Die Nacht in einem
Fraßgang
Die Nacht verbrachte er in einem Motel, dessen Schlafeinheiten
wie Fraßgänge eines Borkenkäfers vom Weg, der zugleich ein Flur war, abgingen.
Sie lagen deutlich tiefer, so dass er hinabsteigen musste. Die Brutstätte
bestand aus einem zweigeteilten Raum und einem Bad. Das Ganze sah so neu aus, dass
er meinte, er sei der erste, der diese Schlafstätte nutzte. Doch ein Junge war
schon da. Ob er ihn störte? Es machte den Eindruck, denn er verließ
augenblicklich den Raum. Tommy nahm eine der Decken und stellte sich oben auf
den Weg. In den hinteren Räumen sah er mehrere Frauen beieinander. Nicht wenige
von ihnen winkten mit großer Armbewegung. Es bestand also durchaus der Wunsch,
zu ihm unter die Decke zu schlüpfen.
Als er danach mit einer von ihnen den Raum bezog, kehrte auch der
Junge zurück. Er zeigte sich jetzt nicht mehr so abwehrend, sondern verhielt
sich wie ihr gemeinsames Kind. Nur als Tommy ihn im Bad nach seinem Namen fragte,
benahm er sich komisch. Er nannte einen zweiteiligen Namen mit Punkt
dazwischen. Etwas wie „hero.dot“.
Tommy lachte verlegen. „Ist das dein Spiele-Namen?“, fragte er. Der
Junge wird viel am Computer hängen, dachte er, er identifiziert sich mit einer
seiner selbst gewählten Rollen. Kein Wunder, wenn er an einem so ungewöhnlichen
Ort wohnt.
„Ich bin Tommy“, sagte Tommy, um ihn zu mehr Vertraulichkeit zu
animieren. Aber es kam nichts weiter von ihm. Tommy bemerkte, dass die Frau
sich amüsierte. Auf ihren runden Wangen bildeten sich Grübchen. Er kam sich
ziemlich unbeholfen vor.
Nach einer Nacht an einem solchen Ort, was würde sich da tags darauf
ereignen? Es folgte tatsächlich ein Tag, an dem er mehr erlebte, als sonst in
einem Monat.
Die Greife
Bess, die Schwärmerin, die ihm bei der Hochzeit so bittere
Vorwürfe gemacht hatte, würde diesen Monat Geburtstag feiern. Tommy dachte
daran, wie kalt es üblicherweise in ihrer Küche war. Und er fragte sich, was
man dagegen unternehmen könnte. Dieses Problem zu besprechen, fuhr er auf die
Hochfläche, wo er mit Bess gemeinsame Freunde hatte.
Er traf sie im Hof vor ihrem Haus.
„Hallo Maren, hallo Reichhold“, begrüßte er sie.
Nachdem sie ein paar Neuigkeiten ausgetauscht hatten, kam er auf
sein Anliegen zu sprechen.
„Habt ihr daran gedacht, dass Bess diesen Monat Geburtstag hat?“
Die beiden sahen ihn verwundert an. Reichhold antwortete. „Ach
so, ja, aber das ist doch noch eine Weile hin.“
„Trotzdem mache ich mir Gedanken“, sagte Tommy. „Erinnert ihr
euch, wie kalt es die letzten Jahre bei ihr war?“
„Hm, fandest du?“, fragte Reichhold. Er schien sich nicht zu
erinnern.
„Doch, schrecklich kalt“, beharrte Tommy. „Deshalb wollte ich
euch fragen, ob ihr nicht von eurem Brennholz etwas abgeben könntet und sie
bittet an dem betreffenden Morgen tüchtig einzuheizen oder schon ein paar Tage
davor?
Reichhold und Maren sahen sich verblüfft an. Erst zeigten sie
sich skeptisch, wie immer, wenn jemand an ihrem Reichtum nagen wollte. Aber
schließlich stimmten sie doch zu.
„Wenn du meinst“, sagte Maren und Reichhold fügte hinzu. „Wir
wollen sehen, was sich machen lässt.“
Ob er schon gefrühstückt habe, fragte Maren daraufhin.
Tommy schüttelte den Kopf.
Er solle sich zu ihnen setzen, forderte sie ihn auf. Sie seien
auch etwas spät dran.
In dem Moment stakste ganz nah bei ihnen ein prächtiger
Greif-Vogel hin und her. So groß wie ein kleiner Mensch, mit prächtigem
Federkleid. Unter dem Vordach stehend betrachteten sie das außerordentliche
Tier. Dass er sich so nah bei ihnen aufhielt, war ungewöhnlich. Vom Nacken
herab über den Rücken fielen senkrechte Federn. Sie waren zu einem Umhang
verbunden, der das halbe Federkleid bedeckte. Jede der Federn hatte drei bis
vier verschiedene Farbsegmente, die mit den Farben der nebenliegenden Federn
abwechselten, wodurch eine Farbenfülle entstand, wie sie Tommy noch selten
gesehen hatte.
