.02.] Aber leider können sie ihre Mitarbeiter noch nicht bezahlen, weil es eine Firma im Aufbau ist.“
Die Sachbearbeiterin schaute ihn fassungslos an. Er schwieg betreten.
„Dass Sie soziale Unterstützung nur bekommen, wenn Sie keine Arbeit haben, dürfte Ihnen bekannt sein, oder?“ Der Satz war so messerscharf gesprochen, dass Tommy unwillkürlich zurückwich.
„Wie meinen Sie?“, fragte er verdutzt.
„Wie ich’s sage. Wer arbeitet hat keinen Anspruch auf soziale Hilfe.“
„Aber ich verdiene…“, er brach den Satz ab.
Die Frau reichte ihm seine Papiere, mit den Worten. „Ihre Daten sind erfasst. Melden Sie sich wieder, wenn sie keinen Job mehr haben. Dann werden wir Ihnen einen besorgen. Brot verkaufen oder Gemüse schälen, werden Sie ja wohl können.“ Sie wandte sich zur Seite und drückte auf den Knopf. Die Tür sprang auf, der nächste kam herein.
Tommy trat zur Seite und schaute auf den Hereinkommenden. Ein dunkler Mann, etwas dicklich. Ah, jetzt wusste er, wem er ähnlich sah. Jener rührige Mann, der sich im Krankenhaus anstellen ließ, um seine Angebetete, die ins Koma gefallen war, pflegen zu können. Der Regisseur fiel ihm nicht ein, aber dieses Mal immerhin der Titel ‚Sprich mit ihr‘.
Tommy hatte, während er durch die Tür in den Flur hinaus trat, mit Tränen zu kämpfen. Er war nicht rührselig. Aber dieses Gespräch hatte ihn jetzt doch etwas kalt erwischt. Seine Arbeit aufgeben. Niemals. Lieber würde er Hungers sterben. Aber als sei der Teufel im Spiel, meldete sich just in diesem Augenblick sein Magen, der ihn daran erinnerte, dass Jella zu Mittag kochen würde und sie ihm noch gesagt hatte, er solle anrufen, wenn er nicht rechtzeitig zurück sei. Er musste die Uhr näher halten, weil sein Blick verschleiert war. Doch, wenn er sich beeilte, schaffte er es noch. MLF

24 Brautzug im Schutz des hotel de ville i

Als Toni aufwachte und Mili neben sich sah, in ihrem Glanz und ihrer Schönheit, kam er sich wie ein kleines Würmchen vor. Tatsächlich war sie viel stattlicher als er. Es war ihm sonst nicht so ins Auge gestochen. Dafür jetzt umso stärker. Er fühlte sich nicht in der Lage ihr beizuwohnen. Irgendwann, wenn der mildernde Schleier der Liebe verflogen war, würde sie sehen, was für ein Pimpf er war und würde nicht wiederkommen. Nein, diese Nacht ging es nicht.
Er stöhnte, als würde er noch schlafen, drehte sich von ihr weg und zog den Kopf unter die Decke. Aber Mili war nicht zu täuschen. Sie verstand es als ein Versteckspiel. Plötzlich war da keine Decke mehr. Offenbar war der Liebesschleier noch sehr dicht, denn sie war ganz verrückt nach ihm.
Darauf erzählte sie ihm die folgende Geschichte. AS

„Glaub ja nicht, dass die dich in Ruhe lassen“, bemerkte Jella skeptisch, als Tommy ihr voller Begeisterung berichtete, er werde Unterstützung bei der Kommune beantragen. [Abrigator, 08.03.]
„Wieso?“, entgegnete er ernüchtert, „du gönnst mir ja nur nicht, dass ich unabhängig werde.“
„Unabhängig? Unabhängig mit sozialer Hilfe? Da glaubst du ja selber nicht dran“, sagte sie schroff.
Enttäuscht ging er nach oben. Typisch für die ältere Schwester. So langsam übernahm sie die Mutterrolle, mäkelte dauernd an ihm rum und wollte ihn doch nicht in die Freiheit entlassen. Nein, er hatte jetzt genug von diesem engen Haus [Trommeln, 06.03.]. Wenn er die Unterstützung bekam, würde er sich eine schöne Einzimmerwohnung mieten. Am liebsten mit Dachterrasse und Blick auf den Marktplatz.
Vor dem Gang zur Agentur, in deren Obhut die soziale Hilfe neuerdings lag, musste er noch beim Rathaus vorbei, um die Wohnbestätigung abzuholen. Das Rathaus war auf zwei Seiten von Arkaden umgeben, gestützt auf schlichte Pfeiler. Auch bei Regenwetter konnte man trockenen Fußes zum Eingang diagonal gegenüber gelangen. Als er unter die Arkaden trat, beobachtete er einen Heiratszug. Eine wunderschöne Frau in Weiß mit langer Schleppe. Der Mann neben ihr wirkte eher wie die Karikatur eines Bräutigams. Er versank in einem schwarzen Zweiteiler, den er sich wohl von einem stattlichen Freund ausgeliehen hatte. Etwa zwei Dutzend Verwandte und Freunde begleiteten sie. Tommy blieb eine Weile stehen und starrte auf das ungleiche Paar und die Gruppe. Sie kamen kaum voran. Aus unerkenntlichem Grund bewegten sie sich im Zeitlupentempo. Er löste sich und ging zum Meldeamt. Als er zurückkam, hatte der Heiratszug noch nicht mal den Knick vorne nach links geschafft. Wenn die weiter so trödeln, dachte Tommy, wird das Standesamt geschlossen sein, bevor sie eintreffen. Er wartete noch eine Weile, aber da bewegte sich nichts. Dann riss er sich los, um nur ja nicht den Termin bei der Agentur zu verpassen. MLF

