Montag, 29. April 2013

154 II Angeblich die Bergwacht



Die Stimmen, die Tonke hörte, rührten von einer Wandergruppe her, die den Weg, den er gerade gegangen war, hoch kam. Er sah Erwachsene, Männer und Frauen, von Kindern begleitet. Ihren bunten Kleidern nach stammten sie nicht aus dem Dorf, sondern kamen von weiter her. Ihm fiel der Wagen ein. Vielleicht waren sie mit dem Auto gekommen, das er gehört hatte. Unten haltend, hatten sie, statt in der Wiese zu picknicken, sich auf eine Wanderung begeben.
Zwischen den Wandernden ging ein Tier. Tonkes Aufmerksamkeit wurde von den Wanderern auf dieses Tier gelenkt. Es wirkte groß und schwerfällig wie ein Rind, hielt aber seine Nüstern in steter Neugier am Boden. Diese eigentümliche Kopfhaltung verleitete ihn zu der Vermutung, dass es sich um einen Tapir handeln könnte. Wenn Menschen Giftschlangen und Krokodile hielten, warum dann nicht auch einen Tapir. Ein Tapir war wahrscheinlich nicht schwieriger zu halten als ein Rind. Trotz seiner Größe schien dieses Tier sehr beweglich zu sein. Er war unsicher, vielleicht war es doch ein riesiger Hund.
Tonke wartete und ging noch nicht durch das Loch.
Ein bisschen war ihm Angst vor dem großen unbekannten Tier, aber er war auch neugierig. Die Personen musterte er erst, als sie schon ziemlich nah waren. Männer, Frauen und Kinder. Da erkannte er, das Gesicht unter einer Deckelkappe, in halblangen Hosen, seinen Kontrahenten Alex. Tonke wurde unheimlich zu Mute. Das war ja der Freund, dem er vorwarf, diese Welt kreiert zu haben. Hatte Alex ihn hierher gelockt, um ihm die Hässlichkeit der Bergwelt zu beweisen? Ja, so musste es sein.
Statt zu lachen und versöhnlich auf den Gegenspieler, der ja immerhin sein Freund war, zuzugehen, Blieb Tonke im Schutz eines großen Felsbrockens. Er kam sich wirklich vor wie ein Hinterwäldler. Er hätte doch offen auf ihn zugehen und ihm gratulieren können. Es war Alex gelungen, ihn in seine Vorstellungswelt zu locken.
Aber alles, was er hervorbrachte, war die Frage. „Ist das Tier, das euch begleitet ein Tapir?“
„Aber nein“, sagte sein Kontrahent und grinste, „siehst du denn nicht, dass das ein Rind ist.“
In Wirklichkeit war es ein etwas überdimensionierter Hund. Tonke blieb weiter hinter dem Felsen. Er beobachtete das Tier, wie es überall umherging und schnüffelte. Es hielt mit treuen Augen die Verbindung zu den Mitgliedern der Gruppe, suchte aber auch Kontakt zu ihm. Das nahm ihm die letzte Scheu und er trat hinter dem Stein hervor.
Jetzt fing Alex laut an zu lachen. „Da ist ja ein Nackter“, rief er. „Habt ihr den schon gesehen“, rief er zu den andern. „Kinder schaut weg, der ist nackt.“
Tonke sah sich bloßgestellt. Er hatte versäumt sich anzuziehen. Er stand da, wie er aus dem Bett gestiegen war.
Die anderen Erwachsenen und die Kinder lachten eher verlegen. Ihnen schien die Situation nicht ganz geheuer zu sein. Alex dagegen fand Tonkes Blöße sehr erheiternd. Er freute sich außerordentlich, dass ihm sein Coup gelungen war. Er klopfte sich immer wieder auf seine halblange Hose und rief, „ein Nackter, ein Nackter.“
Ganz nackt war Tonke nicht. Immerhin trug er eine Boxer-Short. Von wegen die Kinder sollten wegschauen.
Das Gelächter von Alex nahm Tonke vollends gegen ihn ein.
Etwas abseits stellte er sich auf. Während die Gruppe im Gelände sich niederließ und die Kinder zwischen den Felsen spielten, baute sich zwischen den beiden Männern eine Kampfsituation auf. Wie zwei Böcke am Rande der Herde, so traten sie in einigem Abstand von der Gruppe gegeneinander an. Der Jüngere setzte voll auf Konfrontation, er kam hoch erhoben auf Tonke zu. Dieser erschrak und fühlte seine Kräfte schwinden. Ich bin zu alt, einer solchen Auseinandersetzung bin ich nicht mehr gewachsen, sagte er sich. Ein laues Gefühl im Magen schwächte ihn zusätzlich. Aber das lag daran, dass er versäumt hatte zu frühstücken. Er raffte sich auf und stand hin wie ein mit Hörnern bewehrter Widder. Die Shorts war genau die richtige Kleidung für den bevorstehenden Kampf.
Der Jüngere reagierte verblüfft und wurde zornig. Er versuchte ihn wegzustoßen. Aber Tonke, der sich in seiner Boxer-Shorts gut in Form fühlte, stieß ihn seinerseits und rief:
Bergwacht, das ist gut. Niemals würde die Bergwacht ein solches Bild der Bergwelt zeichnen. Das stammt von dir. Es ist das düstere Bild, das du dir von den Bergen machst. Warum bleibst du nicht in deiner Stadt. Niemand zwingt dich die Berge aufzusuchen.“
„Doch du“, konterte Alex, „indem du ständig von ihnen schwärmst und weiß was für Wunder von Oben und Unten erzählst.“
Tonke sah, dass sie wieder am immer gleichen Punkt ihrer Auseinandersetzung angelangt waren. Sie waren keinen Schritt weiter gekommen. Im Gegenteil, mit diesem gelungenen Streich hatte der Kontrahent einen Vorteil über ihn gewonnen. Wer würde denn von einem Nackten etwas annehmen. Er hatte die Hoffnung verloren, seinen Gegner überzeugen zu können. Deshalb machte er sich für den Rückzug bereit. Der Klügere weicht aus.
Als Alex, von seiner Frau gerufen, sich umdrehte, schlüpfte Tonke schnell ins Loch und ließ den Verstockten in seiner öden, selbsterzeugten Bergwelt zurück.

In sein Zimmer zurückgekehrt lag das große Bild noch immer auf dem ungemachten Bett. Tonke schlug schnell die Seiten um und stopfte den Kalender in den Umschlag. Wie sein Kontrahent sich die Berge vorstellte, sollte ihm fortan egal sein. Er musste sich nur davor hüten, ihm jemals wieder von seinen Erfahrungen mit Oben und Unten zu berichten.
Den Pappkarton warf er neben den Papierkorb, der nicht groß genug war ihn zu fassen.
Er rieb sich den Schweiß von der Stirn, das war ein heikles Unterfangen gewesen. Ein solches Abenteuer schon am Morgen. Ein starkes Hungergefühl überkam ihn. Er zog sich ein T-Shirt über, schlüpfte in die Pantoffeln und ging nach unten. Endlich frühstücken. MLF

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen