Montag, 11. Februar 2013

145 Brennstäbe in der Schlucht



Wie Tonke in einem Geländeeinschnitt auf ein nukleares Werk stieß und darin die Schlucht von Tsivo erkannte.



In einem Viertel am Hang über Gerlingen stießen er und sein Freund Affentaler auf eine Straßensperre. Komisch, dachte Tonke, ich fahre diese Straße doch recht oft, aber ich habe hier noch nie eine Sperre erlebt. Er sah auch keinen Grund, warum man die Straße nicht fahren sollte. Außer dass die Anwohner da und dort Messer und kleine Schaufeln in den weichen Asphalt gesteckt hatten, sprach nichts gegen die Weiterfahrt. Er gab seinem Freund ein Zeichen, dass er zufahren solle. Da traten die Anwohner zurück und ließen sie ohne weiteren Einwand passieren. Wie sie aus dem Ort herauskamen, schien ihm doch, dass die Wegführung eine andere sei. Der Weg führte gradlinig den Hang hoch und war frisch geschottert, also noch nicht asphaltiert. Da Affentaler vorausfuhr, folgte er ihm. Sie hatten gerade die Kuppe überschritten und fuhren auf den großen Wald zu, der sich zwischen Leonberg und Vaihingen erschreckt, als sich ein jäher Einschnitt in der Landschaft zeigte. Dieses tiefe Loch mochte natürlichen Ursprungs sein, konnte aber auch von einer Erzgrube herstammen. Das Gelände war eingezäunt. Besuchern jedoch war der Zutritt erlaubt. Auf der Tafel über dem Eingangsgebäude stand zu lesen.



Nukleares Werk

Besichtigung von .. bis ..



Dieser Taleinschnitt wurde also von Physikern genutzt. Ein nukleares Werk, das zugänglich war. Das schien großes Interesse zu erregen. Auf dem Abhang wimmelte es von Menschen. Sein Freund war bereits ausgestiegen und winkte ihm zu. Es war klar, dass Affentaler als Physiklehrer, sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen ließ.

Tonke blieb im Auto sitzen. Er hatte keine Lust, sich in diesen Rummel zu stürzen. Aber dann überkam ihm das seltsame Gefühl, dass er diese Schlucht und die plane Fläche dort unten schon mal gesehen habe. Er wusste nicht wann, aber ein vages Gefühl von Bekanntheit war nicht wegzuweisen. Das gab ihm den Anstoß, sich aufzuraffen. Affentaler stand schon unten in einer Gruppe, die von einer Führerin in hellgrünem Overall geleitet wurde. Tonke sah, wie sie einen der  Glasschränke öffnete und dazu gestikulierte. Anscheinend war das der Kern dieses Werks.

Wenn ich schon hier bin, dann kann ich doch einen Blick drauf werfen, sagte er sich und stieg nun doch aus. Der Himmel war bedeckt. Ein gleichmäßiges, quecksilbriges Grau überzog die Landschaft. Und es war ziemlich schwül.



Im Eingangsbereich mussten die Schule abgelegt werden. Es lag noch genau ein Paar Socken da. Dunkelgraue Wollsocken waren es und das bei dieser Schwüle. Aber sie passten ihm wie angegossen. Wie viel Publikum so ein Werk anzog, das fand er schon erstaunlich. Im Grunde musste man es ja für problematisch halten, wenn nicht gar für gefährlich. Da sich die Besucher auf den Wegen drängten, nahm Tonke eine Abkürzung und kletterte die gesinterten Terrassen des Abhangs hinunter. Anscheinend handelte es sich doch um einen natürlichen Einschnitt, denn die hell- bis graubraunen Kalkpolster waren bestimmt Jahrmillionen alt. Am Fuß des Hangs landete Tonke auf der Umfassung von langen, rechteckigen Wasserbecken, die die eine Seite der Grasfläche begrenzten. Gegenüber standen die Glasschränke, die die Führerin den Besuchern gezeigt hatte. Im Wasser schwammen kleine schwarze Schildkröten. Die eine oder andere von ihnen schaffte es aus dem Becken heraus nach unten in die Fläche.

