Sein Zimmer war geteilt in einen festen und in einen leeren Bereich.
Tonke bewegte sich durch den Hohlgang, den er selber geschaffen
hatte. Von diesem zweigten kleinere Gänge ab, die in einem runden Hohlraum
endeten. Wenn er Glück hatte, traf er darin eine ausgewachsene Frau. Er war
jetzt auf dem Rückweg durch den von ihm angelegten geräumigen Gang. Bevor es
zum Boden der leeren Zimmerhälfte hinunterging, führte ein Weg nach links ab.
Er arbeitete sich durch den engen, geschlängelten Gang hindurch bis zum Schluss.
Da stand wirklich im aufrechten Ellipsoid des Endpunkts eine beeindruckende
Frau. Sie setzte sich nieder, er kauerte im Hohlgang und lauschte, was sie ihm
zu berichten hatte. [Geschichte 140 Überblick] Er bedankte sich und kroch zurück
zum Hauptgang und durch diesen stieg er die Stufen hinab, die er, um nicht
auszurutschen, selber geformt hatte und trat aus dem Loch.
Als er sich nun in der anderen Hälfte des Zimmers wiederfand, kam
ihm dieses völlig leer vor. Dabei war das Wohnzimmer, das zugleich auch Schlaf-
und Esszimmer war, reich mit Möbeln ausgerüstet. Teppiche bedeckten den Boden,
Bilder schmückten die Wände und nicht wenige Bücher standen in zwei geräumigen
Regalen. Aber wenn er aus der festen Hälfte herauskam, deren einziger freier
Raum die geschaffenen Hohlgänge waren, so überfiel ihn jedesmal das Gefühl
einer großen Leere.
Von Freunden und Bekannten kam natürlich immer wieder die Frage.
„Was soll das? Warum verschenkst du dein halbes Zimmer? Sie traten an den
festen Bereich heran und warfen einen Blick in das dunkle Loch und fragten
schaudernd. „Wird dir nicht Angst da drin?“
Er versuchte dann zu erklären. „Jeder Mensch hat so einen Raum
neben sich. Das ist das Unsichtbare, das uns begleitet. Nur ist er bei mir sichtbar
geworden.“
Doch damit erntete er nur Kopfschütteln. „Nein, gewiss nicht,
sowas gibt es nicht bei mir! Niemals würde ich mich durch so ein Ding zwängen.
Da würde ich Zustände kriegen!“ Die Reaktionen waren zum Teil so heftig, dass
es ihn selber mitriss und seine Ängste von früher wieder wach wurden.
„Hast du denn nicht Angst, dass du da mal nicht mehr
hinausfindest?“
Tonke schüttelte den Kopf. Für ihn war dieser feste Raum
inzwischen so selbstverständlich geworden, dass er die Argumente dagegen nicht
verstand. Sie kamen ihm vor, wie Menschen, die keinen Raum zum Denken haben. Im
leeren Raum konnte er nicht wirklich denken. Was er hier dachte, war nur ein
Spiel mit Konventionen, Klischees und Trends, die vorgegeben wurden und die er
nach belieben sich zu Eigen machte. Aber eigene, schöpferische Gedanken konnten
in einem leeren Raum nicht gedeihen. Sie vertrugen die Luftbewegungen nicht, und
das Licht wahrscheinlich auch nicht. Er hätte nicht gewusst, wo er seine
Gedanken hätte ausbrüten können, wenn er diese dichte Hälfte seines Zimmers
nicht gehabt hätte. Für ihn war dieser feste Raum vor allem der Ort, wo er
nachdachte.
Er ging so vor, dass er erst einen Hauptgang schuf. Darin legte
er die Gedanken, die ihn gerade beschäftigten ab. Er wusste, dass er dabei
nicht anders verfuhr als ein Borkenkäfer. Das Weibchen, das einen Gang durch
die Borke fraß, wendete und in gleichmäßigen Abständen seine Eier legte. Aus
diesen schlüpften dann die Larven. Die fraßen sich im rechten Winkel vom
Hauptgang weg, bis sie groß genug waren, sich zu verpuppen. Am Ende schufen sie
einen größeren Hohlraum, die sogenannte Puppenwiege. Darin harrten sie der Verwandlung
zum Jungkäfer.
Das Gleiche geschah mit Tonkes Gedanken. Sie entwickelten
ebenfalls ein Eigenleben und fraßen sich durch die feste, nahrhafte Materie vom
Hauptgang weg. Wenn sie ihre Reife erlangten, höhlten sie noch eine wohnliche
Rundung aus und warteten darin auf ihre Vollendung. Wenn Tonke es gut traf,
konnte er, dem neuen Gang folgend, in der Endkammer den ausgereiften, neuen
Gedanken antreffen. Und zwar in Gestalt einer schönen Frau. Sie sprach zu ihm
und so erfuhr er einen völlig neuen Aspekt seines Gedankens, auf den er selber
nie gekommen wäre.
Er hatte mehrmals versucht, vor einem Publikum über diesen
Vorgang zu sprechen, aber er war dabei auf kein Verständnis gestoßen. Wenn er
zu dem Punkt kam, dass er am Ende des neuen Gangs im aufrechten Ellipsoid eine
Frau antraf, kam es jedesmal zum Eklat.
„Irregeleitetes Wunschdenken!“, war noch milde ausgedrückt.
„Pervers, dich sollte man selber einsperren!“, war schon deutlicher. Zuhörer
verließen aus Protest den Saal. Den andern versuchte er nahezulegen: „In diesem
geschlossenen Raum erscheint ein Gedanke als Frau.“
Aber auch die Reaktionen der Zurückgebliebenen ließen nicht darauf
schließen, dass sie ihn verstanden hatten. Er sah es an den Blicken, die alle
im Spektrum von Misstrauen bis Mitleid lagen.
Neulich steckte ihm beim Abschied ein Mann die Karte einer
Psychotherapeutin zu. „Die ist gut, die hat mir auch geholfen“, sagte er mit besorgter
Stimme. Nicht genug, am nächsten Tag rief ihn ein Bekannter an, der an der
Lesung teilgenommen hatte. „Unter uns wird gerade eine Wohnung frei“, sagte er.
„Die ist toll und supergünstig.“ Und wieder, im gleichen, fürsorglichen Ton: „Ein
Wohnungswechsel würde dir gut tun.“
Tja, die Mitmenschen begriffen nicht, dass er diesen festen Raum
für eine große Errungenschaft hielt. Zwar schränkte er ihn etwas ein. Aber Tonke
war sehr glücklich, dass er nun nicht mehr nur die Leere kannte. MLF
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