Samstag, 5. Januar 2013

139 Fester und leerer Raum


Sein Zimmer war geteilt in einen festen und in einen leeren Bereich.
Tonke bewegte sich durch den Hohlgang, den er selber geschaffen hatte. Von diesem zweigten kleinere Gänge ab, die in einem runden Hohlraum endeten. Wenn er Glück hatte, traf er darin eine ausgewachsene Frau. Er war jetzt auf dem Rückweg durch den von ihm angelegten geräumigen Gang. Bevor es zum Boden der leeren Zimmerhälfte hinunterging, führte ein Weg nach links ab. Er arbeitete sich durch den engen, geschlängelten Gang hindurch bis zum Schluss. Da stand wirklich im aufrechten Ellipsoid des Endpunkts eine beeindruckende Frau. Sie setzte sich nieder, er kauerte im Hohlgang und lauschte, was sie ihm zu berichten hatte. [Geschichte 140 Überblick] Er bedankte sich und kroch zurück zum Hauptgang und durch diesen stieg er die Stufen hinab, die er, um nicht auszurutschen, selber geformt hatte und trat aus dem Loch.
Als er sich nun in der anderen Hälfte des Zimmers wiederfand, kam ihm dieses völlig leer vor. Dabei war das Wohnzimmer, das zugleich auch Schlaf- und Esszimmer war, reich mit Möbeln ausgerüstet. Teppiche bedeckten den Boden, Bilder schmückten die Wände und nicht wenige Bücher standen in zwei geräumigen Regalen. Aber wenn er aus der festen Hälfte herauskam, deren einziger freier Raum die geschaffenen Hohlgänge waren, so überfiel ihn jedesmal das Gefühl einer großen Leere.
Von Freunden und Bekannten kam natürlich immer wieder die Frage. „Was soll das? Warum verschenkst du dein halbes Zimmer? Sie traten an den festen Bereich heran und warfen einen Blick in das dunkle Loch und fragten schaudernd. „Wird dir nicht Angst da drin?“
Er versuchte dann zu erklären. „Jeder Mensch hat so einen Raum neben sich. Das ist das Unsichtbare, das uns begleitet. Nur ist er bei mir sichtbar geworden.“
Doch damit erntete er nur Kopfschütteln. „Nein, gewiss nicht, sowas gibt es nicht bei mir! Niemals würde ich mich durch so ein Ding zwängen. Da würde ich Zustände kriegen!“ Die Reaktionen waren zum Teil so heftig, dass es ihn selber mitriss und seine Ängste von früher wieder wach wurden.
„Hast du denn nicht Angst, dass du da mal nicht mehr hinausfindest?“
Tonke schüttelte den Kopf. Für ihn war dieser feste Raum inzwischen so selbstverständlich geworden, dass er die Argumente dagegen nicht verstand. Sie kamen ihm vor, wie Menschen, die keinen Raum zum Denken haben. Im leeren Raum konnte er nicht wirklich denken. Was er hier dachte, war nur ein Spiel mit Konventionen, Klischees und Trends, die vorgegeben wurden und die er nach belieben sich zu Eigen machte. Aber eigene, schöpferische Gedanken konnten in einem leeren Raum nicht gedeihen. Sie vertrugen die Luftbewegungen nicht, und das Licht wahrscheinlich auch nicht. Er hätte nicht gewusst, wo er seine Gedanken hätte ausbrüten können, wenn er diese dichte Hälfte seines Zimmers nicht gehabt hätte. Für ihn war dieser feste Raum vor allem der Ort, wo er nachdachte.
Er ging so vor, dass er erst einen Hauptgang schuf. Darin legte er die Gedanken, die ihn gerade beschäftigten ab. Er wusste, dass er dabei nicht anders verfuhr als ein Borkenkäfer. Das Weibchen, das einen Gang durch die Borke fraß, wendete und in gleichmäßigen Abständen seine Eier legte. Aus diesen schlüpften dann die Larven. Die fraßen sich im rechten Winkel vom Hauptgang weg, bis sie groß genug waren, sich zu verpuppen. Am Ende schufen sie einen größeren Hohlraum, die sogenannte Puppenwiege. Darin harrten sie der Verwandlung zum Jungkäfer.
Das Gleiche geschah mit Tonkes Gedanken. Sie entwickelten ebenfalls ein Eigenleben und fraßen sich durch die feste, nahrhafte Materie vom Hauptgang weg. Wenn sie ihre Reife erlangten, höhlten sie noch eine wohnliche Rundung aus und warteten darin auf ihre Vollendung. Wenn Tonke es gut traf, konnte er, dem neuen Gang folgend, in der Endkammer den ausgereiften, neuen Gedanken antreffen. Und zwar in Gestalt einer schönen Frau. Sie sprach zu ihm und so erfuhr er einen völlig neuen Aspekt seines Gedankens, auf den er selber nie gekommen wäre.

Er hatte mehrmals versucht, vor einem Publikum über diesen Vorgang zu sprechen, aber er war dabei auf kein Verständnis gestoßen. Wenn er zu dem Punkt kam, dass er am Ende des neuen Gangs im aufrechten Ellipsoid eine Frau antraf, kam es jedesmal zum Eklat.
„Irregeleitetes Wunschdenken!“, war noch milde ausgedrückt. „Pervers, dich sollte man selber einsperren!“, war schon deutlicher. Zuhörer verließen aus Protest den Saal. Den andern versuchte er nahezulegen: „In diesem geschlossenen Raum erscheint ein Gedanke als Frau.“
Aber auch die Reaktionen der Zurückgebliebenen ließen nicht darauf schließen, dass sie ihn verstanden hatten. Er sah es an den Blicken, die alle im Spektrum von Misstrauen bis Mitleid lagen.
Neulich steckte ihm beim Abschied ein Mann die Karte einer Psychotherapeutin zu. „Die ist gut, die hat mir auch geholfen“, sagte er mit besorgter Stimme. Nicht genug, am nächsten Tag rief ihn ein Bekannter an, der an der Lesung teilgenommen hatte. „Unter uns wird gerade eine Wohnung frei“, sagte er. „Die ist toll und supergünstig.“ Und wieder, im gleichen, fürsorglichen Ton: „Ein Wohnungswechsel würde dir gut tun.“
Tja, die Mitmenschen begriffen nicht, dass er diesen festen Raum für eine große Errungenschaft hielt. Zwar schränkte er ihn etwas ein. Aber Tonke war sehr glücklich, dass er nun nicht mehr nur die Leere kannte. MLF

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