Als Tonke unten ankam, war die Grasfläche leer. Die Führung, an der Rolf teilgenommen hatte, war vorbei. Die restlichen Besucher hielten sich alle am Hang auf. Niemand außer ihm war da und zwei kleinen Schildkröten, die im Gras verschwanden. Er ging hinüber zu den großen Schränken, die die Essenz des für das Publikum zugänglichen Teils der Schlucht auszumachen schienen. Die Kästen standen auf einem Podest von gleicher Höhe wie drüben die Wasserbecken und die Glastüren waren mit Jalousien abgedeckt. Ohne Zögern machte Tonke in seinen grauen Socken einen großen Schritt auf das Podest und schob eine der Türen auf. Vor ihm lehnten ein paar Aluminium-Leitern gegen etwas, das dahinter stand. Bei genauerem Hinsehen entdeckte er in einem großen Kübel etwa ein Dutzend Stäbe, gegen die Wand gelehnt, an die drei Meter hoch. Das graue Hüllmaterial und die aufwändigen Endkappen legten die Vermutung nahe, dass es sich um Brennstäbe eines Kernreaktors handelte. Ihm wurde unheimlich zu Mute. Gleichzeitig wollte er aber noch etwas näher heran, um zu sehen, ob es sich bei den Brennelementen, um die eines Siedewasser- oder Druckreaktors handelte. Doch dabei geriet eine der Leitern ins Rutschen. Was bist du doch für ein Schussel, schimpfte er mit sich selber. Es gelang ihm die Leiter zu stabilisieren. Schuldbewusst sprang er nach unten und zog die Türe zu. Zu seiner Entlastung sagte er sich, was ist meine Schusseligkeit im Vergleich zu diesen Technikern, die diese hochgefährlichen Stäbe in einem offenen Schrank zur Schau zu stellen. Als er sich entfernen wollte, kam eine dralle, aber hübsche Physikerin in lindgrüner Werkskleidung auf ihn zu und zischte ihn an.

„Was ist das für eine Art sich hier aufzuführen! Können Sie nicht lesen?“

Erst jetzt fiel ihm auf, dass auf jeder Tür ein Verbotsschild draufstand. Anscheinend hatte sie ihn von gegenüber beobachtet und hatte mitgekriegt, was ihm zugestoßen war.

„Ich bin zufällig hier vorbeigefahren“, versuchte er sich rauszureden. „Ich konnte ja nicht wissen, dass Sie hier Brennstäbe aufbewahren.“

„Ah so und dass das ein nukleares Werk ist, haben Sie auch nicht gewusst?“, fragte sie vorwurfsvoll. „Das Schild über dem Eingang haben sie wohl auch nicht gelesen?“

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Tonke, „ich war mir der Gefahr nicht bewusst.“

Die Technikerin öffnete die Tür, stieg hoch und schaute nach den Stäben. Es schien alles in Ordnung zu sein.

Da machte sich Tonke davon. Er verzichtete auf eine weitere Erkundung des Werks und ging den gleichen Weg zurück, den er gekommen war. Als er zu den Wasserbecken kam, und in das kühle Nass blickte, wurde ihm nun klar, wozu dieses diente. Das waren die Abklingbecken, in denen die Stäbe gelegen hatten, solange die Nachzerfallswärme angehalten hatte. Die kleinen, schwarzen Schildkörten erschienen ihm wie Wächter über diesen wichtigen Prozess. Vom Becken aus kletterte er über die Kalkterrassen nach oben.