Donnerstag, 15. März 2012

23 In rundem Wagen durch Japan j

In das Wort ‚Japan‘ setzte Peter so viel Begeisterung, dass Erduan ihn verwundert anschaute.
„Meinst du nicht, dass du einen Begleiter brauchen könntest?“, fragte Peter, ihn von unten ansehend. „Die Kosten würde ich natürlich selber tragen.“
Wieder schluckte Erduan. Peter wäre ihm jetzt nicht gerade als Begleiter eingefallen. Konnte er sich überhaupt von seinen Spätzles und seinem Dinkelacker trennen?
Peter schien seine Bedenken zu erraten. Er richtete sich auf und fragte Erduan: „Bei der Vorbereitung auf die Fachprüfung, hab ich dich da etwa nicht unterstützt?“
Tatsächlich hatte Peter, der viel zielstrebiger gewesen war, ihm damals eine Menge geholfen. Das hatte sie einander nicht unbedingt näher gebracht. Aber ganz richtig, da könnte ich etwas gutmachen, sagte sich Erduan. „Wie flexibel bist du denn und wie lange könntest du frei nehmen?“, fragte er.
„Es wird ein Riesengeschrei geben“, sagte Peter mit einem verschämten Lachen. „Aber niemand ist unersetzlich. Ich glaube, ich habe einiges vorgeleistet und kann mir in dieser Firma schon mal ein Extra leisten.“
Die Consultin sah kein Problem darin, dass Erduan einen Begleiter mitbrachte. Den Flug musste Peter übernehmen, die restlichen Kosten trug die International Trade and Design, für die Erduan arbeitete.

Das Gefährt, mit dem sie die fernöstliche Insel erkundeten, war das ungewöhnlichste Fahrzeug, in dem Erduan jemals gesessen hatte. Es hatte die Form eines großen doppelten Tellers. Der obere Teller war in der Mitte gewölbt und hatte außen an die zehn Löcher, in denen je ein Passagier saß oder lag. In diesem ausgefallenen Fahrzeug durchquerten sie moderne Vorstädte, Landschaften mit Reisfeldern, traditionelle Dörfer, Pinienwälder….
Wenn Erduan an diese ungewöhnliche Reise zurückdachte, kam ihm immer als erstes die folgende Situation in den Sinn.
Rechts neben ihm in der Vertiefung lag Peter halb und saß halb und schaute zu ihm hinüber. Dabei fiel sein Blick auf Erduans Schwellkörper, der leicht erregt war und sofort auf den Blick reagierte und sich noch weiter aus der Decke hinaushob und dabei sichtbar wurde oder noch sichtbarer. Das war an sich schon ein sinnliches Erlebnis. Aber es wurde noch verstärkt durch die bizarren Eindrücke der japanischen Landschaft. Die Gegend, durch die sie in diesem Moment fuhren, waren dunkelgrüne Felder, zwischen schroffen Siedlungen, deren strenge Formen modern, ja futuristisch anmuteten. Dahinter ein grelles, gelb-weißes Abendlicht, das die Szenerie in ein Schwarzweiß-Bild mit starken Kontrasten verwandelte. Kurze Zeit davor musste es geregnet haben. Die Straße glänzte noch. Im stehenden Wasser spiegelten sich die Schatten der Gebäude, die Wolken und das grelle Licht.

Als Erduan seinen Werkkameraden später wieder traf, schilderte Peter diese Fahrt als das Eindrücklichste, was er neben gewissen Erlebnissen mit seiner Frau und seinen Kindern erfahren hatte. Für Erduan hielt dieses ungewöhnliche Land noch weitere Abenteuer bereit. MLF