Mittwoch, 15. Februar 2012

11 Schwarz Beflügelte


Als Mili neben mir lag, machte sie eine ihrer vieldeutigen Bemerkungen, über die man sich Stunden und Tage den Kopf zerbrechen konnte.
"Endlich mal richtig. Vierzig Jahre..."
"Vierzig Jahre lang falsch gemacht", ergänzte ich, ihrem Tonfall entsprechend.
Von ihr kam keine Antwort.
Tja, was denkt man sich bei so einem Satz? Alleine für sich, sagt er ja nichts aus. Aber da ich sie ein bisschen zumindest kannte, vermutete ich, dass es einmal mehr um das Thema, 'hombsch oder nicht hombsch‘ ging. Das hinderte sie aber nicht daran, mich an sich zu ziehen und sich mit mir zu vereinen.
Darauf ließ sie mich die folgende Geschichte hören. AS

Zu ihrem Fest in der Stadt hatten die Hombschen (Schwulen) einen Tisch an den anderen über die Flussbrücke gereiht. So viele waren sie inzwischen, die offen lebten, dass es leicht war, alle Plätze zu füllen. Für Lothar, der spät kam, blieb nur ein Platz am Quai, wo man ein paar zusätzliche Tische hingestellt hatte. Während auf der Brücke schon lange festlich getafelt wurde, war sein Tisch noch immer leer. Als er bemerkte, dass man ihn vergessen hatte, ging er zur Brücke. Es gab Äpfel im Schlafrock und es waren genug davon da. Aber niemand kam auf die Idee, ihn zu fragen, ob er einen möchte. Und er selber war zu schüchtern, um sich selbst zu bedienen.
Da kam Manfred, ein Bekannter von ihm vorbei. Der schien seine Enttäuschung zu erraten, denn er forderte Lothar auf, ihn zu begleiten.
„Was willst du hier? Da gehörst du doch nicht dazu. Ich weiß dir einen besseren Ort, wenn du Sex haben willst.“
Aus Enttäuschung ging Lothar mit. Er hatte kein gutes Gefühl dabei. Der Bekannte war ziemlich skrupellos, wenn es darum ging, seine Sinnlichkeit auszuleben.

Manfred führte ihn zu einem Bahndamm, hinter dem sich ein schroffer Hügelzug erhob. An dessen Hang wucherten die Häuser eines heruntergekommenen Viertels. An der Böschung des Damms standen auf einem Absatz mehrere Prostituierte. Eine von ihnen öffnete ganz unverblümt ihre Bluse und präsentierte ihre prallen Brüste. Lothar war selbst überrascht, wie unbeteiligt er darauf starrte, als handelte es sich um zwei Nähkissen aus fleischfarbenem Trikot. Anscheinend hatte die Verwandlung, die er schon länger spürte, endgültig vollzogen. Er sprach nicht mehr auf ihre Reize an. Nach dieser Entdeckung hätte er eigentlich gehen müssen. Doch er blieb.
Seitlich, dem Damm entlang, war in einem Tunnel eine Kneipe, aus der grölende Stimmen von Besoffenen herschallten. Da hörte er Flügelschläge. Genau genommen hatte er sie schon seit der Ankunft beim Damm vernommen, aber erst jetzt realisierte er, wo das Geräusch herkam und schaute nach oben. Da sah er auf dem Hügelkamm, im Gegenlicht des gelben Abendhimmels, Beflügelte in schwarzen Ausrüstungen wie riesige Vögel umherflattern. Von ihnen kam das schwingende Geräusch. Ah, die schwarzen Gestalten kenne ich, erinnerte er sich. Eine neue Form zu demonstrieren. Wenn sie etwas nicht gutheißen, gehen sie nicht mehr auf die Straße zur Gegendemo, sondern belauern den Ort von oben in ihrem schwarzen Outfit. Das machte echt Eindruck, vor allem das Geräusch und die Schattenwirkung.
Statt zum Fest der Hombschen zurück zu kehren oder nach Hause zu gehen, setzte sich Lothar neben Manfred ins trockene Gras der Böschung. Ihm schien, es werde immer dunkler. Da sah er, wie die Beflügelten einen Vorhang bildeten von ganz oben herab bis auf die Gebäude ihnen gegenüber. Sie waren lückenlos verkettet über- und nebeneinander – Menschen wie du und ich, die sich die Zeit nahmen für dieses Engagement. Er sah wie die in der untersten Reihe ihre Arme ausschüttelten, weil sie vom Hochstrecken erschlafft waren. Wie machen das die oberen, fragte er sich, die konnten ja nicht einfach loslassen. Bei näherem Hinschauen bemerkte er, dass zusätzlich zwei Gummibänder mit Haken bei jedem Beflügelten für die Verbindung nach oben sorgten. Das Ganze wie ein riesiger gewölbter Vorhang. Die Stimmung erinnerte an eine Sonnenfinsternis. Dann schwangen sie ihre Flügel und weg waren sie.
Manfred wollte ihn überreden mit in den Tunnel zu kommen. Aber er entschloss sich anders. MLF

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