Zum Rand des Einschnitts zurückgekehrt, warf er nochmal einen Blick in die Schlucht hinab und auf den grünen Grund. Da wurde in ihm die Erinnerung wach. Die Schlucht von Tsivo [108] fiel ihm ein, auf die er damals mit seinem unglücklichen Mitbewohner gestoßen war. Ein Junge hatte sie begleitet. Die Schlucht war leer gewesen. Er hatte darin den schauerlichen Nachhall der Geschütze des letzten Krieges gehört. Überraschend war, dass jetzt Physiker darin wirkten. Ihre Arbeit beschwor neue Gefahren herauf. Aber durch das Abklingen der Brennstäbe schien ihm doch, dass sich eine Mäßigung in dieser Schlucht vollzogen hatte. MLF

Montag, 4. Februar 2013

144 Verkehrsmuseum – Gespann mit Segeln


Auf der Suche nach seinem Auto traf Tonke beim Verkehrsmuseum auf einen Mann, der im Auftrag des Vaters erforschte, was seine Kinder machen.

Tonke hatte sich vorgenommen, die beiden Parteien, mit denen er in seinem Wohnviertel befreundet war, ein Künstlerpaar, Mann und Frau und einen jungen, homben Mann mit nach Home zu nehmen. Er hatte seit langem versprochen, ihnen zu zeigen, wo er herstammte. Erst nach und nach war ihm die Bedeutung von Home als dem Ursprung seines Koordinatensystems bewusst geworden. All sein Handeln stand im Bezug darauf. Deshalb wollte er sie dorthin fahren. Aber die Suche seines Autos führte ihn auf eine unerwartete Odyssee.
Tonke befand sich am Bahnhof in der Reußstadt. Er war einige Zeit verreist gewesen. Auf dem Heimweg hatte er sich entschlossen, seinen Vorsatz, dem Paar und dem jungen Mann Home zu zeigen, jetzt in die Tat umzusetzen. Er hatte sie angerufen und ihnen gesagt.
„Ich muss nur ans Auto kommen, dann hol ich euch ab.“ Das hatte er versprochen.
Wie er jetzt am Bahnhof stand, an der Stelle, wo der See in die Reuß mündete, vermutete er, dass sich sein Auto beim Schwanenplatz befand. Er überquerte die Brücke, kam zum besagten Platz und überlegte: Wo könnte ich es abgestellt haben. Er suchte sein Auto immer so, dass er an einen Ort ging, den er sich gemerkt hatte und kurze Zeit drauf stand er bei seinem Wagen. Aber dieses Mal stellte sich keine Erinnerung ein. Das verunsicherte ihn so sehr, dass er ganz außer sich geriet. Als er eine Bekannte traf, klagte er ihr sein Missgeschick.
„Ich finde mein Auto nicht. Ich weiß nicht, wo ich es abgestellt habe.“
Sie beruhigte ihn. „Das ist doch nicht so schlimm, lass uns Kaffee trinken und plaudern, dann wird dir schon wieder einfallen, wo dein Auto steht.“
Tonke war aber zu unruhig, um sich auf dieses Angebot einzulassen. Jahrelang hatte er sich von Frauen ablenken lassen, solange bis er Gewissheit erlangt hatte, dass eine hombe Beziehung für ihn das Richtige war. Diesen Fehler wollte er nicht wiederholen. Also entschuldigte er sich und ging weiter.
Ein zweites Mal und noch ein drittes Mal traf er auf eine Frau, die eine blond, die andere brünett und jede hätte gerne mit ihm Kaffee getrunken und geplaudert. Er erklärte aber, dass er seinen Wagen suche und ließ sie enttäuscht zurück.
Er lief einfach weiter, irgendwann musste er ja auf sein Auto stoßen. Stadtauswärts ging er durch die Halde dem See entlang. Dort am Boule-Platz traf er auf seinen Kumpel, Andrin. Auch der hatte Programm für ihn. Die Clique lud Tonke zum Mitspielen ein. Anschließend sollte er mit ihnen in die Gaststätte in der Grabenstraße gehen. Er schaute eine Weile zu, dann entschuldigte er sich. „Tut mir leid, ich muss weiter. Ich glaube, ich weiß jetzt, wo mein Wagen steckt.“
Ungern ließen sie ihn ziehen.

