Als Mili neben mir lag, machte sie eine ihrer vieldeutigen Bemerkungen, über die man sich Stunden und Tage den Kopf zerbrechen konnte.
"Endlich
mal richtig. Vierzig Jahre..."
"Vierzig
Jahre lang falsch gemacht", ergänzte ich, ihrem Tonfall entsprechend.
Von ihr
kam keine Antwort.
Tja, was
denkt man sich bei so einem Satz? Alleine für sich, sagt er ja nichts aus. Aber
da ich sie ein bisschen zumindest kannte, vermutete ich, dass es einmal mehr um
das Thema, 'hombsch oder nicht hombsch‘ ging. Das hinderte sie aber nicht
daran, mich an sich zu ziehen und sich mit mir zu vereinen.
Darauf
ließ sie mich die folgende Geschichte hören. AS
Zu ihrem
Fest in der Stadt hatten die Hombschen (Schwulen) einen Tisch an den anderen über
die Flussbrücke gereiht. So viele waren sie inzwischen, die offen lebten, dass
es leicht war, alle Plätze zu füllen. Für Lothar, der spät kam, blieb nur ein
Platz am Quai, wo man ein paar zusätzliche Tische hingestellt hatte. Während
auf der Brücke schon lange festlich getafelt wurde, war sein Tisch noch immer
leer. Als er bemerkte, dass man ihn vergessen hatte, ging er zur Brücke. Es gab
Äpfel im Schlafrock und es waren genug davon da. Aber niemand kam auf die Idee,
ihn zu fragen, ob er einen möchte. Und er selber war zu schüchtern, um sich
selbst zu bedienen.
Da kam
Manfred, ein Bekannter von ihm vorbei. Der schien seine Enttäuschung zu
erraten, denn er forderte Lothar auf, ihn zu begleiten.
„Was willst
du hier? Da gehörst du doch nicht dazu. Ich weiß dir einen besseren Ort, wenn
du Sex haben willst.“
Aus
Enttäuschung ging Lothar mit. Er hatte kein gutes Gefühl dabei. Der Bekannte
war ziemlich skrupellos, wenn es darum ging, seine Sinnlichkeit auszuleben.
Manfred
führte ihn zu einem Bahndamm, hinter dem sich ein schroffer Hügelzug erhob. An
dessen Hang wucherten die Häuser eines heruntergekommenen Viertels. An der
Böschung des Damms standen auf einem Absatz mehrere Prostituierte. Eine von
ihnen öffnete ganz unverblümt ihre Bluse und präsentierte ihre prallen Brüste.
Lothar war selbst überrascht, wie unbeteiligt er darauf starrte, als handelte
es sich um zwei Nähkissen aus fleischfarbenem Trikot. Anscheinend hatte die
Verwandlung, die er schon länger spürte, endgültig vollzogen. Er sprach nicht
mehr auf ihre Reize an. Nach dieser Entdeckung hätte er eigentlich gehen
müssen. Doch er blieb.
Seitlich,
dem Damm entlang, war in einem Tunnel eine Kneipe, aus der grölende Stimmen von
Besoffenen herschallten. Da hörte er Flügelschläge. Genau genommen hatte er sie schon seit der Ankunft beim Damm
vernommen, aber erst jetzt realisierte er, wo das Geräusch herkam und schaute nach
oben. Da sah er auf dem Hügelkamm, im Gegenlicht des gelben Abendhimmels, Beflügelte
in schwarzen Ausrüstungen wie riesige Vögel umherflattern. Von ihnen kam das
schwingende Geräusch. Ah, die schwarzen Gestalten kenne ich, erinnerte er sich.
Eine neue Form zu demonstrieren. Wenn sie etwas nicht gutheißen, gehen sie
nicht mehr auf die Straße zur Gegendemo, sondern belauern den Ort von oben in
ihrem schwarzen Outfit. Das machte echt Eindruck, vor allem das Geräusch und
die Schattenwirkung.
Statt zum
Fest der Hombschen zurück zu kehren oder nach Hause zu gehen, setzte sich
Lothar neben Manfred ins trockene Gras der Böschung. Ihm schien, es werde immer
dunkler. Da sah er, wie die Beflügelten einen Vorhang bildeten von ganz oben
herab bis auf die Gebäude ihnen gegenüber. Sie waren lückenlos verkettet über-
und nebeneinander – Menschen wie du und ich, die sich die Zeit nahmen für
dieses Engagement. Er sah wie die in der untersten Reihe ihre Arme
ausschüttelten, weil sie vom Hochstrecken erschlafft waren. Wie machen das die
oberen, fragte er sich, die konnten ja nicht einfach loslassen. Bei näherem
Hinschauen bemerkte er, dass zusätzlich zwei Gummibänder mit Haken bei jedem
Beflügelten für die Verbindung nach oben sorgten. Das Ganze wie ein riesiger
gewölbter Vorhang. Die Stimmung erinnerte an eine Sonnenfinsternis. Dann
schwangen sie ihre Flügel und weg waren sie.
Manfred
wollte ihn überreden mit in den Tunnel zu kommen. Aber er entschloss sich
anders. MLF
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