„Schau, der fliegt nicht weg“, sagte Maren und rannte auf den
Vogel zu. Der hüpfte einige Schritte vor und flog tatsächlich nicht auf. Da
erst sah Tommy dahinter einen zweiten, noch größeren Greif-Vogel mit einem
Federkleid, das aussah, als hätte er sich wertvolle Decken aus Federn
übergeworfen. Der Saum von jeder von diesen war mit einer strahlend weißen
Bordüre verziert, wie kostbare Seidenspitzen.
Tommy erkannte sofort den Zusammenhang. Der bunte Vogel durfte
nicht fliegen, solange der mit den weißen Bordüren nicht aufflog.
„Lass ihn“, sagte er zu Maren. „Er kann nicht, solange der
vordere nicht fliegt. Es ist ihm nicht erlaubt.“
Leicht brüskiert drehte sich Maren um. „Kommt, wir gehen
frühstücken, sagte sie und ging nach drinnen voran. Reichhold folgte ihr.
Tommy wurde von einer Entdeckung zurückgehalten. Unter dem
Federkleid des Vogels dahinter sah er menschliche Beine. Die Federn verbargen
eindeutig eine menschliche Gestalt. So ungewöhnlich fand er das nicht. Er hatte
schon anderswo Menschen gesehen, die sich in einen Greif verwandelt hatten und
es war auch nicht das erste Mal, dass er unter einem großen Vogel einen
Menschen wahrnahm. Darum schien ihm auch vernünftig, als eine Stimme laut und
deutlich sagte:
„Der hintere muss den vorderen zum Fliegen animieren.“
Während dem Frühstück mit den beiden beschloss er Bess
aufzusuchen. Sie hatte ja immerhin einen Sohn von ihm. Nachdem er gut gegessen
und reichlich Kaffee getrunken hatte, verabschiedete er sich von dem
gastfreundlichen Paar. Er legte ihnen nochmal nahe, das mit dem Brennholz nicht
zu vergessen.
Tommy fuhr zum Laden, um ein kleines Geschenk für den Jungen zu
kaufen. Überraschenderweise traf er sie draußen auf dem Parkplatz an. Bess hatte
das Söhnchen dabei. Der hatte sich total verändert. Durch die Haare sah man
seine spezielle Kopfform nicht mehr und weil sie kraus waren und der Kopf rund
und das Gesicht gebräunt, wirkte er fast negroid. Tommy begrüßte ihn durch die
offene Wagentür. Aber der Junge wies seine Hand weg und taxierte ihn abwertend.
„Er mag keine Jacketts“, sagte Bess. „Du bist viel zu vornehm
gekleidet.“
„Geht ihr jetzt nach Hause?“, fragte er. „Darf ich auf einen Sprung vorbeikommen?“
Sie antwortete nicht gleich. Nach kurzem Überlegen sagte sie. „Um
fünf kommt Beat von der Bank. Komm lieber dann. Du hast doch versprochen für
uns zu arbeiten.“
Ihm war ihr Vorschlag gar nicht unpassend, denn er hatte noch
einen Termin am frühen Nachmittag.
Es sei ihm recht so, sagte er. Er hoffe, er werde pünktlich sein.
Er winkte dem Jungen. Aber dieser behielt seine Abwehrhaltung bei.
Wenn er für sie arbeiten würde, brauchte er ja kein Geschenk,
sagte er sich. Statt in den Laden zu gehen, fuhr er gleich nach Hause.
Ich vermute, sie ist Polin
Am Nachmittag fand in der Landeshauptstadt ein Kongress statt. In
dessen Rahmen war ein Treffen mit Leuten verabredet, die eine engere
Zusammenarbeit mit der Firma, in der er arbeitete, anstrebten. Tommy war
beauftragt, die Interessierten zu treffen. In einem der weitläufigen Flure des
Kongresszentrums traf er auf die Delegation. Sie bestand aus zwei Frauen. Mit
der einen hatte er schon telefoniert, er erkannte sie sogleich an der Stimme. Sie
hieß Yvette und war eine fesche Frau mit blonden Haaren. Sie stellte ihm ihre
Kollegin vor, Marya, eine Dunkelhaarige, zurückhaltender als Ivette, aber nicht
weniger ansprechend. Für Yvette war die Zusammenarbeit schon besprochene Sache.
Sie kamen überein, dass sie nacheinander in der Firma mitarbeiten würden. Die
erste würde gleich mit ihm in seine Stadt fahren. Tommy war etwas überrascht.
Wenn er das gewusst hätte, wäre er mit Verabredungen zurückhaltender gewesen.