Er vermutete, dass er seinen Wagen beim Verkehrsmuseum abgestellt hatte.
Als er dort ankam, sah er, dass das Verkehrsmuseum im Umbau begriffen war. Das Gelände war offen zugänglich, aber es herrschte eine große Unordnung. Quadersteine und liegende Säulen lagen zerstreut wie in einem Ruinenfeld. Ein Mann saß auf einem der Brocken. Ihn wollte er nach seinem Wagen fragen. Der war aber vornübergebeugt so ins Grübeln vertieft, dass er von Tonke keine Notiz nahm. Der desolate Zustand des Museums schien ihn in einen lähmenden Trübsinn gestürzt zu haben. Eine schmale Pergola überspannte einen Teil des Geländes. Da der Boden von Gegenständen überstellt war, nutzte Tonke die Leitersprossen der Pergola und überquerte ihn, indem er sich von Sprosse zu Sprosse hangelte. Aber an einer Stelle war die Pergola unterbrochen. Noch hängend sah er sich um.
Da entdeckte er, dass an das Gelände ein langgestreckter Tunnelraum anschloss, der durch ein Gitter versperrt war. Dahinter waren Autos geparkt. Da vermutete er, dass er seinen Wagen dort drüben finden würde. Er schaute nochmal auf den lang gespannten Tunnel, der Form nach der Unterseite einer Brücke gleichend und sah, dass der Durchgang komplett mit Gittern verriegelt war. Er verinnerlichte sich dieses Bild und sprang hinunter.
Tonke überquerte auf einem gewundenen Weg den untertunnelten Hügel und näherte sich nun dem Platz dahinter. Ihm fiel sofort auf, dass sich hier eine bestimmte Art von Menschen aufhielt. An ihren besonderen Frisuren und Kleidern waren sie als Hombe zu erkennen. Manche stachen besonders heraus. Er vermutete, dass es sich um Transvestiten handelte. Tonke hatte einen Aktionstag getroffen, an dem man mit Kundgebungen und Vorführungen die Forderung unterstrich, dass Hombe in den gesellschaftlichen Kanon aufgenommen wurden. Laut und fröhlich ging es zu, wenn auch nicht so ausgefallen wie bei einem Christopher Street Day oder auf einer Love Parade.
Unter den geparkten Wagen fand Tonke sein Auto. Das stimmte ihn glücklich und er wollte auch etwas zu dieser Veranstaltung beitragen. Er öffnete den Kofferraum und holte die Geschenke hervor, die er für besondere Momente dabei hatte. Das eine waren Handschmeichler aus dunklem Holz. Sie hatten in der Mitte ein ‚Auge‘, eine Vertiefung, in die er etwas Karamell oder Schokopudding gestrichen hatte. Das Interesse hielt sich in Grenzen. Das mochte auch daran liegen, dass er sie nicht sorgfältig genug geschliffen hatte. Wodurch sie für Handschmeichler zu rau waren. Da ging er nochmal zum Auto und holte aus einer Schachtel schön verzierte Stockbetten, von der Größe von Puppenbetten. Die fanden im Gegensatz zu den Handschmeichlern großen Anklang. Im Nu war das Dutzend, das er dabei hatte, verteilt.
Eine Performance wurde angekündigt, mit der ein Künstler für die Aufnahme der Homben in den Kanon der Gesellschaft warb. Die Aktion fand am Ufer zwischen Verkehrsmuseum und dem Lido statt. Er führte ein Gespann von dreiecksförmigen Schlitten oder Wagen. Über jeden von ihnen war oben ein sichelmondförmiges Segel gewölbt.[1] Mit Schnüren lenkte er sie. Wer ihn fragte, was diese Aktion bedeute, erhielt zur Antwort.
„Ich bin der Mystiker des Vaters. Er erkundet, was die Kinder machen“. MLF


[1] Es sind darin die Möndchen des Hippokrates zu erkennen. Geschichte 132B vom 24.12.12

Donnerstag, 24. Januar 2013

143 Gesucht: Advokat der Klippenspringer



Wie Tonke unter dem Bild des Niklaus von Flüe auf Bilder von modernen Leidheiligen stieß.



Er betrat die Kapelle in einer Gruppe von älteren Männern. Die Kühle der Luft, ihr sonderbarer Geruch nach Stein, altem Holz und Weihrauch riefen in ihm augenblicklich Erlebnisse der Kindheit wach. Die Männer nahmen alle in einer Bank Platz. Mit dabei war sein Vater begleitet von einem seiner Freunde. Tonke sah sich weiter um. Hinter ihm die Empore, die Spitzen einer einfachen Orgel waren zu sehen und seitlich Niklaus von Flüe überlebensgroß in einem Fresko. Seitlich dem Chor je ein Altar links und rechts. Vorne der große Altar und das kleine Chorgestühl, in dem er als Ministrant auf den Einsatz gewartet hatte.
Tonke fragte sich, wo er sich hinsetzen solle. Irgendwie waren die Bänke nicht wie sonst. Das lag an einem langen Tisch, den man dazwischen gestellt hatte. Dazu war eine von den Bänken entfernt worden und die Kniebank davor und die Sitzbank dahinter waren auch nicht zu benutzen. Ihm fiel auf, dass der Tisch direkt unter dem Wandgemälde des Niklaus 
von Flüe platziert war. 

Tonke sah in der Reihe vor sich die Vorgängergeneration, die er schon als Jugendlicher und später in politischen Belangen oft als eine geschlossene Front von Gegnern wahrgenommen hatte. Eigentlich wollte er sich nicht zu ihnen setzen. Aber dann sah er, dass neben seinem Vater, an der Wand, noch ein Platz frei war. Wir sehen uns ja so selten, dachte Tonke und begab sich an die freie Stelle. Aber dort, direkt an der Wand, wartete ein anderes Hindernis. Ein Fahrrad ohne Räder hatte jemand da eingeklemmt. Wohl um es vor Diebstahl zu schützen. Alle Knienden standen auf und halfen die Bank zu bewegen. Das Fahrrad wurde befreit. Aber es fand sich niemand, dem es gehörte. Typisch, dachte Tonke, das Fahrrad als individuelles Bewegungsmittel hat bei meiner Vatergeneration wenig Ansehen genossen. Als sich niemand fand, der es wollte, wurde es wieder an die Wand gestellt und die Bank dagegen geschoben. Genau dahin, wo es gesteckt hatte. Tonke musste nach einem andern Platz suchen und es war ihm nicht unrecht, denn er fühlte sich nicht wohl in ihrer Reihe.


Auf dem langen Tisch, der die gewohnte Ordnung durcheinander gebracht hatte, stieß Tonke auf einen drehbaren Kartenständer mit Heiligenbildern. Noch war Zeit, bis die Andacht beginnen würde. Er sah sich die Bildchen an und drehte am Rad. Gegen einen Beitrag in die hölzerne Kasse am Türausgang konnte man sie erwerben. In der Umgangssprache wurden diese Bilder ‚Leidheilige‘ genannt. Nach der christlichen Überlieferung spendeten sie dem Betrachter, der sich an ihr Martyrium erinnerte, Heilung und Trost. Tonkes Blick wurde von speziellen Bildern angezogen, Fotos von Klippenspringern, Farbige, die von Felsen sprangen. Nanu, was machten diese Bilder hier? Er wusste, warum Afrikaner hinuntersprangen. Sie hegten die trügerische Hoffnung, dass eine günstige Welle sie forttrüge. Aber viele von ihnen zerschellten oder ertranken in den Wellen. Neben diesen Bildern stand in fetten Lettern die Warnung gedruckt:

„Dies sind keine Heilige!“

Tonke wunderte sich. Aber dann wurde ihm klar, dass es sich um Afrikaner handelte, die versuchten, auf dem abendländischen Kontinent Fuß zu fassen. Wer hinter der Kampagne stand, konnte er sich denken. Das waren gewiss die Abendländische Union und die mediterranen Staaten, die von der Fluchtwelle besonders betroffen waren. Sie hatten diese Aktion wohl den Kirchen aufgezwungen, um deren Solidarisierung mit den Leidenden und Ausgegrenzten zuvorzukommen.