Er hatte sich mit Enzo am Bahnhof verabredet und vor allem hätte er nicht noch einen
Besuch bei Bess vereinbart. Sie gingen an die Theke und bestellten Kaffee.
Tommy seilte sich kurz ab und rief seinen Chef an.
Ja, er habe die Delegation getroffen, es seien zwei Frauen „und
denken Sie, die eine kommt gleich mit mir mit.“
„Ist doch gut so“, fand der Chef, „so wollen wir’s doch.“
Tommy wandte ein, dass er am Abend verabredet sei.
Er solle sie in die Firma bringen. Er werde sich um sie kümmern,
sagte der Chef und fügte hinzu. „Aber schauen Sie, dass Sie sich in der
nächsten Tagen Zeit für sie freihalten.“
Tommy zögerte, bevor er versprach, sich um sie zu bemühen.
Die Frauen gingen noch zu ihrem Wagen. Tommy lief voraus zum
Bahnhof, wo er mit Enzo verabredet war. Sie warteten am Gleis auf die neue
Kollegin. Er schickte Enzo nach drinnen, um Plätze zu reservieren. Selber
wartete er auf Ivette. Aber wer kam, war die dunkle Marya. Sie folgte ihm in
den Wagen und setzte sich auf den Platz, den Enzo für ihn reserviert hatte.
Enzo, der am Fenster stand, starrte sie entgeistert an. Tommy
bemerkte seine Verlegenheit und neckte ihn.
„Ich finde, sie macht sich sehr gut neben dir.“
Auf dem Kongress war Englisch gesprochen worden. Es konnte aber
gut sein, dass Marya Deutsch verstand. Trotzdem konnte er sich eine Bemerkung
nicht verkneifen.
„Man könnte sie für eine Italienerin halten“, sagte er zu Enzo,
„aber ich vermute, sie ist Polin.“
Fürs Studium ‚Horgone‘
Mit einer halben Stunde Verspätung traf Tommy beim Haus von Bess zwischen Urach ein. Marya hatte er in
die Firma gebracht. Als er sie dem Chef vorgestellt hatte, war ihm an dessen Gesichtsausdruck
nochmal bewusst geworden, was für eine frappierend schöne Frau sie war. Etwas
abgehetzt betrat er das stattliche Haus, in dem Bess mit ihrem Mann und dem
Söhnchen wohnte. Beat, der ein gut verdienender Bankier war, hatte
vorgeschlagen, Tommy solle für sie etwas tun, damit sich seine wirtschaftliche
Situation verbesserte.
Bei der Garderobe hing ein Schlauch. Tommy fing gleich an, das
Glas der Tür, das leicht fleckig war, zu bespritzen und abzureiben. Beat schien
dies für die falsche Arbeit zu halten.
„So ist das aber nicht gedacht“, sagte er und nahm ihm den
Schlauch und den Lappen aus der Hand.
Er führte Tommy in das großzügige Wohnzimmer, in dessen Mitte ein
Ungetüm von einem Drehspielzeug aufgestellt war, von der Art wie man sie auf
Spielplätzen findet. Das Söhnchen saß gelangweilt daneben. Die Mutter stand
auf, begrüßte Tommy und setzte sich wieder an die Wand, von wo aus sie das Kind
im Auge behielt.
Dieses Mal freute sich der Junge und lachte ihn an. Sein Gesicht
hatte sich deutlich geändert. Er wirkte jetzt viel geformter.
„Du musst dich mit dem Jungen beschäftigen, ihm etwas erzählen“,
sagte Beat und Bess nickte.
„Zum Studium braucht man
Horgone“, sagte er.
„Was sind Horgone“,
fragte Tommy verwundert. Er ahnte zwar, dass sie von ihm eine Art Früherziehung
erwarteten, aber unter Horgonen konnte er sich nichts vorstellen.
„Aber du weißt, was Hormone sind?“, fragte Bess.
„Ich denke schon“, gab er zur Antwort. „Diese Wirkstoffe, die
Drüsen ans Blut abgeben, zu vielseitiger Stimulation.“
„Siehst du“, antwortete sie. „Das Gleiche braucht auch der Geist.
Er braucht auch Wirkstoffe, das sind die Horgone.“
Tommy setzte sich in einigem Abstand von diesem schrecklichen
Drehteil hin und bat den Jungen, sich zu ihm zu setzen.
„Ich will dir etwas erzählen“, sagte er. „Sollen wir von den
kleinen Dingen zu den Großen kommen oder lieber von den Großen zu den Kleinen?“
„Von den Großen zu den Kleinen“, antwortete der Junge prompt.
„Also, dann will ich dir etwas von der Welt, die man nicht sieht,
erzählen, denn von der, die wir sehen, wirst du in der Schule noch genug
erfahren.“ … MLF
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