Als Tonke sich nach vorne zum Chor wandte, bemerkte er, dass er von diesem Standpunkt aus den Altar nicht sehen konnte. Eine Trennwand stand dazwischen und versperrte die Sicht. Auf dieser Absperrung stand in großen Lettern:

„Advokat gesucht“

Er drehte sich wieder zum Fresko des Niklaus von Flüe oder Bruder Klaus, wie die Einheimischen ihn nennen. An der Wand unterhalb des überlebensgroßen Bildes hatten diejenigen, die die Bank durch den Tisch ersetzt hatten, einen blauen Bademantel hängen lassen. Daraus schloss er, dass sie die Umstellung der Kirchenmöbel mit einem Reinigungsritual verbunden hatten.

Als Tonke später die Kapelle verließ, erwartete ihn die Mentorin im Zwischenraum. Sie trug ihm auf, die Bilder der Klippenspringer in seinen Blog aufzunehmen.

Er wehrte sich und sagte. „Die Bilder von den Afrikanern, die an den Ufern des Abendlandes zerschellen, findet man doch wöchentlich in den Zeitungen. Da berichte ich lieber von diesem Erlebnis hier.“

Sie war einverstanden. MLF

Samstag, 5. Januar 2013

139 Fester und leerer Raum


Sein Zimmer war geteilt in einen festen und in einen leeren Bereich.
Tonke bewegte sich durch den Hohlgang, den er selber geschaffen hatte. Von diesem zweigten kleinere Gänge ab, die in einem runden Hohlraum endeten. Wenn er Glück hatte, traf er darin eine ausgewachsene Frau. Er war jetzt auf dem Rückweg durch den von ihm angelegten geräumigen Gang. Bevor es zum Boden der leeren Zimmerhälfte hinunterging, führte ein Weg nach links ab. Er arbeitete sich durch den engen, geschlängelten Gang hindurch bis zum Schluss. Da stand wirklich im aufrechten Ellipsoid des Endpunkts eine beeindruckende Frau. Sie setzte sich nieder, er kauerte im Hohlgang und lauschte, was sie ihm zu berichten hatte. [Geschichte 140 Überblick] Er bedankte sich und kroch zurück zum Hauptgang und durch diesen stieg er die Stufen hinab, die er, um nicht auszurutschen, selber geformt hatte und trat aus dem Loch.
Als er sich nun in der anderen Hälfte des Zimmers wiederfand, kam ihm dieses völlig leer vor. Dabei war das Wohnzimmer, das zugleich auch Schlaf- und Esszimmer war, reich mit Möbeln ausgerüstet. Teppiche bedeckten den Boden, Bilder schmückten die Wände und nicht wenige Bücher standen in zwei geräumigen Regalen. Aber wenn er aus der festen Hälfte herauskam, deren einziger freier Raum die geschaffenen Hohlgänge waren, so überfiel ihn jedesmal das Gefühl einer großen Leere.
Von Freunden und Bekannten kam natürlich immer wieder die Frage. „Was soll das? Warum verschenkst du dein halbes Zimmer? Sie traten an den festen Bereich heran und warfen einen Blick in das dunkle Loch und fragten schaudernd. „Wird dir nicht Angst da drin?“
Er versuchte dann zu erklären. „Jeder Mensch hat so einen Raum neben sich. Das ist das Unsichtbare, das uns begleitet. Nur ist er bei mir sichtbar geworden.“
Doch damit erntete er nur Kopfschütteln. „Nein, gewiss nicht, sowas gibt es nicht bei mir! Niemals würde ich mich durch so ein Ding zwängen. Da würde ich Zustände kriegen!“ Die Reaktionen waren zum Teil so heftig, dass es ihn selber mitriss und seine Ängste von früher wieder wach wurden.
„Hast du denn nicht Angst, dass du da mal nicht mehr hinausfindest?“
Tonke schüttelte den Kopf. Für ihn war dieser feste Raum inzwischen so selbstverständlich geworden, dass er die Argumente dagegen nicht verstand. Sie kamen ihm vor, wie Menschen, die keinen Raum zum Denken haben. Im leeren Raum konnte er nicht wirklich denken. Was er hier dachte, war nur ein Spiel mit Konventionen, Klischees und Trends, die vorgegeben wurden und die er nach belieben sich zu Eigen machte. Aber eigene, schöpferische Gedanken konnten in einem leeren Raum nicht gedeihen. Sie vertrugen die Luftbewegungen nicht, und das Licht wahrscheinlich auch nicht. Er hätte nicht gewusst, wo er seine Gedanken hätte ausbrüten können, wenn er diese dichte Hälfte seines Zimmers nicht gehabt hätte. Für ihn war dieser feste Raum vor allem der Ort, wo er nachdachte.
Er ging so vor, dass er erst einen Hauptgang schuf. Darin legte er die Gedanken, die ihn gerade beschäftigten ab. Er wusste, dass er dabei nicht anders verfuhr als ein Borkenkäfer. Das Weibchen, das einen Gang durch die Borke fraß, wendete und in gleichmäßigen Abständen seine Eier legte. Aus diesen schlüpften dann die Larven. Die fraßen sich im rechten Winkel vom Hauptgang weg, bis sie groß genug waren, sich zu verpuppen. Am Ende schufen sie einen größeren Hohlraum, die sogenannte Puppenwiege. Darin harrten sie der Verwandlung zum Jungkäfer.
Das Gleiche geschah mit Tonkes Gedanken. Sie entwickelten ebenfalls ein Eigenleben und fraßen sich durch die feste, nahrhafte Materie vom Hauptgang weg. Wenn sie ihre Reife erlangten, höhlten sie noch eine wohnliche Rundung aus und warteten darin auf ihre Vollendung. Wenn Tonke es gut traf, konnte er, dem neuen Gang folgend, in der Endkammer den ausgereiften, neuen Gedanken antreffen. Und zwar in Gestalt einer schönen Frau. Sie sprach zu ihm und so erfuhr er einen völlig neuen Aspekt seines Gedankens, auf den er selber nie gekommen wäre.

Er hatte mehrmals versucht, vor einem Publikum über diesen Vorgang zu sprechen, aber er war dabei auf kein Verständnis gestoßen. Wenn er zu dem Punkt kam, dass er am Ende des neuen Gangs im aufrechten Ellipsoid eine Frau antraf, kam es jedesmal zum Eklat.
„Irregeleitetes Wunschdenken!“, war noch milde ausgedrückt. „Pervers, dich sollte man selber einsperren!“, war schon deutlicher. Zuhörer verließen aus Protest den Saal. Den andern versuchte er nahezulegen: „In diesem geschlossenen Raum erscheint ein Gedanke als Frau.“
Aber auch die Reaktionen der Zurückgebliebenen ließen nicht darauf schließen, dass sie ihn verstanden hatten. Er sah es an den Blicken, die alle im Spektrum von Misstrauen bis Mitleid lagen.
Neulich steckte ihm beim Abschied ein Mann die Karte einer Psychotherapeutin zu. „Die ist gut, die hat mir auch geholfen“, sagte er mit besorgter Stimme. Nicht genug, am nächsten Tag rief ihn ein Bekannter an, der an der Lesung teilgenommen hatte. „Unter uns wird gerade eine Wohnung frei“, sagte er. „Die ist toll und supergünstig.“ Und wieder, im gleichen, fürsorglichen Ton: „Ein Wohnungswechsel würde dir gut tun.“
Tja, die Mitmenschen begriffen nicht, dass er diesen festen Raum für eine große Errungenschaft hielt. Zwar schränkte er ihn etwas ein. Aber Tonke war sehr glücklich, dass er nun nicht mehr nur die Leere kannte. MLF